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BARRY GREEN
W. TIMOTHY GALLWEY

INNER GAME MUSIK
Der Mozart in uns

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© für die deutsche Ausgabe 2008:
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1. Auflage April 2008

 

Autoren: Barry Green und W. Timothy Gallwey
Projektleitung: Frank Pyko
Übersetzung: Prof. Gerhard Hamann
Umschlaggestaltung: Böning Design
Layout und Satz: Weiß – Graphik & Buchgestaltung
Korrektur: TextBüro Meßmer
Druck und Bindung: fgb – freiburger graphische betriebe GmbH

 

Printed in Germany

 

Veröffentlicht in den USA von DOUBLEDAY a division of Bantam Doubleday Publishing Group, Inc., New York unter dem Originaltitel „The Inner Game of Music“

 

Copyright: 1986 by W. Timothy Gallwey

 

ISBN 978-3-9809167-3-8

VORBEMERKUNG DES ÜBERSETZERS

EINLEITUNG VON W. TIMOTHY GALLWEY

 

1 DER MOZART IN UNS

2 INNER GAME – DAS INNERE SPIEL

3 DIE INNER GAME-FERTIGKEITEN

4 DIE KRAFT DER AUFMERKSAMKEIT

5 DIE WILLENSKRAFT

6 DIE KRAFT DES VERTRAUENS

7 LOSLASSEN

8 HINDERNISSE ÜBERWINDEN

9 DAS MUSIKALISCHE ERLEBNIS

10 LEHREN UND LERNEN

11 INNER GAME FÜR ZUHÖRER

12 ELTERN UND LEHRER

13 INTEGRATION UND GLEICHGEWICHT

14 ENSEMBLESPIEL

15 IMPROVISATION, KOMPOSITION UND KREATIVITÄT

 

ANHANG

ÜBUNGSVERZEICHNIS

NACHWORT DES VERLEGERS

ÜBER DIE AUTOREN

VORBEMERKUNG DES ÜBERSETZERS

Drei Bücher haben mein Leben als Musiker und Pädagoge geprägt.

Während meines Studiums in Paris las ich „Zen in der Kunst des Bogenschießens“. Das Buch „verwirrte“ mich in mancher Hinsicht positiv. Ich begann, die Art meines Übens und Musizierens in Frage zu stellen. Konnte es z. B. richtig sein, täglich 6 bis 8 Stunden zu üben, um dann bei einem Konzert zwar sicher, jedoch verspannt und unfrei zu spielen?

Ich erhielt damals vorzüglichen Cellounterricht bei einem Meister „alter Schule“ nach altbewährtem Muster. Vertrauensvoll ließ ich mich führen und wusste immer genau, was ich zu tun hatte. „Solange du bei mir studierst, machst du bitte genau das, was ich dir sage“, bekam ich oft zu hören.

Nach dem Studium suchte ich meinen eigenen Weg, verfeinerte Gelerntes und warf vieles „über Bord“. Das Loslassen sicherer Gewohnheiten und das Alleingehen fielen mir zunächst schwer. Ich begann, meine Notentexte ohne Instrument zu lesen und mit meinem „inneren Ohr“ zu hören. Es war nicht leicht, eingefahrene Hörgewohnheiten abzustreifen. Mit der Zeit erkannte ich durch diese Methode, dass ich zum Teil neue Fingersätze und Bogenstriche suchen müsste, um meine Vorstellungen optimal umsetzen zu können. Ich richtete meine Stimmen neu ein – auch ohne Instrument.

Als ich Mitte der 60er Jahre selbst zu unterrichten und meine Eigenerfahrungen an meine Schüler weiterzugeben begann, erhielt ich erste Bestätigungen, dass ich mich auf dem richtigen Weg befand.

Fünfzehn Jahre später fiel mir Tim Gallweys Buch „The Inner Game of Tennis“ zu. Ich war davon begeistert; es setzte sich genau mit den Gedanken auseinander, die mich jahrelang beschäftigt hatten. Jetzt war ich sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Meine Unterrichtstätigkeit bekam einen wichtigen Schub, und ich versuchte, Gallweys Methoden auf den musikalischen Bereich zu übertragen. Dann hörte ich 1987 einen Vortrag über Barry Greens Buch „The Inner Game of Music“.

Ich schrieb sofort an Barry und fragte ihn, ob er mich sein Buch ins Deutsche übertragen lassen würde – obwohl ich so etwas noch nie gemacht hätte. Barry ermutigte mich bei meinem Vorhaben. Ich verschlang „The Inner Game of Music“ wie einen Krimi und begann zu übersetzen. Jeder kleine Abschnitt kostete mich tagelanges Überlegen und Nachschlagen. Schließlich bat ich meine Schulfreundin Marion Mahn, die seit über 30 Jahren in New Jersey, USA, lebt, eine Rohübersetzung zu machen. Für ihre Mithilfe danke ich ihr herzlich!

In der folgenden Zeit überarbeitete ich das Buch mehrmals; bei jedem Durchlesen habe ich viele neue Erkenntnisse gewonnen und noch mehr dazugelernt. Mir ist klar geworden, wie sehr wir uns oft selbst im Weg stehen und dadurch nur ein kleiner Teil unseres Leistungspotentials zum Tragen kommen kann. Barry Greens Erfahrungen, wie mentale Hindernisse überwunden werden können, sind für meine Arbeit mit Schülern und mein eigenes Üben sehr wertvoll geworden.

Meiner Frau, die für meine jahrelange, zeitaufwendige Arbeit an diesem Projekt sehr viel Verständnis hatte, danke ich ganz besonders.

Ihr möchte ich diese Arbeit widmen.

 

Prof. Gerhard Hamann
Staatliche Hochschule für Musik, Trossingen

EINLEITUNG VON W. TIMOTHY GALLWEY

Dieses ist das erste Buch über das Lernen mit Inner Game und über die Anwendung dieser Technik in einem Bereich, der außerhalb des Sportsektors liegt. Aus vielen Gründen bin ich glücklich darüber, denn der Lernvorgang beim Sport und bei der Musik weist große Ähnlichkeiten auf.

Wir „spielen“ Sport und „spielen“ Musik, doch beides erfordert harte Arbeit. Sport und Musik sind Formen der Selbstverwirklichung, die einen hohen Grad von Körperbeherrschung und ein gutes Gleichgewicht zwischen Spontanität, Formgefühl, Technik und Phantasie verlangen. Die sofort sichtbaren oder hörbaren Resultate gewähren dem Spieler eine unmittelbare Rückkopplung. Sport und Musik werden in Gegenwart von Zuschauern bzw. Zuhörern ausgeübt. Sie können an der Freude, die die Spieler bei hervorragenden Leistungen empfinden, direkt teilhaben. Aber auch negative Erfahrungen wie Druck, Angst und Selbststörungen der Spieler bleiben ihnen nicht verborgen.

Es ist die wichtigste Entdeckung mit Inner Game, dass besonders in unserer leistungsorientierten Kultur der Mensch sich häufig selbst im Weg steht. Das Ziel von Inner Game im Sport wie auch in der Musik ist deshalb immer gleich: Ausschaltung mentaler Störfaktoren, die die menschliche Leistungsfähigkeit hemmen. Dieses Buch zeigt einen Weg, diese mentalen Hindernisse zu erkennen und zu überwinden; dadurch wird eine neue Qualität im Lernen und im Erfahren von Musik erreicht.

Selbststörungen beim Sport liegen oft am Sportunterricht. Meine Bücher, die vom Inner Game im Sport handeln, geben einen Einblick in einen radikal andersartigen Lernprozess. Es werden Techniken zur Leistungssteigerung vermittelt und Enttäuschung und Selbstkritik, die uns jede Freude am Lernen und Spielen nehmen, kommen nicht zum Tragen. Im vorliegenden Buch hat Barry Green diese Techniken nun so übertragen, dass ich mir für den musikalischen Bereich neue Lernmöglichkeiten und neue Anstöße verspreche.

Seit dem Erfolg des Buchs „The Inner Game of Tennis“ wurde ich von verschiedenen Seiten immer wieder gebeten, auch für andere Bereiche Bücher über Inner Game zu schreiben. Barry war über die Resultate, die er mit „Inner Skiing“ erzielt hatte, so erfreut, dass er diese Lernmethode auf die Musik übertragen wollte. „Weißt du, Tim“, erklärte er mir ganz aufgeregt, „ich könnte ein Buch über Inner Game in der Musik schreiben und müsste dazu nur einige Schlüsselworte aus deinen Büchern austauschen. Der Zauber würde bleiben und im musikalischen Bereich die gleiche Wirkung haben.“

Ich hatte selbst oft daran gedacht, Inner Game auf andere Bereiche einfach zu übertragen. Aber ich war überzeugt, dass es wichtig ist, diese Methoden je nach Thema einzigartig und unter Berücksichtigung der besonderen Gegebenheiten zu beschreiben. Ich fragte Barry: „Wie wäre es, wenn du dir zwei bis drei Jahre Zeit nimmst, alle Möglichkeiten auszuprobieren, die Inner Game der Musik bietet? Erkunde sie, wenn du im Orchester spielst oder mit deinen Studenten arbeitest. Entwickle neue Techniken und verfeinere sie. Wenn du genug Erfahrungen gesammelt hast und es sich zeigt, dass diese Technik umsetzbar ist, können wir daran denken, unsere Erfahrungen anderen mitzuteilen.“

Es zeichnet Barry aus, dass er diese Herausforderung annahm und drei Jahre lang nicht mehr mit mir über das Buch diskutierte. In dieser Zeit hat er tatsächlich Tausende von Stunden mit Untersuchungen und Nachforschungen bei seinen Konzerten und beim Unterricht verbracht. Barrys Bemühen und seine Hingabe, das Lehren auf beste Weise zu gestalten, hebt dieses Buch über das Niveau ausgeklügelter Theorien. Es ist ein Buch, das sicherlich erfolgreich als praktischer Wegweiser zur Intensivierung des Musikerlebnisses dienen kann.

Er schrieb den Text und entwickelte die speziellen Techniken, die hier dargestellt sind. Ich arbeitete sehr eng mit Barry zusammen und sorgte für die Vollständigkeit der Ausdrucksmöglichkeiten des Inner Game. Es war stets eine sehr enge und ungezwungene Zusammenarbeit. Während er begann, Übertragungsmöglichkeiten für den musikalischen Bereich zu entwickeln, wurde mein Interesse an der Musik immer größer. Barry und ich veranstalteten nicht nur gemeinsame Musikseminare mit Inner Game, ich fand auch trotz großer Arbeitsbelastung Zeit, meine Altblockflöte hervorzuholen und wieder zu musizieren. Auf diese Weise schafite ich mir mein eigenes „Lernstudio“ für das musikalische Inner Game.

Am meisten an Barry imponierte mir seine Geduld, zunächst auf sein anfängliches Vorhaben, ein Buch zu schreiben, zu verzichten. Er konzentrierte sich darauf, Inner Game als eine neue Erfahrung für sich selbst und seine Schüler zu entdecken. Daraus entwickelte sich seine unbeugsame Begeisterung und Überzeugung für Inner Game in der Musik. Ich empfehle dem Leser, dieses Buch als eine Art Experiment zu erleben. Es soll kein Buch für „richtige“ Antworten sein, sondern eher eine Erforschung neuer Möglichkeiten und ein Wegweiser für einen individuellen Lernstil. Verbunden damit ist die Aufforderung, einige alte Lernregeln fallen zu lassen und mehr der eigenen, angeborenen Kraft des Lernens zu vertrauen. Es soll kein Verwerfen alter Methoden, sondern mehr eine Annäherung an eine Lerntechnik sein, die den musikalischen Ausdruck spielerisch erweitert.

Meine eigenen Erfahrungen beim Unterrichten von Musikstudenten zeigen mir, dass diese Lernmethode außerordentlich erfolgreich ist. Musiker verschiedener Niveaus haben schon nach kurzem Unterricht außergewöhnliche Qualitätsverbesserungen beim Musizieren gezeigt. Auf dem Tennisplatz kannte ich diese Wirkung, und es bedeutete für mich eine besondere Genugtuung, dass auch in der Musik derart schnell Resultate erzielt werden konnten.

Im Sport wie in der Musik gibt es den gleichen Mechanismus zur Leistungssteigerung. Anstrengender Unterricht und ständige Kontrollen können zu Angst und Selbstzweifeln führen. Es ist einfach unmöglich, sich auf einen Tennisball zu konzentrieren, wenn der Kopf mit Anweisungen aller Art „verstopft“ ist. Wenn man Angst hat zu verlieren oder gar, sich vor seinem Lehrer zu blamieren, kann man unmöglich Freude am Spielen haben und gut spielen. Angst wie auch übermäßige Kontrolle lassen keinen guten Tennisspieler „wachsen“. Das gilt auch für den Musiker.

Es scheint mir, dass der eigentliche Sinn des Musizierens im Sich-ausdrückenKönnen liegt. Es bedarf dazu einer Umgebung, die es ermöglicht, in die Tiefen der eigenen schöpferischen Kraft zu tauchen und die Freiheit des Ausdrucks zu entdecken. Am Ende des Musikstudiums sollten Freude, Geschicklichkeit und Inspiration stehen. Der eigentliche Vorgang des Lernens und Lehrens sollte mit den gleichen Zielen verbunden sein. Es ist meine große Hoffnung, dass die Leser den Inhaltsreichtum dieses Buches nutzen, um aufs Innigste Freude an der Musik zu erleben.

W. Timothy Gallwey

1 DER MOZART IN UNS

Wolfgang Amadeus Mozart war bekanntlich ein Wunderkind. Im Alter von nur fünf Jahren begann er zu komponieren und gleichzeitig Cembalo-, Geigen- und Orgelunterricht zu nehmen. Er reiste konzertierend durch ganz Europa und hatte mit dreizehn Jahren bereits Sonaten, Symphonien, Konzerte und Opern geschrieben.

Aber das bekannte Bild dieses jungen Genies lässt kaum erahnen, dass Mozart auch ein richtiges Kind war. Wenn er mit Johann Christian Bach zusammen in England konzertierte, suchten sie oft Tavernen auf. Der kleine Wolfgang und Johann Christian hatten einen Heidenspaß daran, in die Messingspucknäpfe zu spucken. Johann Christian begnügte sich damit, genau in die Mitte des Spucknapfs zu treffen. Wolfgang Amadeus dagegen zielte auf den Rand, der Spucknapf drehte sich und reflektierte die vielen goldenen Kerzenlichter im Raum, worauf alle Menschen in der Taverne zu tanzen anfingen.

Nicht viele Menschen wissen, dass Mozart ein guter Billardspieler war und dass das Klacken oder der dumpfe Aufprall der Kugeln auf dem grünen Billardtisch ihn musikalisch inspirierte. War Mozart – wie immer so einfach angenommen wird – eine außergewöhnliche und einzigartige Begabung? Oder war er einfach nur ein Kind mit der natürlichen Begeisterungsfähigkeit eines Kindes und einem Vater, der es zur intensiven Beschäftigung mit der Musik ermutigte?

Heutzutage wundern wir uns darüber, wie leicht Kinder lernen. Kinder, die in fremden Ländern aufwachsen, verkraften oft drei oder vier verschiedene Sprachen, ohne sie zu verwechseln. Kinder, die nach der Suzuki-Methode Instrumentalunterricht erhalten, lernen mit Freude und spielen unbeschwert und sicher. Selbst wenn Mozart eine Ausnahmeerscheinung war, ist es doch eine Tatsache, dass alle Kinder eine unglaubliche Lernfähigkeit haben. Als Erwachsener ist man geneigt, ein wenig abwertend zu sagen: „Natürlich können sie das. Es sind ja Kinder, die nicht wissen, was sie tun.“ Aber wäre es nicht phantastisch, wenn wir unser Wissen und unsere Reife mit der kindlichen Unbekümmertheit und unbegrenzten Neugierde vereinen könnten und so lernen, vortragen und Musik hören könnten?

Kannst du dich erinnern, welche Gefühle und Erlebnisse du im Alter von drei oder vier Jahren hattest? Sicherlich erinnerst du dich an keine Einzelheiten.

Das Bild deiner Kindheit wird aber bestimmt Erinnerungen an Begeisterung, Vertrauen und unbeschwerte Verspieltheit enthalten.

Im Kindesalter hat uns niemand gesagt, dass es schwierig ist, ein Instrument zu spielen, und wir musizierten, ohne darüber nachzudenken. Wir bewunderten die Musiker, wie sie mit ihrem Instrument Erregung, Liebe und Traurigkeit ausdrücken konnten. Bei unserem ersten Auftritt als Mitglied einer Band, eines Orchesters oder eines Chors waren wir von der Klangfülle überwältigt. Es schien uns wie ein Wunder, dass wir tatsächlich unseren Teil dazu beitragen durften, mit fünfzig oder einhundert Stimmen zu einem musikalischen Ganzen zu verschmelzen.

Auch heute noch – als Zuhörer, Lehrer, Vortragende, Schüler und Studenten – erkennen wir immer wieder, dass „kindliche“ Fähigkeiten in uns ruhen. Manchmal spielen wir eine Passage so gut, dass wir uns fragen, wie das möglich war; sie scheint wie durch einen Zauber aus unseren Fingern zu fließen. Manchmal hält uns eine technisch schwierige Stelle lange auf, und dann wiederum läuft plötzlich – ohne erklärbaren Grund – alles wie von selbst. Wir fühlen uns von der Freude des Komponisten mitgerissen, der vor mehr als einem Jahrhundert gelebt hat.

Warum gibt es diese köstlichen Augenblicke so selten? Wenn wir die Fähigkeiten haben, auf diese bessere Art zu hören, zu lernen und zu spielen, warum tun wir es dann so selten? Wie können wir diese kindlichen Fähigkeiten des Sehens, Hörens und Verstehens wiedererlangen?

MIT INNER GAME SPIELEN

Seit Jahren wusste ich, dass Musiker Timothy Gallweys Lernmethoden des Inner Game für Tennis, Skilaufen, Golf und andere Sportarten diskutierten. Als sein Buch „The Inner Game of Tennis“ erschien, erkannten die Musiker, dass diese Methoden und Techniken zur Überwindung der Befangenheit und zur Verbesserung des Lernens auch in der Musik angewandt werden könnten.

Als ich meinen Freunden zuhörte, die mit gleicher Begeisterung über Gallweys Methoden sprachen wie über berühmte Komponisten oder einen erfolgreichen Sportler, kam mir nie der Gedanke, Inner Game in meinem eigenen Leben als klassischer Kontrabassist und Pädagoge anzuwenden. Bis ich auf einem Skihang in Tims Methoden eingeführt wurde. Und das kam so:

Wenn ich etwas Neues lerne, nehme ich gerne bei einem Experten Unterricht, der mir genau sagt, was ich zu tun habe. Ich möchte wissen, wie man es am besten macht. Mein Bruder dagegen lernt anders. Er bringt sich alles selbst bei. Zwischen meinem Bruder Jerry und mir entwickelte sich ein unausgesprochener Wettbewerb, wer von uns das Skilaufen besser und schneller erlernen würde. Jerry hatte eine angeborene Hirnerkrankung und dadurch eine eingeschränkte Kontrolle über seine linke Körperhälfte. Im Schwimmen hat er mich nie geschlagen, dagegen war er mir stets im Tennis- und Golfspielen, in der Schule und auch im Umgang mit Menschen überlegen. Er erhielt als Schüler viele Auszeichnungen und konnte einfach alles, während ich ein zweitklassiger Schüler war und „nur“ im Schulorchester mitspielen durfte.

Mein Bruder las Tim Gallweys Buch „Inner Skiing“. Ich dagegen nahm lange teuren Unterricht in einer Skischule. Ein Jahr später trafen wir uns in einem kalifornischen Skiurlaubsort. Ich war fest davon überzeugt, dass ich über Körperhaltung, Beinstellung und den Gebrauch der Skistöcke alles wusste. Ich glaubte, alles gelernt zu haben, was man als richtiger Skifahrer wissen musste. Umso erstaunter war ich – und gleichzeitig enttäuscht! –, dass Jerry viel natürlicher, viel schneller und müheloser den Hang hinunterfuhr.

Mir dagegen zitterten vor Angst die Knie. Hier stand ich nun auf dem Gipfel des Squaw Valley. Vor mir lag der gleiche Skihang, an dem ich 1960 während der Winterolympiade den Riesenslalom miterlebt hatte. Zum ersten Mal stand ich nicht mehr nur auf einem Anfängerhügel. Als ich startete, schwirrten unzählige Anweisungen in meinem Kopf herum: „Verlagere dein Gewicht nach vorn … Schultern nach vorne … entspann dich … nicht hinfallen … bleib ruhig … nicht steif werden …“ All diese guten Ratschläge trugen aber wenig dazu bei, dass ich den Hügel gut hinunterkam, und ich hatte wenig Spaß bei der Abfahrt.

Jerry dagegen beherrschte alles. Er war entspannt, sicher, seine Schultern waren nach vorn gerichtet. Er setzte zu gelassenen Schwüngen an, indem er sein Gewicht richtig verlagerte – als ob er es immer so und nie anders getan hätte. Ich war natürlich immer noch skeptisch, aber offen-sichtlich hatte Jerry das Skifahren auf eine bessere Art gelernt. „Barry“, sagte er, „es ist doch ganz einfach. Vergiss alles, was du gelernt hast, fühle mit deinen Brettern den Berg unter deinen Füßen. Beobachte, wie es am besten geht, und lies alles über Inner Game.“

Jetzt musste ich endlich Gallweys Bücher lesen. Ich kaufte mir das Buch „Inner Skiing“, las es in der Hoffnung, dass es mir beim Skifahren helfen würde, und auch mit dem Hintergedanken, diese Techniken bei der Musik anwenden zu können.

Ich entdeckte sehr bald, dass Tim Gallweys Methoden des Inner Game in allen Bereichen des menschlichen Tuns angewandt werden können. Die grundlegenden Fähigkeiten der Aufmerksamkeit, des Vertrauens und des Willens stärken unsere Konzentrationskraft und helfen uns, Nervosität, Zweifel und Angst zu überwinden. So können wir unsere größtmögliche Leistung auf jedem Gebiet erbringen. Mir wurde völlig klar, dass diese Fähigkeiten sowohl die Qualität des Lernens als auch die musikalische Ausführung verbessern können. Ich begann, mit meinen Kontrabass-Studenten zu experimentieren.

DIE ERSTEN ERFOLGE

Ich begann also, die Methoden des Inner Game auf den Bereich der Musik zu übertragen. Ein erstes Anzeichen des Erfolgs zeigte sich beim Versuch, einem Kontrabassisten beizubringen, wie er seinen Unterarm entspannen kann. Ich wandte eine der einfachsten Methoden an, die Tim in seinem Buch „Inner Skiing“ beschreibt. Ich schlug Randy vor, beim Spielen auf seinen Unterarm zu achten und die darin gefühlte Spannung mit einer Ziffer zwischen 1 und 10 zu bewerten („1“ bezeichnet den entspanntesten Zustand, „10“ den höchsten Grad der Verspannung). Wir waren uns einig, dass sein momentaner Spannungszu-stand mit „5“ zu bezeichnen wäre. Er sollte nun diese Spannung auf „7“ steigern und sie dann wieder auf „5“ zurückfallen lassen.

Wie zufällig entspannte sich Randy so sehr, dass er seinen Zustand mit „3“ bewertete. Durch diesen Unterschied, den er in seiner Muskulatur zwischen „3“ und „7“ spürte, wurde ihm zum ersten Mal bewusst, welche Muskeln ihm „im Weg“ waren. Danach konnte er sie bewusst entspannen. Es war wie ein kleines Wunder: Seit Monaten hatte ich mich mit Randy beschäftigt und erfolglos versucht, die Verspannung in seinem Bogenarm zu lösen. Nun hatte er das Problem ohne meine Hilfe gelöst. Aber nicht nur das: Sein Ton war nun farbenreicher und seine Bogenführung sicherer als zuvor.

Langsam begriffich, wie es meinem Bruder gelungen war, sich selbst das Skifahren beizubringen. Die enorme Kraft und Wirksamkeit der einfachen Methoden Gallweys liegt darin, einen Zustand zu erreichen, in dem wir uneingeschränkt lernen, etwas leisten und uns freuen können. Ich war ziemlich aufgeregt, als ich Tim damals im Jahr 1980 anrief. Seitdem haben sich zwischen uns ein ständiger Dialog und eine tiefe Freundschaft entwickelt.

Ich wollte Inner Game im musikalischen Bereich erproben und anwenden. Tim war von diesem Vorhaben ebenso begeistert wie ich, und wir einigten uns auf zwei Bedingungen. Erstens sollte ich nur Übungen und Techniken anwenden, die ich selbst in meiner musikalischen Praxis erprobt hatte. Wenn ich eine Technik anwenden wollte, die ich in „The Inner Game of Tennis“ entdeckt hatte – wie z. B. „die Naht des Tennisballs im Auge behalten“ – dann sollte ich diese Anweisung so übertragen, dass sie im musikalischen Kontext angewandt werden kann. Ich erklärte also meinen Studenten z. B., dass sie beim Spiccato die schnellen, halbkreisförmigen Bewegungen des Bogens beobachten sollten. Zweitens wollte ich die Klarheit der Methode Inner Game beibehalten. Ich war begierig, so schnell wie möglich mit der Übertragung des Inner Game auf die Musik zu beginnen. Bald war mir klar, dass es nicht leicht sein würde, einfache und wirksame Methoden zu entwerfen. Einige Jahre sind nun vergangen, und ich bin immer noch dabei zu verfeinern und zu vereinfachen. Ich entdecke immer neue Techniken, die die grundlegenden Fähigkeiten des Inner Game berücksichtigen: Aufmerksamkeit, Vertrauen und Wille.

Meine Zusammenarbeit mit Tim Gallwey erforderte die Verlegung meines Wohnsitzes von Cincinnati nach Kalifornien. Dort konnte ich seinem Tennis-unterricht und seiner Anwendung des Inner Game beiwohnen. Es mag seltsam erscheinen, dass ich auf einem Tennisplatz von einem Tennislehrer mehr über Musik gelernt habe als durch jahrelanges Spielen und Unterrichten. Aber so ist es nun einmal.

Gallwey lehrte mich, dass bei allem, was wir tun, zwei Spiele gespielt werden. Zum einen das „äußere Spiel“, bei dem wir versuchen, äußere Hürden zu überwinden, um ein äußeres Ziel zu erreichen; z. B. beim Tennisspielen gut zu spielen und zu gewinnen oder in einem anderen Gebiet erfolgreich zu sein. Zum Zweiten gibt es das „innere Spiel“, durch das wir innere Hürden wie Selbstzweifel und Angst überwinden können. Diese inneren Hürden stören uns beim Musizieren – und auf dem Tennisplatz – am meisten, weil sie uns daran hindern, unser volles Leistungspotential frei einzusetzen. Die Spieler des Inner Game haben erkannt, dass ihr äußeres Tun ihrer wahren Leistungsfähigkeit näherkommt, wenn sie mentale Störungen ausschalten können.

Meine Erfahrungen mit Inner Game haben mir neue Möglichkeiten eröffnet, von denen ich vorher nicht zu träumen gewagt hätte. Bevor ich Gallweys Methoden anwandte, spielte ich im Orchester, in Kammermusikensembles, als Solist und ich unterrichtete Kontrabass. Inner Game hat meinen Horizont so sehr erweitert, dass ich lernte, Vorträge zu halten, Demonstrationsunterricht zu geben und Kurse zu leiten. Es hat meine Art des Spielens, des Musikhörens, des Unterrichtens und die Qualität meiner solistischen Interpretationen entscheidend beeinflusst.

Jetzt wage ich es, Kammerorchester, Kirchenchöre, Musikkapellen und Symphonieorchester zu leiten. Meine Tätigkeit hat mir Kontakte zu Jazzmusikern, Musikpädagogen und Tänzern verschafft. Etwas verlegen muss ich gestehen, dass ich nicht selten besseren Klavier- als Kontrabassunterricht erteile. Meine ganze Haltung der Musik gegenüber ist verändert. Mein Musizieren und Unterrichten war früher vorsichtiger und kontrollierter – und vielleicht ein wenig langweilig. Inner Game hat mir geholfen, mit mehr Mut und Bewusstsein zu handeln, freier und spontaner zu musizieren.

Ich habe gelernt, Risiken einzugehen und Dinge zu versuchen, die ich vor einigen Jahren noch als unmöglich ansah. Ich gebe keinen „überkontrollierten“ Unterricht mehr und rege meine Studenten an, Dinge selbst auszuprobieren und aus eigener Erfahrung zu lernen. Ebenso beschäftige ich mich heute weniger mit meinem „ernsthaften“ Image als „klassischer“ Musiker. Während ich früher meine Konzertprogramme nur aus dem Standard-Repertoire zusammenstellte, so habe ich nun begonnen, meinen Horizont zu erweitern und alle Möglichkeiten meines Instruments kennenzulernen.

Jetzt arbeite ich beispielsweise mit Komponisten, Musikern, Tänzern und Schauspielern in den verschiedensten Stilgattungen, von Barock über Jazz bis hin zur Volksmusik. Wir haben schon Melodramen, Reisen ins All und Elefanten (als Gastkünstler) in unsere Konzerte eingebaut. Damit haben wir ein ganz neues Publikum von Kindern und Erwachsenen angelockt, die sonst nie ein Konzert besucht hätten.

Ich lernte auch, meine neu erworbenen Einsichten und Fähigkeiten im tägli-chen Hausgebrauch anzuwenden. Zum Beispiel, wenn ich mit meinen Kindern Schulaufgaben mache und versuche, ihnen bessere Tischmanieren beizubringen. Es gibt wohl nur wenige Bereiche, in denen man Inner Game nicht mit erstaunlichem Erfolg anwenden kann. Aber was ich als das Wichtigste empfinde: Ich habe das Gefühl wiedergefunden, dass alles möglich ist, was man sich vornimmt!

ZU DIESEM BUCH

Für alle ist Inner Game in der Musik von großem Wert: Für Zuhörer wie Inter-preten, Studenten wie Pädagogen, junge Geiger wie Flamenco-Gitarrenspieler, Jazzanhänger wie Berufsmusiker. Vielleicht hast du andere Bücher über das Inner Game von Tim Gallwey gelesen und willst nun entdecken, wie sich diese Techniken in der Musik anwenden lassen.

Was erwartest du vom Inner Game? Willst du dein Verständnis für verschiedene Stilrichtungen der Musik vertiefen? Wird die Lektüre des Buchs dich vielleicht veranlassen, dein Instrument aus dem Schrank zu nehmen, wo es seit Jahren liegt? Wird das Buch dir ermöglichen, effektiver Musik zu üben und mit mehr Freude zu spielen? Oder hilft es dir vielleicht, dein Kind beim Üben zu unterstützen und ihm über die ersten Schwierigkeiten hinwegzuhelfen? Soll es dir dabei helfen, deine Aufregung, dein Lampenfieber zu überwinden? Oder willst du ganz einfach den in dir steckenden Mozart entdecken – deine angeborene Schaffenskraft, deine Begabung: den Komponisten, das spielende Kind in dir, dein musikalisches Inneres?

Es ist beim Inner Game sehr wichtig, aus der eigenen Erfahrung zu lernen. Um dir zu diesem Ziel zu verhelfen, habe ich in diesem Buch verschiedene Übungen beschrieben. Selbstverständlich können diese Übungen nicht jede Art von Musik – vom „Bluegrass“ bis Beethoven – oder jeden Ausbildungsstand – vom Anfänger bis zum Virtuosen – berücksichtigen. Aber wir wollen ja auch kein Musikinstrument erlernen, sondern alle Möglichkeiten des Inner Game erproben, um unser Leistungspotential zu entdecken.

Ich möchte dich auffordern, diese Übungen zu machen und mit mir beim Durchlesen dieses Buchs dein Inner Game der Musik zu spielen. Deine praktische Erfahrung mit dem, worüber ich schreibe, wird dich mehr lehren als meine Worte.

Einige Übungen setzen voraus, dass man Noten liest – viele andere nicht. Einige Übungen können in der Vorstellung ausgeführt werden, andere wiederum verlangen eine aktive Mitwirkung. Jeder möge sich frei fühlen, die Übungen seinem Niveau entsprechend auszuführen und seinen vertrautesten oder liebsten Musizierstil anzuwenden. In allen Übungen kann grundsätzlich das Übungsbeispiel durch ein anderes Stück ersetzt werden. Auch sollte man meine Übungen ruhig vereinfachen, wenn sie zu schwierig sind; man könnte sie z. B. langsamer spielen. Auf keinen Fall sollten diese Übungen zu einem zusätzlichen Hinder-nis werden und somit die Erfahrungen mit den besprochenen Techniken negativ beeinflussen. Viele meiner Studenten fanden es vorteilhaft, diese Übungen nicht auf ihrem Hauptinstrument auszuprobieren. Sänger z. B. können ihren Part auf dem Klavier spielen. Ein Pianist oder andere Instrumentalisten können entweder laut oder in ihrer Vorstellung singen. Wer lieber den Text liest und sich die Musik nur im Kopf vorstellt, der kann dies tun. Die vorgeschlagenen Musikstücke sind als Beispiele zur Verdeutlichung der Konzepte und Begriffe gedacht. Die passendsten Beispiele für dein eigenes Üben werden dir vielleicht erst in den Sinn kommen, wenn du ein bestimmtes Kapitel bereits gut kennst. Dieses Buch wendet sich ebenso an Musikliebhaber, die weder singen noch ein Musikinstrument spielen können – an Musikhörer. Obwohl ein Kapitel dieses Buchs speziell dem Zuhörer gewidmet ist, wird über das Zuhören als einen wichtigen Bestandteil des Inner Game in der Musik immer wieder gesprochen. Der Interpret kann nur das spielen, was er hört, und darum handelt dieses Buch genauso vom Zuhören wie vom Spielen.

EIN ÜBERBLICK ÜBER DIESES BUCH

In den nächsten zwei Kapiteln werden wir Inner Game in der Musik näher betrachten, seine grundlegenden Theorien kennenlernen, einige Ausdrücke genauer definieren und erfahren, wann und wie es gespielt wird. In den Kapiteln 4 bis 7 werden wir die Fähigkeiten der Aufmerksamkeit, des Willens und Vertrauens erörtern, die dem Inner Game zugrunde liegen. In den Kapiteln 8 bis 10 versuchen wir, diese Fähigkeiten für eine erfolgreiche Aufführung, für das musikalische Erlebnis, das Lernen und Unterrichten einzusetzen. Die Kapitel 11 bis 14 richten sich direkt an Zuhörer, Musiklehrer, die Eltern von Musikschülern und an Ensemblespieler. Das letzte Kapitel, Kapitel 15, erkundet die Anwendungsmöglichkeiten des Inner Game auf Improvisation und seinen Einfluss auf die Kreativität. Es zeigt uns weitere Wege zu jenem unglaublichen Potential, das in jedem von uns steckt.

Dieses Buch kann auf verschiedene Weisen gelesen werden. Die meisten Leser werden es wohl als einen intensiven „Workshop“, den sie nach und nach erleben wollen, betrachten. Nach den ersten sieben Kapiteln könnte es sein, dass die restlichen Kapitel für die Leser von unterschiedlichem Interesse sind. Lies dieses Buch also so, wie es dir am besten passt. Egal wie es gelesen wird, ich hoffe, dass jeder Freude an diesem Buch hat.

Außerdem möchte ich dich bitten und ermutigen, mir jeden Kommentar, jede Geschichte oder Reaktion mitzuteilen, die beim Lesen des Buchs, bei der Beschäftigung mit Inner Game oder auch sonst beim Musizieren entstanden ist. Es bleibt viel zu lernen, und ich würde gern von den Erfahrungen der Leser profitieren. Ein Buch ist beinahe wie ein Dialog, und es macht wenig Spaß, wenn nur eine Person das Wort führt.

Setz dich auf einen Stuhl, hol deine Noten und lass uns beginnen.

2 INNER GAME – DAS INNERE SPIEL

Was ist Inner Game?

Was sieht und erfährt ein Tennisprofi auf dem Tennisplatz, das er dann beim „Coachen“ einem Ski- oder Golflehrer, einem Geschäftsmann oder einer Telefonistin weitervermitteln kann? Das einem Arzt hilft, wirksame Therapien zur Vorsorge gegen Schlaganfall oder Herzerkrankungen zu entwickeln, und das uns Musiker lehrt, mit mehr Sicherheit, Musikalität und Freude zu spielen?

In den nächsten zwei Kapiteln werden wir Inner Game genauer betrachten, seine Grundregeln kennenlernen und gemeinsam entdecken, wann und wie es gespielt wird.

DIE ZWEI SPIELE

Ob man Tennis spielt, Geschäftsmann ist oder musiziert: Jede Tätigkeit stellt ihre eigenen Anforderungen und zeigt eigene Wege auf, diese Anforderungen zu bewältigen. Es ist, wenn man so will, ein Spiel. Dieses Spiel – das „äußere“ Spiel – kennen wir alle und spielen es immer wieder in der „äußeren“ Welt gegen „äußere“ Gegner. Das Spielfeld ist der Tennisplatz, das Büro oder der Konzertsaal. Die Hindernisse sind die Rückhand des Gegners, die harte Konkurrenz oder der schwierige Fingersatz. Das Ziel besteht darin, den Punkt zu gewinnen, den Vertrag abzuschließen oder die schwierige Passage zu meistern. Es gibt viele Bücher, die beschreiben, wie man besser „spielt“.

Es ist die grundlegende Idee von Tim Gallwey, dass man gleichzeitig mit dem „äußeren“ ein zweites, „inneres“ Spiel spielt. Dieses zweite Spiel ist viel feiner, wird oft nicht bemerkt und noch schneller wieder vergessen. Das Spielfeld ist in deinem Kopf, und die Hindernisse sind mentaler Art, wie z. B. Konzentrationsunterbrechungen, Nervosität und Selbstzweifel. Ziel des Inner Game ist, den Weg zur vollen Leistungsfähigkeit zu finden, und nur wenige Bücher berichten darüber.

Beide Spiele, das „äußere“ und das „innere“, sind sehr eng miteinander verbunden. Es ist einfach unmöglich, etwas zu tun, ohne diese beiden Spiele zu spielen.

Probleme tauchen auf, wenn wir uns nur auf das „äußere“ Spiel konzentrieren. Wenn das geschieht, spielt – wie Tim es ausdrückt – das Spiel uns und nicht umgekehrt.

In diesem Buch steht das „innere“ Spiel im Vordergrund. Den Unterricht des „äußeren“ Spiels, z. B. die beste Handhaltung, Atemtechnik, Bogenhaltung und die richtige Art, Brahms zu interpretieren, überlassen wir anderen. In diesem Buch konzentrieren wir uns auf das „innere Spiel“. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens ist das erfolgreiche „innere Spiel“ häufig entscheidend für Misserfolg oder Erfolg beim „äußeren“ Spiel. Zweitens ist Inner Game an sich faszinierend, und es kann immer angewandt werden.

Tim Gallwey weist darauf hin, dass wir das Inner Game jeden Tag spielen, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Wir gewinnen oder verlieren es jeden Augenblick. Eigentlich ist das „innere Spiel“ der Schlüssel zum Erfolg im „Spiel des Lebens“.

Wir besitzen alle ein großes Leistungspotential, das aus natürlichen Fähigkeiten, Leistungen und Wissen besteht. Wir erweitern dieses Potential, wenn wir herausgefordert werden und auf irgendeinem Gebiet Grenzen durchbrechen. Um diesen Herausforderungen gewachsen zu sein, müssen wir in der realen Welt ständig Probleme lösen. Wir müssen das „äußere“ Spiel spielen, um z. B. herauszufinden, wie wir den „coolen“ Klang eines Miles Davis nachahmen können, wenn wir ein Solo in einer Jazzcombo übernehmen wollen.

Aber wir stoßen auch auf eine ganze Reihe von „inneren“ Problemen, die unsere „äußere“ Leistung direkt beeinflussen. Es kann sein, dass du nervös wirst und bezweifelst, einen schwierigen Fingerablauf ausführen zu können, besonders wenn du auf der Bühne im Scheinwerferlicht sitzt. Diese Zweifel sind die Herausforderungen, denen du beim Inner Game begegnest. Wenn wir nun unsere innere Welt mit ihren unzähligen Zweifeln, Hoffnungen und Erwartungen untersuchen, müssen wir wissen, was eigentlich in uns vorgeht.

Beklemmung, Versagensangst und Selbstzweifel hemmen uns und lösen Stress aus, auf den unsere Muskeln reagieren: sie verkrampfen. Der Stress verursacht außerdem ein Nachlassen der Aufmerksamkeit, und wir verlieren das Interesse an dem, was wir gerade tun. Mit anderen Worten ausgedrückt: Die mentalen Störungen, die sich unseren natürlichen Möglichkeiten in den Weg stellen, werden „Selbststörungen“ genannt.

Durch Tim Gallweys Methode des Inner Game werden wir uns ihrer bewusst und erkennen, dass solche Störungen den wahren Ausdruck unserer schöpferischen Kraft verhindern können.

GRUNDLAGE 1: DIE FORMEL DER LEISTUNG

Es ist grundsätzlich so, dass jede Leistung von Fähigkeiten und vom Ausmaß der Störung dieser Fähigkeiten abhängt. Das lässt sich in einer Formel ausdrücken:

L = P – S

In dieser Formel steht „L“ für Leistung, für das, was du schließlich erreicht und gelernt hast. „P“ bedeutet Potential, die angeborene und erworbene Leistungsfähigkeit. „S“ bedeutet Störung, die dir und deinen Fähigkeiten im Weg steht.

LEISTUNGSVERBESSERUNG DURCH WENIGER STÖRUNGEN

Die meisten Menschen versuchen, ihre Leistung (L) durch verstärktes Üben zu steigern. Inner Game dagegen setzt sich zum Ziel, gleichzeitig mit dem Aufb auen der Leistungsfähigkeit die Störungen (S) zu verringern. Dadurch entsprechen unsere Leistungen mehr und mehr unserem wirklichen Potential.

DER STEIN DES ANSTOSSES: SELBSTSTÖRUNGEN

Das schlimmste Erlebnis

Jeder sollte sich einmal an seine peinlichste und unangenehmste musikalische Erfahrung erinnern. Selbst wenn sie schon Jahre zurückliegt, wird man ein sehr genaues Bild dieser Situation vor Augen haben: Die Verspannung im Körper, die Konflikte im Kopf sind gegenwärtig. Dieses Erlebnis hat sich bestimmt überraschend deutlich eingeprägt und kann ohne große Schwierigkeiten beschrieben werden.

Ich erinnere mich beispielsweise nur allzu gut an den Tag, als ich zum Abschluss meines ersten Studienjahres zur Kontrabass-Prüfung antreten musste, um ein Examen vor vielen Experten abzulegen. Neben meinem Hauptfachlehrer, dem Kontrabassisten Murray Grodner, waren der berühmte Konzertcellist Janos Starker, Josef Gingold, einer der größten Violinpädagogen, und William Primrose, der vielleicht bedeutendste Bratschist aller Zeiten, anwesend.

Ich war nervös, glaubte, mich übergeben zu müssen, und war sicher, dass ich bei der Musik versagen würde, an der ich so lange gearbeitet hatte. Es ist nicht gerade vorteilhaft für das Selbstvertrauen und die Zwanglosigkeit, wenn man so bedeutenden Meistern vorspielen muss. Meine Hände waren feucht, meine Knie zitterten (und das wird zu einem großen Problem, wenn man mit den Knien den Kontrabass halten muss), mein Herz schlug wie wild, und ich konnte kaum richtig durchatmen.

Das Schlimmste: Ich höre immer noch diese Stimme in mir, die mir den letzten Rest Selbstvertrauen nahm. Sie flüsterte mir zu: „Ich spiele unsauber … was werden sie nur von mir denken? … Jetzt habe ich eine falsche Note gespielt … Mein Bogen zittert ja … um Gottes Willen, wann hört das endlich auf? … Er zittert ja immer noch, das ist ja entsetzlich … Jetzt kommt die schwierige Stelle … verdammt, könnte ich diese Stelle nur noch einmal spielen – ich bin sicher, dass es dann weniger holprig klingen würde … Halt die Hand hoch … den Ellbogen stabil … entspanne den dritten Finger … vibriere schneller … Hurra, das ist es!! … Hoffentlich habe ich ihnen mit diesem kleinen Schnörkel imponiert …“ Trotz dieses inneren Kampfes spielte ich, so gut ich konnte. Aber niemand wird überrascht sein, dass diese hochrangige Prüfungskommission nicht sehr beeindruckt war.

Das schönste Erlebnis

Erinnerst du dich an die beste musikalische Erfahrung, die du jemals gehabt hast? Wie war das? Weißt du noch, welche Gedanken du beim Spielen hattest? Was ging in dir vor?

Hast du mitten im Spiel abgebrochen und gesagt: „Donnerwetter, das ist ja wunderbar – ich mache keinen einzigen Fehler!“ Oder warst du von deinem Spiel so gefangen genommen, dass du überhaupt keinen Kommentar denken konntest. Und wenn du dir während des Spiels – nur einmal vielleicht – gratulieren wolltest, hast du nicht deswegen beinahe die Fassung verloren?

Beinahe alle Musiker, mit denen ich gesprochen habe – Solisten, Orchestermusiker, junge Studenten und Saisonmusiker –, fanden es schwierig, sich an etwas zu erinnern, wenn alles gut lief. Ihnen war wohl bewusst, dass alles stimmte, aber sie fühlten sich „nur“ erfreut und befreit.

Wir haben es alle erlebt: Die technisch mühelose Passage, die schnelle Lagenwechselbewegung zu einer hohen Note und vor allem den einzigartigen Augenblick, als wir selbst zur Musik wurden – wenn wir die Farben, das Fließen und die Liebe in der Musik fühlten. Das geschieht nur, wenn wir geistig ganz bei der Sache sind, alles bewusst erleben und so vom Augenblick gefangen genommen sind, dass unser Kopf keine mentalen Purzelbäume schlagen kann. Deswegen ist es so schwierig, sich an verschiedene Einzelheiten zu erinnern, die uns im Kopf herumgegangen sind.

Was können wir daraus lernen?

Wir können uns genau an die selbstkritische Auseinandersetzung in unserem Kopf erinnern, wenn wir schlecht spielten. Andererseits bemerken wir anscheinend nichts, wenn wir gut spielen. Vernünftigerweise müssen wir daraus folgern, dass wir viel mehr leisten können, wenn wir diese selbstkritische Stimme verstummen lassen können.

image Übung: Selbststörungen erkennen

Denke an das, was dich nervös macht. Stell dir vor, du betrittst ein Podium, um ein Konzert zu geben, und plötzlich bekommst du Angst. Erstelle eine Liste mit all deinen möglichen Problemen und vergleiche sie dann mit der Liste, die ich nach Gesprächen mit Hunderten von Musikern zusammengestellt habe.

Alle Musiker, mit denen ich gesprochen habe – und darunter waren sehr viele erfahrene Spitzenmusiker – scheinen die gleichen Sorgen zu haben. Natürlich unterscheiden sich die Sorgen von Fall zu Fall, aber dennoch kann man viele Gemeinsamkeiten erkennen.

Sie sagten, dass sie

– an ihren Fähigkeiten zweifelten,

– Angst davor hatten, die Kontrolle zu verlieren,

– glaubten, nicht geübt zu haben,

– sich Sorgen machten, nicht genügend sehen und hören zu können,

– befürchteten, dass etwas am Instrument kaputtgehen könnte,

– Angst davor hatten, sich in der Notenreihe zu irren,

– am Interesse des Publikums zweifelten,

– Angst davor hatten, ihr sorgsam eingeübtes Musikstück zu vergessen,

– befürchteten, ihre Eltern seien immer noch enttäuscht, dass sie nicht einen kaufmännischen Beruf ergriffen hatten.

image Übung: Die Auswirkungen der Störungen erkennen

Diese oder ähnliche Zweifel kommen bei uns allen vor, und nicht nur bei uns. Manager, Künstler und Sportler haben ähnliche Zweifel und Befürchtungen.

Stelle eine weitere Liste zusammen, und zwar diesmal mit den körperlichen und mentalen Auswirkungen, die durch Zweifel und Angst bei dir hervorgerufen werden. Was fühlst du beim Musizieren, Lernen oder Zuhören? Wie beschreibst du deine Nervosität? Welche Anzeichen spürst du, wenn du glaubst, nicht dein Bestes geben zu können? Was lässt dich dein Körper spüren, und was geht in solchen Augenblicken in dir vor?

Noch einmal: Vergleiche deine Beobachtungen mit denen, die ich nach Gesprächen mit Musikern gemacht habe.

Als körperliche Probleme wurden genannt:

– Atemnot,

– trockener Mund,

– erhöhter Puls,

– feuchte Hände,

– zitternde Finger, Arme oder Knie,

– verminderte Hör- oder Sehkraft,

– weniger Fingerspitzengefühl,

– Verspannung,

– Unbeweglichkeit,

– Übelkeit.

Als mentale Probleme wurden genannt:

– innere Stimme, die entweder tadelt oder lobt,