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Juan Gómez Bárcena

DER HIMMEL VON LIMA

Aus dem Spanischen von Steven Uhly

JUAN GÓMEZ BÁRCENA

DER HIMMEL
VON LIMA

ROMAN

Aus dem Spanischen
von Steven Uhly

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»EL CIELO DE LIMA«

©2014 BY JUAN GÓMEZ BÁRCENA

© 2014 BY EDITORIAL SALTO DE PÁGINA S.L., Madrid

Published by special arrangement with

The Ella Sher Literary Agency.

Erste Auflage

© 2016 by Secession Verlag für Literatur, Zürich
Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Steven Uhly

Lektorat: Ricarda Solms und Alexander Weidel
Korrektorat: Peter Natter
www.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz:

Erik Spiekermann und Peter Löffelholz, Berlin
Herstellung: Renate Stefan, Berlin

Papier Innenteil: 100 g Fly 05

Papier Vor- und Nachsatz: 115 g Fly 05

Papier Überzug: 125 g Wibalin white

Gesetzt aus Lyon & BRIM

ISBN 978-3-905951-95-0
eISBN 978-3-905951-96-7

INHALT

1. Eine Komödie

2. Eine Liebesgeschichte

3. Eine Tragödie

4. Ein Gedicht

Für die Freunde, die mich auf dieser Reise
begleitet haben. Ohne sie gliche

Der Himmel von Lima etwas weniger dem Buch,
das ich schreiben wollte.

Für meine Schwestern Diana und Marta,
die alles über mich wissen,
aber noch nichts von diesen Seiten.

1.

EINE KOMÖDIE

Zu Beginn ist es nur ein Brief, der etliche Male neu aufgesetzt wird, Überaus geschätzter Freund, Verehrter Dichter, Sehr geehrter Herr – ein anderer Anfang für jedes Blatt Papier, das in Fetzen unter dem Schreibtisch endet –, Glanz der spanischen Literatur, Hochgeachteter Ramón Jiménez, Verehrter Meister, Kamerad.

Am folgenden Tag wird die Mulattin, die hier als Dienstmagd beschäftigt wird, die auf dem Boden verteilten Reste zusammenkehren und für Gedichte des jungen Herrn Carlos Rodríguez halten. Doch heute Nacht schreibt der junge Herr keine Gedichte. Mit seinem Freund José Gálvez raucht er eine Zigarette nach der anderen, und gemeinsam wägen sie genau ab, mit welchen Worten sie sich an den Meister wenden sollen. Sie haben dessen neuestes Buch in sämtlichen Buchhandlungen von Lima gesucht, aber nur eine abgegriffene Ausgabe der Veilchenseelen gefunden, die sie schon so oft gelesen haben, dass sie die Verse auswendig rezitieren können. Und jetzt kritzeln sie so viele Wörter, die schon im nächsten Moment lächerlich klingen – edler Freund, berühmte Feder, unser wagemutigster Erneuerer der Literatur, könnten Sie, in Ihrer unendlichen Güte, uns, Ihren Freunden auf der anderen Seite des Atlantiks, Ihren glühendsten Lesern in Peru, nicht vielleicht ein Zeichen senden, denn Sie sollen wissen, Don Juan Ramón, dass wir hier Ihren Versen mit einer Bewunderung folgen, von der Sie vielleicht gar nichts ahnen; hoffentlich ist es nicht unangebracht unsererseits, Sie darum zu bitten, uns ein Exemplar Ihres neuesten Buches zukommen zu lassen, diese Ihre Traurigen Arien, welche in Lima unmöglich zu finden sind; hoffentlich, ach, ist es nicht vermessen, auf diese kleine Aufmerksamkeit von Ihnen zu hoffen, ohne Ihnen die drei Peseten des Buchpreises zu entrichten.

Wenn sie müde werden, trinken sie Pisco. Sie öffnen die Fenster, um sich auf die verlassenen Straßen hinauszulehnen. Es ist eine mondlose Nacht, wir schreiben das Jahr 1904. Es sind nur Jungen, zwanzig Jahre alt, jung genug, um zwei Weltkriege zu überleben und fünfunddreißig Jahre später den Sieg Perus in der Copa América zu feiern. Aber natürlich wissen sie jetzt noch nichts davon. Sie zerreißen bloß ein Blatt Papier nach dem anderen auf der Suche nach Worten, von denen sie wissen, dass sie unmöglich zu finden sind. Denn mit dem letzten auf den Boden geschleuderten Brief begreifen sie endlich, dass sie kein signiertes Exemplar der Traurigen Arien erhalten werden, sooft sie ihn auch verehrter Held der Literatur und Zierde Spaniens und Amerikas nennen. Nicht eine einzige Zeile postwendend, wenn sie ihm gestehen, dass sie nur zwei junge Herren sind, die in einer Mansarde in Lima arme Leute spielen. Man muss die Wirklichkeit ausschmücken, denn letzten Endes ist es das, was die Dichter tun, und genau das sind sie, oder zumindest träumen sie davon, es zu sein, in langen, schlaflosen Nächten wie dieser. Genau dies wollen sie nun zustande bringen, das schwierigste Gedicht von allen, eines, das keine Verse hat, es aber schafft, das Herz eines wahren Künstlers zu berühren.

Zuerst scheint es ein Scherz zu sein, aber dann stellt sich heraus, dass es kein Scherz ist; einer von beiden sagt, fast ohne darüber nachzudenken: Es wäre einfacher, wenn wir eine schöne Frau wären, dann würdest du schon sehen, wie Don Juan Ramón seine Seele hergäbe, um uns zu antworten, diese Veilchenseele, die er hat; und dann unterbricht er sich plötzlich, die beiden jungen Männer schauen einander einen Moment lang an, und fast ohne es zu wollen, ist der Streich ausgeheckt, sie lachen, sie beglückwünschen sich gegenseitig zu dem Einfall, sie tauschen Handschläge und Piscogläser und am nächsten Morgen treffen sie sich in der Mansarde, dabei ein parfümiertes Blatt Papier, das Carlos aus dem Schreibtisch seiner Schwester gestohlen hat. Und es ist auch Carlos persönlich, der schreibt. So oft ist er in der Schule ausgelacht worden wegen seiner Mädchenschrift mit den runden Buchstaben, so sanft wie ein Streicheln, und nun ist endlich der Moment gekommen, etwas Kapital daraus zu schlagen. Wann immer Sie möchten, Herr Gálvez, sagt er mit unterdrücktem Lachen, und gemeinsam beginnen sie, jene Worte zu rezitieren, die lange in ihnen gereift sind, und für die sie nicht mehr als Büttenpapier und einen Schreiber mit einer Frauenhandschrift benötigen. Jenes Gedicht ohne Verse, welches in keinem Buch Aufnahme finden wird, welches aber bald das bewirken wird, was nur die beste Dichtung vermag: Das zu benennen, was nie zuvor existiert hat, und ihm Leben einzuhauchen.

Diesen Worten wird Georgina entspringen, schüchtern zunächst, denn so haben sie entschieden, dass sie sein soll, ein junges Mädchen aus Miraflores, das die Verse von Juan Ramón mit einem Seufzer liest, und dessen Einfalt sie in den Pausen lachen lässt. Ein Mädchen, so arglos, dass es nur schön sein kann. Sie ist es, die ein Exemplar der Traurigen Arien erbittet; sie ist es, die so überaus beschämt ist ob ihrer Kühnheit; sie ist es, die den Dichter anfleht, ihr zu verzeihen und sie zu verstehen. Fehlt nur noch die Unterschrift und mit ihr ein klangvoller und poetischer Nachname, über den sie sich nach langer Debatte, in deren Verlauf ihnen Getränk und Gebäck ausgehen, einig werden: Georgina Hübner.

Und Georgina ist am Anfang nur dies, ein Name und ein versiegelter Brief, der über einen Monat lang von Hand zu Hand weiterreist, zunächst im Ausschnitt der Dienstmagd, einer Analphabetin, später in der Hosentasche des Jungen, der für den Auftrag einen halben Sol und einen Kniff in den enormen Hintern des Mädchens in Rechnung stellt. Danach wird er durch die Hände zweier Postangestellter, eines Zollbeamten und eines Linienschiffmatrosen gehen; von dort zum Dampfschiff, das die Strecke Lima–Montevideo befährt, in einem Postsack, der in der Regel voller schlechter Nachrichten ist. Von Montevideo ein unnötiger Umweg über Asunción, wegen der Nachlässigkeit eines Briefträgers, dem noch dreißig Tage bis zur Rente und die ausreichende Sehschärfe für kleine Handschriften fehlen. Von Asunción im Zug erneut durch den Urwald nach Montevideo, um sich dort in den Lagerraum eines Frachters einzuschiffen, wo er wie durch ein Wunder den Zähnen einer Ratte entgeht, die schon vorher viele andere Briefe unkenntlich gemacht hat.

Und noch immer wird Georgina nicht zu leben begonnen haben, noch immer wird sie nicht mehr sein als ein Briefpapier, das in der Dunkelheit des Postsacks schon dabei ist, seinen letzten Hauch Parfum zu verlieren. Noch steht ihr eine dreiwöchige Transatlantikreise bevor, begleitet von zwei blinden Passagieren, die sich von Zeit zu Zeit in einem Portugiesisch der Vorstädte ihre Eindrücke zuraunen. Und dann die Ausschiffung in La Coruña, der Zug, das Postamt, und wieder der Zug, der Postangestellte, der keine Gedichte liest, und dem der Name des Empfängers nichts sagt, Madrid, endlich Madrid. Und es stellt sich heraus, dass Georgina an irgendeinem Punkt ihrer langen Überfahrt angefangen hat zu atmen und zu leben; dass sie, als sie endlich im Haus des Dichters eintrifft, schon eine Frau aus Fleisch und Blut ist, ein schmachtendes junges Mädchen, dessen Herz in einem Fluss aus Tinte pocht, und das nun in seiner Villa in Miraflores auf Antwort wartet.

Ein Wesen, so wirklich wie der duftlose Brief, den Juan Ramón Jiménez an diesem Morgen in seinem Arbeitszimmer öffnen und in seinen zunächst ruhigen und dann bebenden Händen halten wird.

Zwei Postangestellte, ein Zollbeamter, der ein wenig den Umschlag des Pakets anreißt, um sicherzustellen, dass es keine Schmuggelware enthält; ein weiterer Sack, in dem die schlechten Nachrichten – Trauerfälle, Fehlgeburten, unvorhergesehene und unfreiwillige Aufenthalte in Kurorten und Pflegeheimen; Flitterwochen, die im Kasino von Estoril mit dem Setzen und Verlieren des Schmucks der Braut enden – wieder reichlicher vorhanden sind als die guten Nachrichten – ein Reisender, der gesund und wohlbehalten ankommt; ein Indio, der seinen Mischlingssohn anerkennt. Übers Meer nach Montevideo, in einem Frachtraum ohne blinde Passagiere und Ratten; vom Schiff zum Postamt und von dort erneut zum Kai, um sich nach Lima einzuschiffen, diesmal auf dem richtigen Weg, denn der kurzsichtige Postangestellte ist bereits in Rente und frönt im Viertel Pocitos einem glanzlosen Ruhestand; vom Hafen von Lima zum Postkurier, und acht Hände später in der Tasche desselben Laufburschen, der wieder einen halben Sol und einen Kniff in den Allerwertesten der Magd berechnet. Nur, dass diesmal das Paket nicht in ihren Büstenhalter passt und sie sich damit begnügt, es auf dem Schreibtisch des jungen Herrn José liegen zu lassen, ohne sich die Mühe zu machen, das Gekritzel anzuschauen, das sie ohnehin nicht entziffern könnte.

… Heute Morgen habe ich Ihren bezaubernden Brief erhalten, und ich eile, Ihnen mein Buch Traurige Arien zu schicken, und bedauere allein, dass meine Verse nicht halten mögen, was Sie sich wohl von Ihnen versprochen haben, Georgina …

Noch in derselben Nacht feiern sie in den Tavernen ihr signiertes Buch und den Brief aus der Hand des Meisters. Sie laden ihre Freunde ein, Dichter, so arm wie sie, die nach und nach in ihren Pferdekutschen eintreffen, und während sie ihnen aus den Mänteln helfen, sagen sie, trinkt, trinkt so viel ihr wollt, heute Nacht lädt euch Georgina Hübner ein. Dann kommen die Erklärungen, die Trinksprüche, und der Brief, laut und deutlich vorgelesen; diejenigen, die die Geschichte glauben und diejenigen, die sie nicht glauben; im Ernst, Carlito, dieses Süßholz kann unmöglich der Autor von Seerosen und Veilchenseelen geraspelt haben. Aber dann sehen sie die Signatur des Dichters auf dem Tisch, und dieses Buch, das man nur in den Buchhandlungen an der Puerta del Sol in Madrid und auf den Ramblas von Barcelona findet, und nun beginnt das Schulterklopfen und das laute Gelächter.

Ihr Brief ist vom 8. März, bei mir ist er erst heute, am 6. Mai eingetroffen. Geben Sie nicht mir die Schuld an der Verspätung. Wenn Sie mir immer Ihre Adresse schicken – für den Fall, dass Sie Ihr Domizil an einem anderen Ort aufschlagen sollten –, werde ich Ihnen in Zukunft immer die Bücher, die ich veröffentliche, mit größtem Vergnügen zukommen lassen …

Die Meinungen gehen auseinander, man müsse den Brief beantworten, man dürfe ihn nicht beantworten, Georgina solle der Freundlichkeit des Meisters mit einer Fotografie oder zumindest mit einigen Postkartenansichten von Lima begegnen, dass große Dichter solche Scherze nicht verdient hätten und man sobald als möglich die Wahrheit gestehen müsse, was denn die Wahrheit bringe, dass dieser Scherz ein Ende haben müsse, bevor die Sache ein schlimmes Ende nimmt, dass die Sache ein schlimmes Ende nehmen werde, doch was mache das schon. Am Ende ist es José, der sich mit einem dröhnenden Fausthieb auf den Tisch äußert: Ich sage, wir antworten, zum Teufel. Und sie werden antworten, aber erst am nächsten Tag, wenn sie in der Dumpfheit des Katers die Mansarde aufsuchen, bewaffnet mit rosenparfümiertem Papier, das sie eigens für diese Gelegenheit gekauft haben.

Heute Nacht ziehen sie es vor, sich zu amüsieren. Antworten an den Dichter auszuprobieren, die anfangs noch mehr oder weniger vernünftig klingen, und später immer schlechter beraten sind vom Alkohol und von der Euphorie. Im Morgengrauen aus Lima herauszufahren und dabei im Chor die Traurigen Arien zu rezitieren, die mit einem Krug Chicha in der Hand gar nicht mehr so traurig klingen. Und anschließend – doch man muss ihnen vergeben, denn zu dieser Zeit sind sie längst mehr Betrunkene als Dichter – anzufangen, sich wie Damen und Fräuleins zu benehmen; sich gegenseitig kreischend ›Georgina!‹ zu nennen, mit flötenden Stimmen zu reden, ihre Röcke, die sie nicht tragen, zu raffen, Schwindel und Ohnmachten vorzutäuschen und schließlich alle gemeinsam und laut lachend im Rosengarten der Barfüßermönche in der Hocke zu urinieren.

… Danke für Ihre Zartheit. Ich küsse Ihre Füße und bin, dessen seien Sie gewiss, ganz der Ihre.

JUAN RAMÓN JIMÉNEZ

Nehmen wir einmal an, wir müssten José und Carlos mit einer einzigen Zeile beschreiben, uns wären nicht mehr als, sagen wir, zehn Wörter über die beiden gestattet – ihr gesamtes Dasein im Format eines Telegramms. In diesem Fall würden wir womöglich folgendes sagen:

Sie sind reich.

Halten sich für Dichter.

Wollen Jiménez sein.

Aber glücklicherweise verlangt niemand, dass wir uns so kurz fassen.

Sie sind reich.

Das sind sie beide, wenngleich das weniger ein Zufall als eine Offensichtlichkeit ist. Im Jahr 1904 ist die Freundschaft zwischen Angehörigen unterschiedlicher sozialer Klassen so etwas wie ein Märchen – ein Genre, das besonders naiven Geistern reserviert ist, wie etwa einem kleinen Jungen, dem man Der Prinz und der Bettelknabe vorliest, bevor er seinen Gute-Nacht-Kuss bekommt.

Natürlich gibt es Umstände, die zu bescheidenen Lockerungen dieses Grundsatzes führen können. Wer hat nicht schon von den Großgrundbesitzern gehört, die sich damit vergnügen, ihren Bauern großzügige Gefälligkeiten zu gewähren und dafür vielleicht mit der Freude entschädigt werden, sie lange Minuten in Ihren Empfangssälen warten zu sehen, die Mütze gegen die Brust gepresst, in den Augen die Furcht, die Teppiche mit Lehm zu beflecken. Da sind auch die reichen und geneigten Witwen, die mit sanfter Stimme ihre Zimmermädchen beraten; die sich vielleicht sogar darum kümmern, ihnen einen ehrbaren und feinfühligen Mann unter den Lakaien ihrer Skatfreundinnen auszusuchen. Herrschaften, die sich als Arbeiter verkleiden, um sich in pittoresken Tavernen zu betrinken, Arm in Arm mit Männern, deren Namen sie später vergessen werden.

In keinem dieser Fälle können wir Symptome von Freundschaft entdecken. Nur eine falsche Kameradschaft, in welcher der Bauer – oder das Dienstmädchen oder der Hausdiener – den schlechteren Part hat: mit vorsichtigen Einsilbern die Fragen zu beantworten, die oftmals elegant versüßte Befehle sind, und voller Scham das Almosen der Aufmerksamkeit entgegenzunehmen, welches der Hausherr ihnen anbietet. Die Herrschaften hingegen finden diese kleinen Plaudereien, die mit einem Läuten der Hausglocke einberufen und beendet werden, befriedigend und erbaulich. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wird der Diener gehen – Alfredo, Sie können sich zurückziehen –, und sie bleiben, wo sie sind, räkeln sich weiter in ihren Lehnstühlen, auf dem Tisch das volle Gläschen Cognac, den der schamhafte Diener nicht zu kosten gewagt hat, und in ihrem Bewusstsein die Genugtuung, großzügig und menschlich gewesen zu sein.

Man muss also nur feststellen, dass beide reich sind. Allerdings müssen sie nicht zwangsläufig auf die gleiche Weise reich sein. Das Vermögen der Gálvez zum Beispiel ist sehr alt, verbunden mit einem illustren Stammbaum berühmter Helden für das Vaterland. Und auch wenn es wahr ist, dass viele der Sol-Münzen, welche die so vortrefflichen Ahnen prägen ließen, bereits entschwunden sind, so haben ihre Nachkommen im Jahr 1904 doch immer noch genügend Rücklagen für ein gutes Auskommen. Ganz zu schweigen von ihrem makellosen Ruf, der sich später noch als ebenso wertvoll erweisen wird wie das verlorene Gold. Denn jeder in Lima weiß, dass der Großvater José Gálvez Egúsquiza starb, als er 1866 den Hafen von Callao gegen die spanische Flotte verteidigte, und dass sein Onkel José Gálvez Moreno ein Held des Salpeterkrieges war, und wer könnte angesichts solcher Referenzen dem jungen José, wenn er groß ist, einen verantwortungsvollen Posten verweigern – eine Botschaft im Ausland vielleicht oder sogar das Kultusministerium in Lima.

Das Vermögen der Familie Rodríguez ist dagegen beschämend jung. Sein Vater begann erst drei Jahrzehnte zuvor, es anzuhäufen, als er während des Kautschukfiebers sein Glück damit versuchte, dem Dschungel Harz abzuzapfen und die Indios bluten zu lassen. Davor war er ein Niemand. Nur ein Vertreter für Wachs und Seifen, der vielleicht schon damals davon träumte, zu einem der so vielen Herren zu werden, die sich nie dazu herabließen, ihn zu empfangen. Dann kam das weiße Gold und mit ihm die Plantage mit viertausend Arbeitern und die Winter- und Sommerresidenzen und die Kutschen und seine eigenen Hausangestellten, die so sehr jenen elenden Dienern ähnelten, welche ihn so oft an der Türschwelle hatten stehen lassen. Sogar ein botanischer Garten mit seltenen Blumen und Tieren, auf dessen Schotteralleen der Herr seine vielen Sorgen spazieren führte. Er hatte alles, außer jener glorreichen Vergangenheit, die nicht einmal der Kautschuk kaufen kann: der Stammbaum, dessen zahlreichen indigenen Zweiglein beschnitten werden müssten. Es ist diese ruhmlose Abstammung, die in einigen Salons, auf gewissen feierlichen Empfängen nicht hinnehmbar ist; und das erklärt, weshalb die feinen Herren den Kopf zehn oder zwölf Grad weniger neigen, wenn er an ihnen vorübergeht, und weshalb ihm die Damen ihre Handrücken mit leicht gerümpfter Nase hinhalten, als wären sie benommen von einem unangenehmen Geruch. Als würde den Rodríguez noch immer ein leichter Mief nach Dschungelpfütze anhaften, nach Blut von toten Hinterwäldlern, nach vulkanisiertem Kautschuk, nach Paraffin; jenem Paraffin, das er dreißig Jahre zuvor von Tür zu Tür für elende drei Viertel Sol die Unze verkaufte.

Dies ähnelt am ehesten einer Freundschaft zwischen Klassen: ein Reicher mit illustrem Stammbaum und ein noch Reicherer, dessen Vorfahren arm waren. Und vielleicht ist es geradezu übertrieben, dieser Frage so viele Worte zu widmen, denn die Protagonisten selbst scheinen sie nicht besonders ernst zu nehmen. Vergessen wir nicht, dass sie glauben, sie seien Dichter. Dieser Glaube lässt sie leicht über dem Boden schweben, verleiht ihnen eine zerstreute Abneigung gegen alles, was an die Wirklichkeit und ihre banalen Konventionen erinnert.

Weshalb also sollte es sie kümmern, dass Carlos’ Familie keine berühmten Toten und die von José zu viele hat … Die Dichtung, die Kunst, ihre Freundschaft, vor allem ihre Freundschaft, stehen über all dem. Das zumindest gäben sie zur Antwort, würde sich irgendjemand die Mühe machen, sie zu fragen. Darauf legen wir keinen Wert, würden sie sagen, sehen Sie nicht, dass wir Dichter sind. Und diese Antwort müsste genügen.

Sie müsste genügen, aber nicht überzeugen. Denn selbstverständlich ist auch ihnen der Klang des Namens und der Abstammung wichtig – wie gesagt, wir befinden uns im Jahr 1904, und es könnte gar nicht anders sein –, selbst wenn sie es nicht zugeben, selbst wenn es ihnen vielleicht nicht einmal bewusst ist. Vielleicht liegt es daran, dass die Meinung von José, dem Neffen des berühmten José Gálvez Moreno, stets ein wenig vernünftiger erscheint als die Ansichten seines Freundes, seine Gedichte vollendeter, seine Witze über Peruaner, Chilenen und Spanier lustiger und seine Freundinnen hübscher. Zuweilen könnte man meinen, er sei auch größer, hätte nicht vor einiger Zeit ein unparteiischer Zollstock offenbart, dass Carlos ihn um fast zwei Zentimeter überragt. Es war José, der Georgina erschuf – Carlos stimmte lediglich lächelnd, verwundert und vollkommen betrunken zu –, und er wird auch derjenige sein, der ihren Tod beschließt, sollte ihr eines Tages, Gott behüte, etwas zustoßen müssen. Und was könnte Carlos dann tun, außer zuzustimmen, und sei es gegen seinen Willen. Nur ein weiteres Glas Pisco leeren und auf die ausgezeichnete Idee seines Freundes anstoßen. Was taugen die Ansichten des Sohnes eines Kautschukbauern, wenn alle berühmten Toten eines Landes gegen ihn sind.

Die folgenden Briefe erfordern mehr Entwürfe als der erste. Es steht mehr auf dem Spiel, als bloß einen Gedichtband zu bekommen: Wenn Juan Ramón nicht antwortet, ist die Komödie zu Ende. Und aus irgendeinem Grund erscheint diese Komödie ihren Urhebern plötzlich sehr ernst. Vielleicht lachen sie deshalb kaum noch, und Carlos macht ein gravitätisches Gesicht, wenn er den Füllfederhalter ergreift.

Tatsächlich gibt es aber überhaupt keinen Grund, anzunehmen, die Korrespondenz könne so bald abbrechen. Juan Ramón antwortet stets umgehend, manchmal schreibt er in einer einzigen Woche sogar zwei oder drei Briefe, die später auf ein und derselben Transatlantik-Passage zusammen zurück nach Lima reisen werden. Auch er scheint daran interessiert zu sein, dass der Scherz noch viele Kapitel andauert, wenn auch auf Kosten kurzer und wenig feierlicher Briefe. Zugegeben, manchmal sind sie langweilig, im Großen und Ganzen aber ebenso juan-ramónesk wie die Traurigen Arien oder seine Veilchenseelen, und das genügt, damit José und Carlos sie auswendig lernen und an langen Nachmittagen kultisch anbeten. Manchmal sind die Briefe voller Tintenflecke und Rechtschreibfehler, doch sogar das verzeihen sie. Juan Ramón, in seinen Versen so vollendet, so inteligent – mit einem ›l‹ –, auch er muss dann und wann etwas durchstreichen, auch er kommt durcheinander, verwechselt einfache und doppelte Konsonanten, ß und ss und vergisst schon einmal ein h, wo er es nicht hört.

Worüber sprechen sie in diesen ersten Briefen?

Ehrlich gesagt, ist das niemandem besonders wichtig. Nicht einmal ihnen selbst. Sie verwenden viel Zeit darauf, sie zu verfassen, zu versiegeln, zu verschicken; Zeit, in der sie Heilmittel gegen Grippe austauschen, oder von der Kälte und der Hitze in Madrid sprechen, von Chopins Nocturnes, oder von den Unannehmlichkeiten der Reisen im Automobil. Es ist verlorene Zeit, mit der man sich am besten so wenig wie möglich aufhält. Wichtig, sogar sehr wichtig sind jedoch die Anfänge und Enden dieser Briefe. Die Art und Weise, wie sie in gerade einmal vierzehn Briefen unauffällig vom Señor Don Juan R. Jiménez und der Señorita Georgina Hübner zum Lieber Freund und Freundin übergehen. Ganz zu schweigen von den Verabschiedungen: Ihre ergebenste und wahre Dienerin; mit freundlichen Grüßen; mit lieben Grüßen; mit innigen Grüßen; mit zärtlichen Grüßen. Dieser Übergang, vollzogen in siebenhundertzweiundvierzig Zeilen Korrespondenz, die einer Unterhaltung in einem Café mit der Dauer von ungefähr einer Stunde und fünfzig Minuten entsprechen, mag wie eine zu brüske Wendung anmuten. Wenn wir aber berücksichtigen, dass nur zwei Schiffe pro Monat die Strecke Lima-La Coruña befahren, und dass jedes Schiff selten mehr als zwei oder drei ihrer Briefe transportiert, dann wird uns klar, dass es sich eher um eine langsame, ganz der Epoche entsprechende Beziehung handelt. Sie erinnern ein wenig an jene Liebenden, die ein halbes Jahr brauchen, um die Erlaubnis zu erhalten, durch den Zaun miteinander zu sprechen, und mindestens ein ganzes, bis sie sich einen ersten keuschen Kuss auf die Lippen geben.

Selbstverständlich ist das Wort Liebe noch nicht zwischen ihnen gefallen.

Jedes Mal, wenn er in seiner Korrespondenz den Poststempel der Überseefrankierung entdeckt, trifft José sich so schnell wie möglich mit Carlos. Sie haben beschlossen, die Briefe immer gemeinsam zu lesen – letzten Endes sind sie beide Georgina –, und Gálvez hält sein Versprechen skrupulös ein, auch wenn er hin und wieder der Verlockung nachgibt, den Umschlag ein kleines bisschen anzureißen. Sie rezitieren die Sätze des Meisters in den Bänken der Universität oder im Billardsaal des Club de la Unión, und anschließend verbringen sie den Nachmittag in der Mansarde und diskutieren über jedes einzelne der Worte seiner Antwort. Darüber wird es oft Nacht, und während sie den endgültigen Entwurf eines neuen Briefes beenden, kreisen die Mücken immer enger um die Petroleumlampe, bis sie am Ende von der Flamme geröstet werden.

Beide denken sie unentwegt an Juan Ramón, aber nur Carlos achtet auch auf Georgina. Für José ist sie nur ein Vorwand, ein Werkzeug, das ihm dazu dient, die Schublade seines Schreibtischs mit Reliquien zu füllen. Ein gewidmetes Porträt, zum Beispiel. Oder ein unveröffentlichtes Poem des Dichters. Das ist es, was ihn bei jedem Brief umtreibt: wie er noch mehr Exemplare bekommen kann, noch mehr Autogramme, noch mehr Juan Ramón. Carlos indessen bemüht sich, Georgina mit einer Persönlichkeit und einer Biografie auszustatten. Man könnte sagen, er beginnt zu ahnen, dass seine Figur am Ende zur Hauptdarstellerin seiner eigenen Geschichte werden wird. Also wählt er die Worte, die sie in jedem Brief benutzt, mit Bedacht; mit derselben Sorgfalt, die er seiner Kalligraphie zuteilwerden lässt. Er übernimmt auch die Wahl der Adverbien, die Setzung der Auslassungspunkte, der Ausrufezeichen. Er sagt: Überlass mir das, du bist ein Einzelkind und verstehst die Sprache der Frauen nicht. Ich habe zum Glück drei Schwestern und gelernt, ihnen zuzuhören. Frauen seufzen oft, und jedes Mal, wenn sie seufzen, setzen Sie Auslassungspunkte. Sie übertreiben oft, und wenn sie übertreiben, setzen Sie ein Ausrufezeichen. Sie fühlen viel, und deshalb benötigen alle ihre Gefühle ein Adverb. José lacht, aber er lässt ihn machen; und er lässt es zu, dass der Freund seine allzu männlichen Sätze streicht oder ausschmückt. Natürlich reißt er manchmal Witze darüber. Er nennt ihn Carlota und sagt ihm, dass er ihn heute Nacht sehr hübsch findet. »Geh zum Teufel«, murmelt Carlota – murmelt Carlos –, ohne vom Papier aufzublicken.

Natürlich geht José nicht. Keiner von beiden rührt sich. Zuerst müssen sie die Antworten auf viele Fragen besprechen. Ist Georgina womöglich eine Waise? Hat sie einen Tropfen Indioblut in den Adern oder die marmorne Hautfarbe der Kreolen? Wie alt ist sie genau, und was will sie von Juan Ramón? Sie wissen es nicht, so wenig, wie sie wissen, was sie da treiben und warum es wichtig ist, dass Juan Ramón erneut antwortet. Warum vergessen Sie nicht einfach alles und kehren zu ihren Pflichten zurück: für die nicht bestandenen Juraseminare zu lernen und eine Frau aus Fleisch und Blut zu finden, die sie zum Frühlingsball mitnehmen können.

Doch aus irgendeinem Grund schreiben sie noch lange nach Einbruch der Nacht weiter. Sie scheinen nicht zu wissen warum, und falls sie es wissen, sagen sie es nicht.

Sie halten sich für Dichter.

Sie lernten sich in der San-Marcos-Universität kennen, in jenem entscheidenden Alter, in dem die Entstehung eigener Ideen und das Wachstum der ersten Barthaare Hand in Hand gehen. Für beide war eine dieser ersten Ideen – der widerspenstige Schnurrbart würde viel später folgen – die Dichtung. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sämtliche Entscheidungen über ihr Leben in den Händen ihrer Familien gelegen, angefangen bei der Einschreibung in die juristische Fakultät bis hin zum mühseligen Klavierunterricht. Beide trugen sie Anzüge aus europäischen Katalogen, beteten dieselben Höflichkeitsfloskeln nach und hatten gelernt, auf Gesellschaften in ähnlichen Begriffen über den chilenischen Krieg, die Unanständigkeit gewisser moderner Tänze und die desaströsen Folgen des spanischen Kolonialismus zu urteilen. Carlos würde Anwalt werden, um sich den Angelegenheiten seines Vaters zu widmen, und José, nun gut, es genügte, dass José irgendeinen Abschluss machte, damit die Verbindungen seiner Familie den Rest erledigten. Ihre Liebe zur Dichtung jedoch war ihnen von niemandem auferlegt worden und hatte nicht den geringsten Nutzen. Sie war die erste Sehnsucht, die ihnen ganz allein gehörte. Nichts als Worte, aber immerhin Worte, die von anderswoher zu ihnen sprachen, aus einer Welt jenseits ihrer bequemen Gefängnisse aus Spanischen Wänden und Sonnenschirmen, Havanna-Zigarren im Gästesalon und dem um halb neun servierten Abendmahl.

Die Wahrheit ist, dass sie keine Dichter sind, zumindest noch nicht, doch gemeinsam haben sie gelernt, sich zu verhalten, als wären sie Dichter, und das ist natürlich beinahe so, als wären sie tatsächlich welche; dienstags nehmen sie an den literarischen Zirkeln von Madame Linard teil und donnerstags an denen des Club de la Unión; sie klopfen den Staub von jahrhundertealten Schals und Hüten und Joppen aus den Schränken, um sich damit in den Nächten als Baudelaire zu verkleiden; immer dünner werden sie, furchtbar dünn nach Meinung ihrer Mütter. In einer Spelunke in der Jirón de la Unión verfassen sie gemeinsam mit drei anderen Studenten ein feierliches Manifest, in dem sie schwören, so lange sie leben, kein Juraseminar mehr zu besuchen, um nicht der Mittelmäßigkeit anheimzufallen. Hin und wieder schreiben sie sogar: erbärmlich schlechte Gedichte, Verse, die sich wie eine miserable Übersetzung von Rilke lesen oder, was schlimmer ist, wie eine noch miserablere Übersetzung von Bécquer. Egal. Gut zu schreiben ist ein Detail, das sich mit Sicherheit später noch einstellen wird, durch die Baudelaire-Kleidung, den Rimbaud-Absinth oder den Mallarmé’schen Oberlippenbart mit den gestärkten Spitzen. Und mit jedem Vers gehen die von den Eltern geerbten Überzeugungen mehr und mehr in die Brüche; so beginnen sie zu denken, dass Chile im Salpeterkrieg vielleicht doch Recht hatte, und dass die Unsittlichkeit womöglich eher darin besteht, mitten im 20. Jahrhundert immer noch die Tänze ihrer Großeltern zu tanzen, und dass der spanische Kolonialismus, also gut, im Fall des spanischen Kolonialismus müssen sie sich eingestehen, dass sie nach wie vor so denken wie ihre Eltern, auch wenn es weh tut.

Seit wann halten sie sich für Dichter? Sie wissen es selbst nicht so genau. Vielleicht waren sie es – ohne es zu wissen – schon immer, und diese Möglichkeit beschert ihnen die Freude, die trivialen Anekdoten ihrer Kindheit erneut und mit anderen Augen Revue passieren zu lassen. Brachte Carlos sein erstes Gedicht nicht an jenem Morgen während eines Ausflugs aufs Land hervor, als er seine Erzieherin fragte, ob auch die Berge Papas und Mamas hätten? Und der Blick, mit dem José so gern in die Abenddämmerung von Tarma schaute, kaum dass er die ersten Wörter sprechen konnte, war das etwa nicht schon der Blick eines Poeten? In diesen Momenten der Offenbarung können sie nicht umhin zu gestehen, dass sie tatsächlich und zweifellos seit jeher Dichter waren, und dann beschäftigen sie sich stundenlang damit, in ihren Biographien nach Anzeichen von Genialität zu suchen, die in den Leben der ganz Großen stets aufscheinen, und sie klopfen sich gegenseitig auf die Schulter, wenn sie erneut fündig geworden sind, und gestehen sich in langen piscogetränkten Nächten gegenseitig die Bewunderung für die Reime des anderen. Und mit einem Mal sind sie die leibhaftige Zukunft der peruanischen Dichtung, die Fackel, die den Weg zu neuen literarischen Traditionen erleuchten wird; vor allem der Enkel des berühmten José Gálvez Egúsquiza, dessen Licht aus irgendeinem Grund stets ein wenig heller zu brennen scheint.

Die Mansarde ist in einem der vielen Gebäude, die die Familie Rodríguez im Viertel San Lázaro besitzt; alte Liegenschaften, mit deren Instandhaltung sie sich nicht belasten, und die so aussehen, als wären sie kurz davor, unter dem Gewicht der Mieter zusammenzubrechen. Die übrigen Etagen haben sie an ungefähr dreißig chinesische Einwanderer vermietet, die in der Nudelfabrik angestellt sind, die Mansarde aber ist selbst für diese Zwecke zu schäbig. Nicht einmal diese Gelben, die auf den Schiffen, auf denen sie über den Pazifik kamen, bis über den Rand der Reling gequetscht schliefen, wollen sie. Und deshalb können José und Carlos sie nach Lust und Laune benutzen.

Die Fenster sind zerbrochen und zwischen den Dielen sind Ritzen, breit wie eine Sol-Münze. Nach Jahren des Leerstands ist das Gebälk morsch und abgerissen und irgendwo hat auf wundersame Weise eine Katze überlebt – obwohl man munkelt, dass die Chinesen, die offenbar großen Hunger leiden, Katzen essen. Alles in allem ist es der perfekte Ort für zwei junge Männer, die gelangweilt sind von Himmelbetten und davon, die Angestellten zu ermahnen, weil die silbernen Messkännchen wieder einmal nicht poliert sind.

Sie sind ganz angetan von diesem Gefühl der Armut und wandeln zwischen den Leinensäcken und dem verstaubten Mobiliar wie glückliche Überlebende eines Schiffbruchs.

Genau dort kam Georgina zur Welt. Es war eine Geburt voll von Worten und Gelächter, nur schwach beleuchtet von den Flaschen, die als provisorische Kerzenhalter dienten.

Sie kommen jeden Nachmittag in die Mansarde. Es gefällt ihnen, sich in den Vierteln der Armen zu zeigen und etwas später Kurs zu nehmen auf dieses Gebäude, das aussieht, als hätte man es einem Roman von Émile Zola entnommen. Aus dem Innern dringen unbedeutende Geräusche, gedämpft von fadenscheinigen Vorhängen und Markisen aus Reispapier. Zwei Frauen, die sich um eine Portion Suppe streiten. Ein langer Monolog, heruntergeleiert in einer fremden Sprache, ähnlich der Rede eines Narren oder einem Gebet. Das Weinen eines Kindes. All das nehmen sie mit einer Mischung aus Gier und Vergnügen auf, auf der Suche nach den Spuren der Poesie, wie sie erstmals Baudelaire fand, vielleicht aber beschränken sie sich auch nur darauf, in der Armut die Spuren Baudelaires selber zu suchen. Ihre Besuche versetzen den Nachtwächter in Alarm, der, kaum dass er ihnen die Tür öffnet, immer wieder ausruft: Señorito Rodriguez, Señorito Gálvez, geben sie sehr acht auf das, was Ihnen am liebsten ist. Er hat Sorge, dass die Balken des Dachbodens einstürzen und sie sich verletzen könnten, natürlich, vor allem aber ist er auf vage und rätselhafte Weise beunruhigt von der Gefahr, die die Chinesen selbst darstellen.

José und Carlos lachen. Sie wissen genau, dass die Bewohner harmlos sind: Männer und Frauen mit traurigen Gesichtern, die es nicht einmal wagen, den Blick zu heben, wenn man ihnen am Treppenabsatz begegnet. »Aber das sind doch ganz friedliche Leute, Mensch«, antworten sie, immer noch lachend, von der Treppe. Der Nachtwächter schnalzt mit der Zunge. »Viel zu friedlich«, fügt er hinzu, bevor er sich verabschiedet. »Viel zu friedlich …«

An manchen Abenden klettern sie aus der Mansarde auf das Dach. Sie lockern die Halstücher und trinken aus derselben Flasche. Unten drängen sich die Häuser, die bescheidenden Plätzchen, die Türme der Kathedrale. Noch weiter entfernt die düstere Silhouette der San-Marcos-Universität, an der sie wieder einen Tag gefehlt haben. Sie sehen, wie die Limeños hastig und krumm umhergehen, beinahe immer bedrückt von irgendeiner Last, deren Wesen sie weder verstehen noch beurteilen können. Bestimmt bieten sie ein seltsames Schauspiel, mit ihren Anzügen aus weißem Leinen, verdreckt vom Staub, und mit ihren Spazierstöcken, die über dem Abgrund baumeln, wie ruinierte Millionäre, die drohen, sich ins Leere zu stürzen. Aber niemand sieht sie. In den Elendsvierteln laufen alle mit stur auf den Boden geheftetem Blick herum und schauen höchstens dann einmal auf, wenn sie den lieben Gott darum bitten, ihnen irgendeine Gnade zu gewähren, was er selten tut.

Während sie auf diesem Dach sitzen, betreiben sie ihre Lieblingsspiele. Das erste besteht darin, zu vergessen, dass sie sich in Lima befinden und teure Anzüge tragen. Mit einem Federstrich lassen sie die Glockentürme im Kolonialstil verschwinden, die Lehmwände, die gelben Hügel, die Menschen, vor allem diese elenden Menschen mit ihrer schlechten Angewohnheit, die Fantasien der beiden zunichtezumachen. Und auf einmal sind sie in Paris, zwei heruntergekommene Dichter, die nichts zu beißen haben. Die besten Gedichte des Jahrhunderts haben sie verfasst, doch niemand weiß es. Unglaubliche Verse, die sich öffnen wie exotische Blüten und anschließend inmitten der Hässlichkeit aller Dinge verwelken. Letzte Woche gaben sie ihre letzte Kupfermünze für einen Stapel Papier aus. Gestern brachten sie ihre Schreibfeder und ihr Pult ins Pfandhaus. An genau diesem Morgen haben sie einem Lumpenhändler ihre letzten Bücher verkauft, und mit dem einen Franc, den er ihnen dafür gezahlt hat, ach, mit jenem Franc haben sie einen letzten Wunsch vom Pont Neuf geseufzt und anschließend ohne jede Hoffnung zugeschaut, wie er in der Seine versank. Blub. Sie stellen sich vor, dass es kalt ist. Nachts wird der Schnee Paris erneut in sein weißes Kleid hüllen, und sie werden sich dem Trauerspiel hingeben müssen, ihre Gedichte eines nach dem anderen zu verbrennen, um den Winter zu überleben.

Ihr eigenes Elend rührt sie, so lange es dauert, was meist nur sehr kurz ist, denn es handelt sich um ein aufwendiges Traumgebilde, das unter größter Anstrengung aufrechterhalten werden muss. Lima ist ein für die Vorstellungskraft undurchdringlicher Ort, und früher oder später spüren sie die Hitze ihres ewigen Sommers, oder sie erhaschen das Blinken eines goldenen Manschettenknopfs an einem ihrer Ärmel. Oder der Wagen der Familie Rodríguez bricht lärmend in die ungeteerten Straßen ein, und vom Kutschblock beugt sich der Chauffeur nach vorn, um zu plärren: »Señoritooo! Ihr Herr Papá ruft Sie zum Abendessen!« Und schon löst sich der Traum in Nichts auf, wie die Münze, die sie nie in die Seine geworfen haben, und mit einem Mal sehen sie sich, wie sie sind: zwei junge Herren, die das Elend von weit oben betrachten.

»Scheißstadt«, murmelt José, während er sich für den Abstieg bereit macht.

Aber das Rollenspiel ist ihnen am liebsten. Es begann eher zufällig, während einer Seminarsitzung in Wirtschaftsrecht, als José bemerkte, der Dozent sehe genauso aus wie Ebenezer Scrooge aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte, einschließlich der Brille. Sie lachten so ausgiebig, dass Don Nicanor– Mr.Scrooge – den Unterricht unterbrach und sie vor jene Tür setzte, deren Schwelle sie ohnehin nur selten überschritten. Im Hof fuhren sie fort mit ihrem Spiel. Der Professor für Römisches Recht war der gehörnte Ehemann von Ana Ozores aus Claríns Die Präsidentin. Der greise und fast schon mumifizierte Rektor war Tolstois Iwan Iljitsch kurz vor seinem Tod – oder vielleicht, fügte José boshaft hinzu, Iwan Iljitsch nach seinem Tod. Die phänomenal fettleibige Witwe des Großindustriellen Francisco Stevens war eine in die Jahre gekommene Madame Bovary. »Aber Emma begeht doch Selbstmord, als sie noch sehr jung ist«, protestierte Carlos. »Genau«, parierte Gálvez. »Die hier ist eine Bovary, die sich nicht umbringt. Eine, die den schlechten Geschmack hat, ihre Schönheit zu überleben, um fett und lächerlich zu werden.«

Mit der Zeit weitet sich das Spiel auf alle aus: Freunde, Familienmitglieder, literarische Rivalen, Unbekannte. Sogar Tiere, denn, obwohl sie den Kater, der in der Mansarde sein trauriges Dasein fristet, noch nie zu Gesicht bekommen haben – manchmal hören sie ihn, vielleicht weil er sich unter verwandten Seelen wähnt, irgendwo miauen –, sind sie überzeugt, es müsse sich um eine Figur von Poe handeln.

Von der Höhe des Daches aus teilen sie mit bedächtiger Willkür die Menschen, die wie Ameisen zu ihren Füßen wimmeln, in Figuren aus Werken von Balzac, Cervantes oder Victor Hugo ein. Dort oben ist es leicht, sich wie ein Dichter zu fühlen: den Platz und die angrenzenden Straßen wie eine riesige Postkarte im Visier, auf der die Figuren aller Schriftsteller, die man sich nur vorstellen kann, hin und her spazieren. Die ersten Fantasien der Schulmädchen, die vor dem Eingang des Colegio de la Inmaculada Schlange stehen, schreibt ihnen Bécquer. Benito Pérez Galdós wiederum erzählt das Leben der Spießer, die hastig den Platz überqueren, welch stinklangweiliges Leben, arme Schweine, kaum anders als Benito el Garbancero, der Kichererbsen- Benito selbst. Wenn du eine der Huren aus der Calle del Panteoncito bist, wird wohl Zola die tausend Gemeinheiten schreiben, die dir widerfahren, und solltest du Nonne werden, Juan de la Cruz. Den Betrunkenen, die aus den Bars taumeln, träumt selbstverständlich Edgar Allan Poe die Albträume. Den Verrückten? Dostojewski. Den Abenteurern? Melville. Den Liebespaaren? Wenn es gut läuft, Tolstoi, wenn nicht, Goethe. Den Bettlern? Das ist leicht, denn das Elend ist überall gleich: Das Leben der Bettler von Lima schreibt Dickens, aber ohne Nebel, Gogol, aber ohne Wodka, Mark Twain, aber ohne Hoffnung. Ein unerbittlicher Zufall unterscheidet die Figuren außerdem in Haupt- und Nebendarsteller, und manchmal streiten die beiden minutenlang darum, ob eine bestimmte hübsche Frau oder ein gewisser malerisch anmutender Bettler Hauptfiguren in einer Geschichte sind oder nicht. Man darf das nicht auf die leichte Schulter nehmen, denn tatsächlich sind die Hauptfiguren rar; man muss sie finden, geduldig aufspüren im Mob der Statisten, die auf ein und derselben Seite des Buches ihres Lebens auf- und gleich wieder abtreten.

Was hätten die beiden über sich selbst gedacht, hätten sie sich über jenen Platz spazieren sehen? Mit welchem Schriftsteller hätten sie ihre Schritte in Verbindung gebracht? Würden sie sich als Haupt- oder als Nebenpersonen betrachten? Das sind ganz normale Fragen, Fragen, die sie sich selbst stellen sollten, ohne dabei irgendeine Hilfe zu benötigen. Doch so seltsam es auch erscheinen mag – sie haben es noch nicht getan. Vielleicht, weil ihnen nicht eingefallen ist, darüber nachzudenken. Vielleicht aber auch, weil sie spüren, dass ihr Platz irgendwie dort oben ist, nicht zu Fuß unten auf der Straße, sondern in der Höhe, über den Dächern des gewöhnlichen Lebens.

Es ist ein seltsames Spiel. Ein dummes Spiel sogar – wenn man so will –, letzten Endes jedoch angemessen für zwei junge Männer wie sie, gewöhnt daran, in allem Literatur zu sehen; gewöhnt daran, alles um sich herum genau so geschehen zu lassen, wie sie sie es zuerst in Büchern gelesen haben. Eigentlich würde es uns nicht wundern, wenn genau diese Szene – zwei Männer, die in einer Mansarde davon träumen, die ganze Welt zu beherrschen –, ebenfalls aus einem jener Romane stammte.

 

Lima, den 26. Juni 1904

Sehr geehrter Señor Jiménez,
nachdem ich den Brief an Sie mit der Bitte um Ihre
Traurigen Arien zur Post gebracht hatte, hätte ich ihn gerne zurückgenommen und zerrissen. Warum? Ich werde es Ihnen anvertrauen: Ich empfand den Schritt, den ich gemacht hatte, als nicht sehr angemessen, nicht korrekt für ein Fräulein. Ohne Sie zu kennen, ja, ohne Sie jemals gesehen zu haben, habe ich Ihnen geschrieben, Sie angesprochen. Ich wagte es, Sie in Verlegenheit zu bringen, indem ich Ihnen einen schimpflichen Gefallen abverlangte, Ihnen, der solch ein guter Mensch und mir gegenüber zu nichts verpflichtet ist …

All dies sagte ich mir ein ums andere Mal, bis es schmerzte. Wenn man, wie ich, zwanzig Jahre alt ist … denkt man überstürzt und leidet heftig! Doch glücklicherweise wurden meine rastlosen Befürchtungen ausnahmslos besänftigt und meine Zweifel völlig zerstreut, als ich Ihren aufmerksamen Brief und Ihr wundervolles Buch empfing.

Ihre tieftraurigen Verse sprechen zum Herzen und zu den harmonischen Schwingungen von Schuberts melancholischen Klängen. Ich werde stets dieser vom zarten, sanften Duft der Seele ihres Autors durchzogenen Strophen gedenken.

Würde ich Ihnen sagen, ein Teil Ihres Buches habe mir besser gefallen als ein anderer, so löge ich. Ein jeder hat seinen Zauber, seinen traurigen Ton, seine Träne und seinen Schatten …

Dies jedoch kann ich Ihnen sagen: Viele Ihrer Verse gehen mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Mir ist, als träfe ich in meiner Umgebung die Gärten, die Bäume, die Sehnsüchte an, von denen Sie in Ihren Gedichten sprechen. Als hätten Sie diese vielen schönen Gefühle hier, auf dieser Seite des Ozeans, erlitten und genossen.

Geht es Ihnen nicht auch so, wenn Sie die Welt anschauen, dass sie Ihnen erscheint, als wäre sie gemacht aus den Ingredienzien der Bücher, die Sie lesen? Haben Sie nicht auch den Eindruck, in den Passanten die Figuren bestimmter Romane wiederzuerkennen, die Geschöpfe bestimmter Autoren, die Abenddämmerungen bestimmter Gedichte? Ist Ihnen nicht manchmal, als könnten Sie das Leben lesen, wie man in den Seiten eines Buches blättert …?

Sie wollen Juan Ramón Jiménez sein.

José bewahrt jeden Brief, jede vom kostbaren Speichel des Poeten angeleckte Briefmarke wie Schätze in einer Schublade seines Schreibtischs auf. Fünf handgeschriebene Gedichte. Zwei signierte Porträts. Eine Buchwidmung in purpurner Tinte, »mit der aufrichtigsten Zuneigung« für die junge Señorita Hübner aus Lima. Glücklicherweise macht Carlos ihm keine dieser Trophäen streitig, denn José hat das Bedürfnis, sie stets in seiner Nähe zu wissen. Er kann sich nicht einmal mehr hinsetzen und ein Gedicht schreiben, ohne zuvor das Blatt zu betasten, auf dem, für einen Moment, Juan Ramóns Finger ruhten. Die Feder, mit der er Veilchenseele kritzelte, als der Dichter genau im selben Alter war wie er jetzt. So jung! Dies ist der Augenblick, sagt er sich, während er das gerippte Papier berührt, als würde er die Haut einer Frau streicheln. Und dann sitzt er an seinem Schreibtisch und wartet, umklammert fest die Feder, in der Hoffnung, es möge etwas geschehen. Doch dieses Etwas tritt nicht ein.

Ferne Gärten