9

Als ihre Schreie von den Wänden hallten, erklang das unheimliche Gelächter ein drittes Mal. Dann verstummte das Geräusch so abrupt, wie es eingesetzt hatte. Die plötzliche Dunkelheit schien die Stille zu verstärken, die Kerri mehr Angst einjagte als zuvor das Lachen.

Sie trippelte rückwärts durch den Gang, tastete mit einer ausgestreckten Hand durch die Luft und stolperte um ein Haar über Heather. Beide Mädchen quietschten verängstigt.

»Leise«, flüsterte Javier. »Hört mal.«

Das musste Kerri ihm lassen: Wenige Augenblicke zuvor, als der Durchgang plötzlich verschwunden war, hatte Javier genauso entsetzt geklungen wie der Rest von ihnen. Nun, da wieder eine unmittelbare Gefahr zu drohen schien, kehrte seine emotionslose, nüchterne Haltung zurück. Seine Stimme klang ruhig, fast unbeteiligt.

»Wo sind die?« Brett stöhnte. »Ich ...«

»Haltet euch alle an den Händen«, fiel Javier ihm ins Wort. »Heather, gib mir das Messer zurück, aber pass auf, dass du mich nicht damit stichst.«

Sie fuchtelten in der Dunkelheit umher und suchten sich gegenseitig. Eine fremde Hand schlang sich um die von Kerri. Sie fühlte sich verschwitzt an, und dicke Schwielen rieben über ihre Haut. Kerri drückte die Finger fest, um Trost zu suchen, und die andere Hand erwiderte die Geste. Dabei kratzten lange, spitze Fingernägel über ihr Gelenk. Kerri erstarrte. Brett und Javier hatten kurze Fingernägel. Heather ebenfalls. Die Freundin beklagte sich jedes Mal darüber, wenn sie zusammen mit ihr und Steph einen Wellnessausflug unternahm. Wann immer Heather versuchte, sie wachsen zu lassen, wurden die Nägel brüchig.

Die Hand drückte fester zu. Kerri kreischte. Sie versuchte, sich zu befreien, aber der Griff des Fremden verstärkte sich. Die Nägel bohrten sich in ihre Haut. In der Dunkelheit hörte sie, wie Javier, Brett und Heather verwirrt aufschrien, doch sie war zu sehr in Panik, um sie zu warnen. Der Knüppel rutschte ihr aus der anderen Hand und landete klappernd auf dem Boden. Der Angreifer riss sie mit einem Ruck nach vorn und Kerri fiel beinahe hin. Sie spürte heißen, widerlichen Atem im Gesicht, als etwas Warmes und Nasses über ihre Wange glitschte. Eine Zunge. Vor Ekel schaudernd öffnete sie den Mund, um erneut zu brüllen. Der feuchte Fortsatz schob sich zwischen ihre Lippen. Vor lauter Entsetzen biss Kerri zu.

Nun war es ihr Angreifer, der brüllte. Das tat er in kurzen, gedämpften Schüben, weil seine Zunge zwischen Kerris Zähnen festklemmte. Blut füllte ihren Mund. Übelkeit stieg in Kerri auf. Sie gab die Zunge frei und stolperte rückwärts. Irgendjemand stöhnte vor Schmerz. Sekunden später pochten Schritte durch den Flur davon, als der verwundete Angreifer flüchtete.

»Kerri?« Javiers Stimme. »Was ist?«

Sie versuchte zu antworten, brachte jedoch nur ein Heulen heraus. Mit zittriger Hand kramte sie in ihrer Tasche, holte ihr Feuerzeug hervor und zündete es an. Die Flamme flackerte. Brett, Heather und Javier starrten sie besorgt an.

»Was hast du?«, wiederholte Javier. »Was um alles in der Welt ist passiert?«

»Da ... da war etwas ... hier bei uns. Es hat mich gepackt. Zuerst dachte ich, es sei einer von euch, aber ...«

Sie konnte den Satz nicht beenden. Ihr drehte sich der Magen um. Kerri sank auf die Knie, ließ den Knopf des Feuerzeugs los, beugte sich vor und übergab sich. Von ihren Freunden vernahm sie erschrockene und bestürzte Laute, aber als sie etwas erwidern wollte, verkrampfte sich ihr Magen erneut. Durch den Gestank, der von ihrem Erbrochenen aufstieg, musste sie sich ein weiteres Mal übergeben. Javier, Brett und Heather zogen ihre Handys aus den Taschen und benutzten die Displays, um Licht zu spenden. Heather streichelte ihr über den Rücken, flüsterte beruhigende Worte und sorgte dafür, dass ihre Haare nichts abbekamen. Kerri verharrte noch einige Augenblicke und würgte. Schließlich kam sie wackelig auf die Beine und wischte sich den Mund ab.

»Bist du verletzt?«, wollte Brett wissen.

»Nein, ich ...« Hastig wandte sie sich ab und spuckte erneut.

»Tut mir leid«, sagte sie hinterher. »Ich bin nicht verletzt, aber es hat definitiv wehgetan – was immer es war. Ich glaube, ich habe der Kreatur die Zunge abgebissen.«

Sie richteten die Lichter auf den Boden und fanden münzgroße Blutflecken.

»Ich würde sagen, das hast du«, meinte Heather.

Kerri spuckte aus in dem Versuch, den grauenhaften Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Ihre Zähne, ihre Zunge und die Innenseiten ihrer Wangen fühlten sich an, als seien sie mit Schleim überzogen.

»Kann man durch eine abgebissene Zunge verbluten?«, fragte Brett, ohne den Blick von den roten Tropfen zu lösen. »Ich frage mich, wie schlimm der verletzt ist.«

»Bleiben wir besser nicht, um es rauszufinden«, gab Javier zurück. »Kommt.«

Rasch schoss er mit der Handykamera ein Foto des Gangs, dann schlich er weiter. Kerri hob den Knüppel auf und folgte mit Heather. Brett rührte sich nicht von der Stelle.

»Wartet.«

»Was ist denn jetzt wieder?«, fragte Javier, in dessen Stimme sich Verärgerung einschlich.

Brett schob seine Brille die Nase hoch. »Wir wollen doch nicht wirklich in die Richtung, oder?«

»Einen anderen Weg gibt es nicht.«

»Ja, aber was immer Kerri angegriffen hat, ist auch da langgegangen.«

»Gut«, gab Javier zurück. »Wenn es noch nicht tot ist, bringen wir zu Ende, was Kerri angefangen hat, falls wir dem Biest über den Weg laufen.«

Er setzte sich in Bewegung. Die Mädchen folgten. Seufzend trottete Brett hinter ihnen her.

Als das Feuerzeug wieder heiß wurde, steckte Kerri es zurück in die Tasche. Ohne die Flamme wirkte die Dunkelheit noch dichter. Die Mobiltelefone konnten die Finsternis kaum erhellen. Soweit Kerri erkennen konnte, gab es entlang dieses Korridors keine Räume. Nur durchgehende Wandfläche.

Javier hielt inne und starrte in die Finsternis vor ihnen. Die anderen folgten seinem Beispiel.

»Das fühlt sich nicht richtig an«, murmelte er. »Von hier zweigen keine Türen ab. Keine Zimmer. Der Gang verläuft einfach nur geradeaus. Wenn Kerris Angreifer hier entlanggekommen ist, frage ich mich, wohin er verschwunden ist.«

»Sag ich doch«, meldete sich Brett zu Wort. »Wir sollten umkehren.«

»Können wir nicht«, erinnerte ihn Kerri. »Schon vergessen? Das andere Ende des Gangs ist blockiert.«

Brett sagte nichts. Heather verdrehte die Augen.

Javier fluchte erneut auf Spanisch. »Ich weiß nicht, was wir tun sollen, Leute. Ich schlage vor, wir laufen einfach weiter. Mal sehen, wohin der Gang führt.«

Ohne ein weiteres Wort bewegte er sich wieder den Korridor entlang. Nach kurzem Zögern folgten ihm die anderen. Kerri schob die Hand in die Tasche, aber bei dem Versuch, das Feuerzeug herauszuholen, hätte sie sich fast die Finger verbrannt. Der Boden unter ihren Füßen veränderte sich, wurde uneben. Die Bretter fingen an, bei jedem Schritt zu knarren und zu ächzen. Ihr Tempo verlangsamte sich, sie schlichen beinahe auf Zehenspitzen.

Der dunkle Flur endete an drei Türen – eine unmittelbar vor ihnen, jeweils eine links und rechts davon. Alle standen sperrangelweit offen. Hinter jedem Durchgang befand sich ein weiterer fensterloser Raum voll Müll und Schutt. Kerri trat nach vorn und stellte sich neben Javier. Ihre Arme berührten sich und sie verspürte einen kurzen Anflug von Wärme. Das Gefühl beruhigte sie. Kerri sah ihn an, doch Javier schien es nicht zu bemerken. Er starrte auf alle drei Pforten. Sein Blick zuckte von einer zur anderen, als rechne er damit, dass etwas daraus hervorsprang. Als das nicht geschah, hob er sein Handy wie eine Fackel an und betrat den Raum unmittelbar vor ihnen. Er blieb stehen und drehte sich um.

»Kann ich mal dein Feuerzeug haben?«

Kerri nickte und holte es vorsichtig heraus. Javier zuckte zusammen, als seine Finger das heiße Metall berührten.

»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Es ist noch nicht abgekühlt.«

Javier steckte sein Handy ein und hielt das Feuerzeug hoch über seinen Kopf. Dann überprüfte er den Raum gründlich. Er trat um ein rostiges Stockbettgestell herum und leuchtete in die Ecken. Schließlich kehrte er in den Gang zurück.

»Menschenleer«, flüsterte er. »Aber eine Sackgasse. Kein Ausgang.«

Seine Stimme klang resigniert, als habe er nichts anderes erwartet.

»Was ist mit den anderen beiden?«, fragte Brett.

Mit finsterer Miene betrat Javier den Raum zur Rechten. Wenig später kam er heraus und berichtete dasselbe. Er gab Kerri das Feuerzeug zurück und steckte sich Daumen und Zeigefinger in den Mund.

»Hab mich ganz schön verbrannt.«

»Tut mir leid.« Sie verstaute das Feuerzeug wieder in der Hosentasche.

Kerri beobachtete, wie Javier in den dritten Raum ging. Er zog sein Handy heraus und hantierte damit, während er sich langsam vorwärtsbewegte. Er hatte sich erst wenige Meter in die Dunkelheit vorgewagt, als plötzlich der Boden unter seinen Füßen verschwand. Im einen Moment war er noch da, sah sich in der Kammer um und klappte sein Handy auf, im nächsten stürzte er in die Tiefe, als habe das Haus einen Schlund geöffnet und ihn verschluckt. Ihm blieb nicht einmal Zeit, um zu schreien. Als einziges Geräusch erfolgte ein krachender Aufprall. Für Kerri hörte es sich an, als zerbrächen tausend Fensterscheiben.

Ein Herzschlag verstrich. Ein zweiter.

Dann fing Javier zu brüllen an.

Japsend drängte sich Heather an Kerri vorbei und stürmte durch die Tür. Gleichzeitig gab Brett hinter ihnen ein Geräusch von sich und ein lauter, dumpfer Schlag ertönte. Kerri sprang vor, packte Heather, schlang einen Arm um ihre Taille und zog sie zurück. Heather wehrte sich und rief nach Javier.

»Hör auf!«, warnte Kerri. »Lauf da nicht rein.«

»Hände weg!«, brüllte Heather. »Lass mich los! Er ist verletzt!«

Kerris Griff verstärkte sich. »Das ist eine Falle. Irgendetwas stimmt nicht mit dem Boden. Wir müssen vorsichtig sein.«

So plötzlich, wie Javiers Schreie eingesetzt hatten, verstummten sie. Er rief nicht länger nach den anderen, bat nicht länger um Hilfe.

Kerri fand die abrupte Stille noch erschreckender als vorher das Gebrüll.

Heather versuchte sich loszumachen, aber Kerri bekam ihren Blusenzipfel zu fassen und zerrte daran.

»Hör auf mich«, sagte sie eindringlich. »Pass auf, wo du hintrittst.«

Dann begann Brett, mit schrill anschwellender Stimme zu schreien.

»Nehmt es weg von mir ... Oh Gott, nehmt es verdammt noch mal weg!«

Kerri wirbelte herum, abgelenkt von seinem panischen Zetern. Heather riss sich endgültig von ihr los und rannte los, um Javier zu helfen. Kerri bekam es kaum mit. Javier und Heather galt nicht mehr ihr Hauptaugenmerk. Stattdessen starrte sie vor Grauen wie gebannt auf das, was sich vor ihr abspielte. Ihr Gehirn brauchte Zeit, um es zu verarbeiten. Fast wünschte sie, ihre Augen hätten sich nicht an die Düsternis angepasst und sie müsste blind umhertasten, denn dann wäre ihr dieser Anblick erspart geblieben.

Brett kauerte auf allen vieren mitten im Gang, die Lippen schmerzverzerrt über die Zähne zurückgezogen. Ein Schemen klammerte sich an seinem Rücken fest und versuchte, ihn zu Boden zu drücken. Kerri kniff die Augen zusammen, um deutlicher zu erkennen, was ihn erwischt hatte. Die Arme und Beine der Gestalt wirkten im Vergleich zum Körper völlig unproportional. Brett schlug wiederholt auf die Kreatur ein, doch jedes Mal wurde er dabei von ihr zu Boden gerammt. Seine Brille, sein Mobiltelefon und die Glasscherbe, die er gehalten hatte, lagen in der Nähe verstreut, aber außer Reichweite. Blut strömte aus seiner Nase. Sein Blick heftete sich auf Kerri.

»Kerri ...«

Bevor Brett weitersprechen konnte, packte die Gestalt eine Faust voll Haare und stieß sein Gesicht nach unten. Bretts Schreie wurden gedämpft. Die Kreatur auf seinem Rücken schnatterte wie wahnsinnig, brabbelte unsinnige Worte und gab verstörende Geräusche von sich.

Kerri schwang den Knüppel und versuchte, bedrohlich zu wirken.

»He!«, brüllte sie.

Die Gestalt klammerte sich weiter an Bretts Rücken fest, aber sie hörte auf, ihn zu schlagen, und schaute zu ihr auf. Weiße Zähne blitzten in der Schwärze auf.

»Lass ihn los«, verlangte Kerri und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen.

Der Angreifer spuckte sie an. Etwas Warmes, Nasses und Klebriges klatschte auf ihre Wange, glitt langsam seitlich an ihrem Gesicht hinab und hinterließ eine schneckenartige Spur. Angewidert wischte Kerri das Zeug mit den Fingerspitzen weg. Es stank widerwärtig.

Brett nutzte die vorübergehende Ablenkung seines Angreifers aus und stemmte sich hoch. Nach wie vor kniend fasste er hinter sich und schlug der Kreatur gegen den Kopf. Es musste wehgetan haben, denn Brett riss die Hand ruckartig zurück und schüttelte die Finger, als seien sie mit einem Mal gefühllos. Die Gestalt plumpste von seinem Rücken und wankte. Dann stieß sie einen schrillen, frustriert klingenden Laut aus und watschelte wieder vorwärts. Die Bewegungen wirkten fahrig, spasmisch. Trotzdem bewegte sich die Kreatur schnell. Mit einem Aufschrei preschte auch Kerri auf Brett zu und hoffte, ihn als Erste zu erreichen.

Brett brüllte.

Als Kerri den Abstand verringerte, konnte sie endlich im Schein von Bretts Handy-Display einen deutlicheren Blick auf ihren Gegner erhaschen. Wie beim vorherigen Angreifer handelte es sich auch diesmal um einen Liliputaner, wenngleich um einen noch abstoßenderen. Die Gestalt war nackt, abgesehen von einem dreckigen Fetzen Stoff, der aus der Vagina baumelte.

Frisches Blut durchtränkte den Lappen. Voll Abscheu erkannte Kerri, dass er als eine Art Tampon benutzt wurde. Der Körper der kleinwüchsigen Frau war schlank, aber muskulös, ihr Gesicht eindeutig missgebildet, so viel ließ sich trotz der Düsternis ausmachen. Die Stirn wölbte sich nach vorn, der Mund schien sich um das Gesicht zu krümmen. Die schütteren Haare hingen lang, strähnig und von Dreck verfilzt herunter, die Augen wirkten zu groß für das Gesicht, und die Pupillen füllten die Netzhäute fast vollständig aus. Die Arme der Kreatur waren länger als der Körper und von drahtigen Muskelsträngen überzogen. Im Gegensatz dazu bildeten die Beine bloße Stummel – verkümmert und nutzlos. Ungeachtet dessen bewegte sich die Missgeburt schnell. Sie tapste auf Brett zu, nahm dabei die Arme zu Hilfe und erreichte ihn vor Kerri. Brett versuchte, sich aus dem Weg zu rollen, aber die Liliputanerin stützte sich mit einer Hand ab und schlug ihm mit der anderen gegen den Kopf. Benommen brach Brett auf dem Boden zusammen.

»Weg von ihm, du Miststück!«

Die Frau lachte Kerri aus – ein hoher, schriller Laut, der Heathers Rufe aus der finsteren Kammer übertönte.

Unvermittelt spürte Kerri einen leichten Luftzug im Gesicht. Sie schaute nach oben. Direkt über Brett klaffte ein Loch in der Decke – ein dunkler Fleck, schwärzer als der Rest des Korridors. Eine geöffnete Falltür hing herab. Kerri stieß ein verängstigtes Grunzen aus, als ihr dämmerte, was geschehen war. Ihre Verfolger hatten den Gang versiegelt, die Lichter ausgeschaltet und gewartet, bis sie die Falltür passiert hatten. Dann hatte sich die Liliputanerin von der Decke direkt auf Brett fallen lassen.

Die Zwergin knurrte und heftete den Blick auf Kerris Waffe.

»Weg von ihm«, wiederholte Kerri.

Bevor sie zuschlagen konnte, kam Brett zur Besinnung und ließ die rechte Hand auf seine Angreiferin zuschnellen. Seine Bewegungen wirkten jedoch kraftlos. Er schrie auf und Kerri stellte fest, dass seine Stimme undeutlich klang. Seine Hand streifte die Schulter der Liliputanerin. Die Frau hechtete vorwärts. Ihr weit aufklaffendes Gebiss schloss sich um Bretts Finger.

Brett versuchte, die Hand zurückzuziehen, und stöhnte angewidert. Kerri japste. Sie wusste, was gleich passieren würde – so sicher, als sehe sie eine bereits abgefilmte Szene vor sich. Noch während sie mit dem Knüppel ausholte, ahnte sie, dass ihre Hilfe zu spät kam.

Die Frau biss zu. Blut quoll aus ihren Mundwinkeln und strömte Bretts Unterarm hinab. Er kreischte und riss die Augen weit auf. Die dicken Lippen im Gesicht der Liliputanerin bebten, dann zuckte die Frau nach hinten und schüttelte den Kopf wild hin und her. Trotz ihrer eigenen Schreie hörte Kerri ein Knirschen, als Bretts Finger brachen.

Brett heulte auf. Seine Stimme stieg in Oktaven an und hallte von den kahlen Wänden und von der Decke wider, während die Liliputanerin den Kopf weiter heftig hin und her riss und an der Beute zwischen ihren Kiefern zerrte, bis sich die Finger schließlich von Bretts Hand lösten.

Die Zwergin knurrte erneut. Kerri rückte näher an sie heran und konnte das schattige, entstellte Gesicht deutlich sehen. Im Licht des Mobiltelefons wirkte es grell. Die Kreatur starrte sie finster an, während sie kaute. Dabei seufzte sie, genoss ihr Mahl unverkennbar. Ein schwarzer Speichelfaden troff aus dem offenen Schlund.

Die Zähne der Frau mahlten Fleisch, Knorpel und Knochen zu Brei. Ihre Kehle wölbte sich, als sie schluckte.

Brett zappelte auf dem Boden, die Zähne zusammengebissen. Seine Augen rollten wild in den Höhlen hin und her. Seine restlichen Finger krallten sich ins Holz der Bretter. Blut spritzte aus seinen Wunden, rann an Hand und Unterarm entlang, während er zuckte und um sich trat. Er schrie nicht, doch Kerri sah, dass er es versuchte. Die Stränge seiner Halsmuskeln traten hervor, sein Mund stand weit offen, aber es kam nur ein leises, klägliches Winseln.

Die Liliputanerin kauerte sich hin und grunzte, schien beinahe zu bellen, als sie ein weiteres Mal auf Brett losging und sich mithilfe der zu langen Arme auf ihn zubewegte. Brett wollte sich mit der unverletzten Hand verteidigen, reagierte aber zu langsam. Die Kreatur trat an seine Seite. Ihr Kopf schnellte vor. Der geifernde, offene Mund zielte auf seine Nase.

Dann schwang Kerri den Knüppel in weitem Bogen und rammte den Nagel ins Auge der Zwergin.

Diese kreischte mit einem rauen, gurgelnden Laut und wirbelte so schnell herum, dass Kerri die Waffe aus den Händen gerissen wurde. Die Liliputanerin krabbelte rückwärts. Das Holzstück baumelte an ihrem Gesicht, das hintere Ende schleifte über den Boden. Die Kreatur schwankte hin und her, dann wechselte sie die Richtung, starrte Kerri mit dem heilen Auge hasserfüllt an und mühte sich ab, sie zu erreichen. Sie stolperte über Bretts ausgestreckte Beine und schlug mit dem Gesicht voran auf den Boden. Dort blieb sie liegen und zuckte krampfhaft. Die Gedärme und die Blase leerten sich explosionsartig, bespritzten den Boden und Brett mit fauligen, gelblichen Fäkalien in der Konsistenz von Gemüsesuppe.

Kerri fasste hinab, bekam eine Handvoll der schmierigen Liliputanerhaare zu fassen und riss der Frau den Kopf nach oben. Sie hebelte den Knüppel frei. Mit ihm löste sich der breiige Augapfel und hing wie eine zerdrückte, zu große Weintraube an der Spitze des Nagels. Ein Gewebestrang streckte sich wie ein Karamellfaden aus der leeren Augenhöhle. Kerri drehte die Waffe in den Händen herum und die klebrige Faser zerriss. Krampfhaft schüttelte Kerri den Knüppel, bis der Augapfel davon abfiel. Er landete in einer Pfütze aus Exkrementen und Blut.

Kerri betrachtete die Szene vor sich und vergaß Javier und Heather, ja sogar Brett. Zitternd stand sie da, völlig gebannt von den allmählich erlahmenden Bewegungen der Liliputanerin. Erstaunlicherweise lebte sie trotz der schweren Verletzung, die sie erlitten hatte, immer noch. Die Kreatur rollte sich herum und wollte wegkriechen, versagte jedoch kläglich bei allen Bemühungen, auch nur auf die Knie zu kommen. Von Grauen erfüllt starrte Kerri hin. Die Zwergin blickte zu ihr. Das heile Auge kreiste wild, während aus der roten, wunden und leeren Höhle des anderen eine dunkle Flüssigkeit tropfte. Dann atmete die Liliputanerin ein letztes Mal schaudernd aus und blieb regungslos liegen. Ein seltsamer Ausdruck der Ruhe schien sich auf dem deformierten Gesicht auszubreiten.

Trotz allem, was die Missgeburt getan hatte, verspürte Kerri einen krankhaften Anflug von Mitgefühl.

Sie schob sich an der Leiche vorbei und kauerte sich neben Brett. Wortlos zog sie an seinem Gürtel, bis er sich von der Jeans löste, und schlang ihn um sein Handgelenk. Nach zwei kräftigen Rucken saß der Lederriemen fest und quetschte das Gewebe zusammen, bis die Haut darunter weiß wie Knochen wurde. Brett stieß einen spitzen Schrei aus, wehrte sich aber nicht.

»Bleib ganz ruhig liegen«, murmelte Kerri beruhigend. »Ich muss die Blutung stillen. Und dann muss ich Javier und Heather helfen.«

»W-w-wo ...«

»Nicht reden. Einfach liegen bleiben.«

Kerri holte Bretts Handy und Brille. Sie sah sich nach seinem provisorischen Glasmesser um, aber es musste irgendwann während des Kampfs zerbrochen sein. Nur winzige Bruchstücke waren davon übrig. Sie setzte ihm die Brille auf. Das Gestell hatte sich bei dem Angriff verbogen, weshalb es schief in seinem Gesicht hing, eine Seite höher als die andere. Im kalten Licht des Handys untersuchte sie Bretts Verletzungen. Die drei mittleren Finger der rechten Hand hatte er verloren. Rohes Fleisch und schartige Knochen lugten unter hässlichen Hautfetzen hervor. Die restlichen Finger präsentierten sich bläulich verfärbt und angeschwollen. Seine Nase hatte zu bluten aufgehört, schien auch nicht gebrochen zu sein. Allerdings bezweifelte Kerri, dass ihn das sonderlich tröstete.

Brett hustete, dann stöhnte er. Schaumiger Speichel tropfte von seinem Mundwinkel. Erneut versuchte er zu sprechen, doch Kerri legte ihm einen Finger an die Lippen. Sie reichte ihm sein Handy in der Hoffnung, dass ihn das Licht ein wenig beruhigte.

»Bleib hier. Ich bin gleich zurück. Du musst wach bleiben, hörst du? Schaffst du das? Und schrei, wenn noch mehr von denen kommen.«

Brett wimmerte, nickte aber. Mit der heilen Hand drückte er sich das aufgeklappte Handy an die Brust. Kerri war zum Weinen zumute, als sie ihn zurückließ.

Sie bahnte sich einen Weg zurück zum Ende des Flurs und spähte in den dunklen Raum. Heather kniete schluchzend auf dem Boden. Dunkle Mascaraschlieren liefen ihr über die Wangen. Kerri trat neben sie, und Heather zuckte erschrocken zusammen.

»Schon gut«, sagte Kerri. »Ich bin’s nur.«

Sie befanden sich am Rand einer tiefen Grube. Von irgendwo weit unten hörten sie Javier stöhnen. Er klang schwach und verängstigt.

Kerri beugte sich vor und untersuchte die Holzdielen. Jemand musste sie etwa anderthalb Meter von der Tür entfernt abgesägt haben. Die Falle erstreckte sich von Wand zu Wand über die gesamte Breite des Raums. Heather hielt ihr Handy über die Grube, und Kerri spähte hinab, nahm jedoch nichts außer weiterer Finsternis wahr.

»Geht es ihm gut?«, fragte Kerri. »Hat er irgendetwas gesagt?«

Heather schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich glaube, er ist bewusstlos oder so. Jedenfalls stöhnt er nur.«

Kerri beugte sich noch weiter über die Öffnung und rief nach Javier. Sie achtete darauf, nicht zu laut zu schreien – falls sich noch weitere Kreaturen in der Nähe befanden, wollte sie ihnen nicht verraten, wo sie sich aufhielten. Als Javier nicht antwortete, schaute sie zur Decke und fragte sich, ob sich dort genau wie im Gang eine Falltür verbarg. Falls ja, sah Kerri nichts davon. Der Verputz wies zwar Wasserflecken und Sprünge auf, aber es gab keine Fugen, die auf eine versteckte Klappe hindeuteten.

»Javier«, versuchte sie es erneut. »Alles in Ordnung?«

Er stöhnte lauter, dann hustete er und rührte sich in der Dunkelheit. Wieder hörte Kerri das unverkennbare Geräusch von klirrendem Glas.

»Wenn du nicht reden kannst, dann huste noch einmal, okay? Zeig uns wenigstens, dass du uns hörst. Kannst du das?«

»Ich kann euch hören.« Seine Stimme klang relativ kräftig, aber es schwangen Schmerzen darin mit. »Scheiße ...«

»Bist du verletzt?«

»Ja.« Er verstummte. Abermals klirrte Glas. »Aber ich werd’s überleben. Denke ich mal. Zumindest hab ich mir nichts gebrochen.«

»Wie tief unten bist du?«

»Keine Ahnung. Ist alles so schnell passiert. Verfickte Scheiße, ich kann euch kaum sehen. Hab dein Feuerzeug und mein Handy fallen gelassen. Das Messer hab ich auch verloren. Muss alles irgendwo hier liegen, aber ich finde es nicht.«

»Kannst du rumtasten?«, fragte Heather.

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Überall auf dem Boden ist zerbrochenes Glas. Ich sitze mittendrin. Je weniger ich mich bewege, desto besser.«

»Großer Gott ...«, stieß Heather hervor.

Kerri runzelte die Stirn. Sie suchte nach einer Idee, um ihn zu befreien.

»Sonst alles in Ordnung?«, wollte Javier wissen.

»Brett ist ziemlich schwer verletzt«, antwortete Kerri.

»Was ist passiert?« Heather schielte über die Schulter zurück in den Gang.

»Eine weitere dieser Zwergenkreaturen ist durch die Decke gekommen und hat ihn angegriffen. Er wurde gebissen und hat drei Finger verloren.«

»Scheiße!«

»Ja. Ich habe die Blutung gestillt, zumindest vorübergehend, aber es sieht nicht gut aus.«

Javier stieß einen erstickten, gedämpften Schrei aus.

»Schatz?« Heather beugte sich über den Rand des Lochs. »Was ist?«

»Ich glaube, mir ist gerade eine Ratte übers Bein gekrochen. Holt mich hier raus, ja?«

»In Ordnung«, versprach Kerri. »Halt durch.«

»Wir haben kein Seil«, gab Heather zu bedenken. »Was sollen wir tun?«

Kerri stand auf. »Zieh dich aus.«

»W-was?«

»Du hast mich schon verstanden. Zieh dich aus. Du hast es gerade selbst gesagt, Heather: Wir haben kein Seil. Trotzdem müssen wir ihn da rausholen, bevor wir noch mehr von diesen ... Kreaturen am Hals haben, was immer das für Viecher sind. Und Brett muss ins Krankenhaus.«

Ohne ein weiteres Wort begann Kerri, sich aus den dreckigen, verschwitzten, blutdurchtränkten Kleidern zu schälen. Sie waren steif und klebrig und in gewisser Weise fühlte es sich gut an, sie loszuwerden. Heather sah ihr einen Moment lang zu, dann leerte sie die Taschen und folgte ihrem Beispiel. Schlüssel und sonstige Habseligkeiten türmten sich auf dem Boden. Beide Mädchen zitterten. Gänsehaut überzog ihre Körper. Obwohl die Luft in dem verbarrikadierten Haus erstickend stand, froren sie. Als sie nur noch BH und Slip trugen, hob Kerri die abgelegten Kleidungsstücke auf und fing an, sie zusammenzuknoten.

»Seid ihr noch da?« Javier klang besorgt.

»Ja«, antwortete Heather. »Wir sind hier. Kerri macht gerade ein Seil. Wir werden dich gleich rausholen. Halt durch.«

Kerri zog an dem provisorischen Tau. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Knoten hielten, legte sie sich auf den dreckigen Boden und schob sich über den Rand der Grube vor. Dann senkte sie das Seil in die Öffnung hinab.

»Halt meine Beine fest«, forderte sie Heather auf. »Lass bloß nicht los, okay?«

»Mach ich nicht. Aber beeil dich.«

Draußen auf dem Gang stöhnte Brett.

»Javier«, rief Kerri. »Ich lasse gerade das Seil runter. Kannst du es sehen?«

»Nein ... warte! Ja, ich sehʼs. Undeutlich, aber da ist es.«

»Kommst du dran?«

»Moment.« Er grunzte. Wieder knirschte Glas. Javier fluchte laut. »Ich schaff’s nicht. Zu viele Scherben auf dem Boden. Und ich erkenne einen Scheißdreck.«

Kerri schaute über die Schulter zurück. »Heather, gib mir dein Handy.«

Heather zog es aus dem Haufen der Gegenstände auf dem Boden und reichte es Kerri. Die klappte es auf und hielt das Display über die Grube. Mit der anderen Hand umklammerte sie das Seil. Anfangs tat sich nichts. Sie senkte das Telefon tiefer und wartete, bis sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Dann sog sie scharf die Luft ein. Die Displaybeleuchtung des Handys wurde glitzernd vom Boden des Lochs reflektiert. Die Grube war tatsächlich voll mit zerbrochenem Glas – Flaschen, Glühbirnen, Fensterscheiben. Scharfe, funkelnde Scherben türmten sich mindestens 30 Zentimeter hoch. Rings um Javier schien das Glas zu bluten. Sie erkannte Schnitte, die sich an seinen Unterarmen und in seinem Gesicht abzeichneten.

»Heilige Scheiße ...«

»Was ist?«, fragte Heather und rückte ein Stück näher.

»Das mit den Glasscherben war echt kein Scherz.«

»Ja«, bestätigte Javier und sah sich in seinem Gefängnis um. »Ich muss zugeben, es ist sogar schlimmer, als ich erst dachte.«

»Wie schwer bist du verletzt?«

»Mir geht’s gut«, erwiderte er nachdrücklich. »Meine Schuhe haben das Schlimmste verhindert. Ich glaube, wenn du das Handy weiter so hältst, schaff ichʼs zum Seil rüber.«

Bretts Stöhnen drang in den Raum.

»Alles klar«, sagte Kerri. »Aber bitte mach schnell. Brett ist auch ziemlich übel dran.«

Ächzend rappelte sich Javier auf. Scherben bröckelten von seinem Körper. Kerri fiel auf, dass einige kleine Splitter aus seinen Armen ragten. Sie zuckte zusammen, als Javier sie herauszupfte und beiseite warf. Vorsichtig kämpfte er sich durch den Scherbenhaufen und packte das Seil. Kerri legte Heathers Mobiltelefon weg und wappnete sich. Sie hielt das improvisierte Tau mit beiden Händen fest, während Heather wieder ihre Beine packte.

»In Ordnung«, rief Kerri. »Legen wir los.«

»Lass ihn nicht fallen«, bat Heather.

Kerri spannte die Armmuskeln an und biss die Zähne zusammen. Javiers Gewicht hätte sie beinahe zu ihm in die Grube gezogen, doch sie schaffte es, durchzuhalten, bis er oben ankam. Er kletterte aus dem Loch und brach schwer atmend neben den beiden Mädchen zusammen. Während er seine Verletzungen untersuchte, knoteten Kerri und Heather das Seil auseinander und zogen sich wieder an. Kerri fiel auf, dass Javier selbst in dieser misslichen Lage Blicke sowohl auf ihren als auch auf Heathers spärlich bekleideten Körper warf.

»Danke«, sagte Javier, als er wieder normal atmen konnte.

»Wie schlimm ist es?«, fragte Heather und wischte ihm winzige Glassplitter aus den Haaren.

»Keine richtig tiefen Schnitte. Größtenteils Kratzer. Hätte viel schlimmer ausgehen können.«

»Lasst uns nach Brett sehen«, meldete sich Kerri zu Wort.

Sie eilten hinaus in den Korridor und knieten sich neben ihren Freund. Brett war bei Bewusstsein, litt aber offensichtlich starke Schmerzen und schien sich in einem Schockzustand zu befinden. Seine Zähne klapperten unkontrolliert, sein Gesicht schimmerte blass. Ungeachtet dessen lächelte er, als er sie kommen sah.

»Du siehst scheiße aus«, meinte er zu Javier.

»Du auch. Ich hoffe, du hast dir das Kennzeichen des Lasters gemerkt, der dich gestreift hat.«

Kerri hörte die Anspannung in Javiers Stimme, obwohl er mit Brett zu scherzen versuchte. Sein Blick heftete sich auf die drei blutigen Stumpen an der Hand seines Freundes.

Brett nickte in Richtung der Leiche der Mutantin. »Sieh’s dir ruhig selbst an. Kerri hat die Missgeburt erledigt.«

Javier richtete sich auf, starrte auf die tote Kreatur und stupste sie mit der Schuhspitze.

»Heather, mach ein Foto. Mein Handy liegt noch unten in der Grube.«

Wortlos drückte Heather auf eine Taste ihres Handy und richtete den Bildschirm auf die Liliputanerin. Kerri hielt Bretts heile Hand und sah dabei zu. Aus nächster Nähe und unter Licht wirkte die Kreatur noch grausiger als zuvor in der Düsternis. Die Haut erschien teigig und bleich, gesprenkelt mit geröteten Bereichen, offenbar ausgeprägte Ekzeme. Das verbliebene Auge war nicht nur groß, sondern durch eine längliche, haselnussbraune Netzhaut und eine ungleichmäßige Pupille auch missgebildet. Im kalten Licht wirkte die Hornhaut leicht vergilbt.

Die Nase der Frau verlief breit und flach, die Haut zog sich zu beiden Seiten zurück, um Platz für einen weitläufigen Schlitz von einem Mund und die dicken Zähne darin zu bieten. Der ebenfalls breite Kiefer stach kantig hervor. Nun verstand Kerri, weshalb die Kreatur Bretts Fingerknochen so mühelos hatte durchbeißen können. Kerris Angriff hatte jede mögliche Symmetrie im Gesicht des Geschöpfs zerstört, doch als sie es anstarrte, bezweifelte sie, dass es überhaupt für eine Symmetrie ausgelegt war. Das schüttere Haar entlang der Kopfhaut der Toten klebte an der Kieferpartie. Es ließ sich schwer abschätzen, wie alt die Mutantin gewesen sein mochte.

Dann fiel Kerri etwas anderes auf. Beim Überfall in der Dunkelheit hatte sie auf etwas gebissen. Es musste sich um die Zunge ihrer Angreiferin gehandelt haben. Doch die Zunge der Frau am Boden entpuppte sich als unversehrt. Und während die Hand, die Kerris Gelenk umklammert hatte, mit langen, krallenartigen Fingernägeln versehen gewesen war, präsentierten sich die der Leiche vor ihr stumpf und rissig.

Javier schüttelte den Kopf. »Zwerge. Riesen. Was kommt als Nächstes?«

»Bleiben wir besser nicht, um es rauszufinden«, meinte Kerri. »Jedenfalls war sieʼs nicht, die mich vorhin angegriffen hat. Also sind es mindestens fünf, wenn wir die zwei mitzählen, die wir getötet haben, und die anderen zwei, die Brett gesehen hat.«

»Brett«, flüsterte Javier. »Kannst du laufen?«

Sein Freund leckte sich über die Lippen und nickte.

»Wo ist dein Handy?«, fragte ihn Kerri.

»Ich hab’s ausgemacht und in die Tasche gesteckt«, antwortete Brett. »Ich wollte nicht, dass der Akku schlappmacht. Unter Umständen brauchen wir es später noch.«

»Also hast du hier im Stockfinstern gelegen?«

»J-ja.«

»Du Trottel.« Sie tätschelte seine Hand.

»Wir können nicht in die Richtung zurück, aus der wir gekommen sind«, sagte Javier, dessen spanischer Akzent kurzzeitig deutlicher zum Vorschein kam. »Und wir können auch nicht weiter, es sei denn, wir wollen durch ein Meer von Glasscherben schwimmen.«

»Und alle anderen Türen und Fenster sind zugemauert«, fügte Heather hinzu. »Wie also kommen wir aus diesem Drecksloch raus?«

Kerri schauderte. Heathers Stimme klang schrill und gestresst.

Brett stöhnte wieder. »Leute, ehrlich, ich brauche Verbände oder eine anständige Aderpresse.«

»Und ich brauche ohnehin deinen Gürtel«, sagte Javier zu ihm.

»Was? Warum?«, fragte Kerri stirnrunzelnd.

»Weil ich mein Messer verloren habe, eine Waffe brauche und Brett nicht in der Verfassung ist, zu kämpfen, wenn wir noch mal angegriffen werden.«

Brett kicherte und zuckte zusammen. »Tja, weißt du, ich glaube, ich brauche den Gürtel im Augenblick dringender als du, Kumpel.«

»Du kannst meinen Knüppel haben«, schlug Kerri vor.

Javier lächelte. »Nein, den behältst besser du. So, wie die da aussieht, kannst du ziemlich gut damit umgehen.«

Heather seufzte ungeduldig. »Also, wenn die Türen und Fenster alle blockiert sind, warum hämmern wir uns dann nicht den Weg nach draußen frei? Ich habe immer noch meinen Ziegelstein.«

Brett antwortete, bevor es jemand anders tun konnte. »Durch die Mauern kommen wir unmöglich durch. Nicht ohne Vorschlaghammer oder etwas Ähnliches.«

Javier starrte eine Weile auf seine Hände, dann schaute er nacheinander seine Freunde an. »Also müssen wir einen anderen Weg finden. Und ich weiß auch schon, wie.«

»Was hast du vor?« Kerri sprach leise, trotzdem klang jedes Wort angespannt. Sie hatte bemerkt, dass Bretts Atmung zunehmend unregelmäßiger wurde.

Javier sah zur Falltür in der Decke. »Da haben wir einen Durchgang, der nicht blockiert ist.«

Heather schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall.«

»Wie wollen wir Brett da hochschaffen?«, gab Kerri zu bedenken. »Sieh dir seine Hand an. Mit der kann er nicht herumkriechen.«

»Er muss aber. Oder wir verstecken ihn hier und holen Hilfe.«

»Ich komme mit«, flüsterte Brett. »Das schaff ich schon.«

»Wir sehen mal, wohin der Durchgang führt«, sagte Javier. »Dann suchen wir nach dem Keller, von dem uns Brett erzählt hat. Eine Alternative gibt es im Moment nicht. Wir müssen entweder einen Weg nach draußen finden oder etwas, das uns hilft, an den Blockaden vorbeizukommen.«

»Was ist, wenn wir alle zusammen versuchen, sie zu verschieben?«, schlug Kerri vor.

»Nein.« Javiers Stimme klang leise, aber bestimmt. »Das hab ich schon versucht. Ich glaube, irgendetwas fixiert sie.«

Hustend setzte sich Brett auf und begann, sein blutiges T-Shirt auszuziehen. »Ob mir wohl mal jemand helfen könnte?«

»Was machst du da?« Kerri versuchte, ihn gegen die Wand zu lehnen.

»Ich muss mein T-Shirt als Druckverband verwenden. Javier braucht meinen Gürtel.«

Kerri schob die Hände unter ihre Bluse und öffnete ihren BH. Sie zog ihn durch den Ärmel heraus.

»Versuch’s damit. Sollte besser dafür geeignet sein.«

Brett grinste. »Beeindruckend.«

»Ja. Tyler hat früher immer ...«

Sie verstummte, konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Es überraschte sie. Angesichts all dessen, was sich ereignet hatte, während sie in diesem Korridor eingesperrt waren, hatte sie Tyler völlig vergessen. Kerri vermutete, dass sie nach Tylers Tod kurz vor einem Nervenzusammenbruch gestanden hatte – dicht vor dem Wahnsinn. Aber hier in diesem Flur hatte sie all das verdrängt. Sie hatte die Mutantin getötet, einen Druckverband angelegt und ein Seil geknotet, Javier gerettet und anschließend einen weiteren Druckverband aus ihrem BH gebastelt, als sei sie MacGyver mit Titten. Nun verpuffte ihre proaktive Einstellung, als die Erinnerung an ihren toten Freund mit voller Wucht zurückkehrte.

»Der ist perfekt.« Javier nahm den Büstenhalter entgegen und kniete sich neben Brett. Seine Hände bewegten sich flink und geschickt, als sie das noch warme Kleidungsstück um Bretts Handgelenk wickelten und fest zusammenzogen. Kurz darauf entfernte er den Gürtel und untersuchte Bretts Finger.

»Heather, kannst du mal auf seine Hand leuchten?«

Heather hielt das Display über Bretts Hand, und sie alle beugten sich näher hin. Die verbliebenen Finger schwollen immer noch an. Kerri zuckte zusammen, als sie die Verletzung untersuchte. Sie begriff nicht, wie Javier die Wunde mit derart nüchterner Teilnahmslosigkeit betrachten konnte.

»Gut«, meinte Javier. »Die Blutung hat aufgehört. Das war eine wichtige Sofortmaßnahme, aber wenn wir dich nicht bald zu einem Arzt schaffen, hast du größere Sorgen als ein paar Finger. Du brauchst eine Blutzirkulation in der Hand, sonst verlierst du sie komplett.«

Brett räusperte sich und zog die Hand aus dem Licht. »Dann lasst uns gehen, statt dumm hier rumzusitzen.«

Sein Tonfall klang unbeschwert, dennoch hörte Kerri die Angst aus seiner Stimme heraus. Sie konnte nachvollziehen, wie er sich fühlte. Brett hatte schon immer Witze gerissen oder lässig dahergeredet, wenn er sich nervös, unsicher oder verängstigt fühlte. Diesmal verhielt es sich genauso, aber er konnte sein Entsetzen nicht wirklich überspielen. Es schwang in seiner Stimme mit, sosehr er sich auch bemühte, es zu verschleiern.

Es spiegelte ihr eigenes Entsetzen.