{5}Für meinen Enkelsohn Jim Pagnusat

{7}Teil I

Mr. Van Eyck hatte sehr viel Geld und Zeit; mit dem einen wollte und mit dem anderen konnte er nichts anfangen. An sonnigen Tagen saß er auf der Terrasse des Klubhauses und schrieb anonyme Briefe.

Über den Tisch aus Glas und Aluminium gebeugt, wirkte er sehr zielstrebig und konzentriert. Man hätte meinen können, er schreibe ein Gedicht über die Wellen, die unten gegen die Kaimauer klatschten, oder über die hoch oben dahinsegelnden Möwen, die sich als träge weiße Fische in den Tiefen des Schwimmbeckens spiegelten. Doch Mr. Van Eyck nahm weder die Geräusche des Meeres noch den Anblick der Vögel wahr. Je freundlicher das Wetter, desto boshafter wurde der Inhalt seiner Briefe. So virtuos wie eine Schlittschuhläuferin über das Eis glitt und wirbelte seine Feder über das Papier.

… Sie erbärmliche, armselige Heuchlerin. Alle Welt weiß, was Sie im Duschraum treiben …

Er ließ sich auch nicht von der neuen Helferin des Bademeisters ablenken, die auf dem Hochsitz über dem Wasser thronte: das grobknochige, rothaarige Mädchen hatte mehr Bizeps als Busen, und Van Eycks Vorliebe galt immer noch Blondinen mit einer konventionelleren {8}Anatomie. Im Augenblick interessierten ihn auch die anderen Klubmitglieder nicht, die auf bequemen Liegen dösten, auf Klappstühlen tratschten, unter Sonnenschirmen lasen, sich im Wasser tummelten. Ob naß oder trocken: nach außen hin boten sie ein langweiliges Bild.

Wenn man sich aber näher mit ihnen und ihrem Privatleben befaßte, waren sie alles andere als langweilig. Van Eyck konnte sich da ein Urteil erlauben, hatte er diese Nachforschungen doch zu seinem persönlichen Anliegen und Steckenpferd gemacht. Immer wieder schlurfte er über die im Halbdunkel liegenden Gänge, die zu den Badehäuschen führten, schlenderte durch die Sauna- und Massageräume auf dem Dach, ging im Weinkeller und im Kesselraum ein und aus und betrat, falls die Tür mit dem Schild »Privat, Zutritt verboten« nicht verschlossen war, auch das Büro, das Henderson, dem Manager, gehörte.

Schlösser und Riegel und Hinweise wie »Zutritt verboten« störten Van Eyck nicht. Er nahm einfach an, daß sie auf andere Leute gemünzt sein mußten, auf neugierige Besucher etwa, auf neue Mitglieder, unehrliche Angestellte. Mit dieser zwanglosen Einstellung war es ihm gelungen, sich allerlei Grundkenntnisse anzueignen; er wußte über erlesene Weine ebenso Bescheid wie über die therapeutische Wirkung von Massagen, über Hendersons Beziehung zu seinem Buchmacher, das Beheizen und Verchloren von Schwimmbädern und die menschliche Natur im allgemeinen.

… Sie spinnen ein wirres Netz, und Sie werden sich darin verfangen, stümperhafte Spinne, die Sie sind …

{9}Van Eyck kam bei seinen Nachforschungen noch ein Vorteil zugute. Er tat oft so, als sei er schwerhörig. Er blickte verständnislos drein, schüttelte traurig den Kopf, hielt die Hand wie einen Trichter ans Ohr. »Wie? Was ist? So reden Sie doch lauter!« Und so redeten die Leute lauter und sagten oft hochinteressante Dinge, sowohl vor ihm als auch hinter seinem Rücken. Wie ein hungriges Eichhörnchen schnappte er die Brocken auf und speicherte sie in den verschiedenen Hohlräumen seines Schädels. Wenn er sich langweilte, holte er sie hervor, um auf ihnen herumzukauen und sie dann aufs Papier zu spucken.

… Sie müssen unglaublich dumm sein, wenn Sie sich einbilden, Sie könnten Ihre üblen Machenschaften vor einem klugen Mädchen wie mir verbergen …

Van Eyck las den Satz noch einmal durch. Dann zog er einen feinen Strich durch »Mädchen«, so daß es noch gut zu lesen war, und ersetzte es durch »Mann«. Es war einer seiner Lieblingstricks, den Leser auf eine falsche Spur zu locken und von einer Sackgasse in die andere zu führen, weit weg von der Mitte des Labyrinths, wo Van Eyck im sicheren Versteck saß, anonym, in geheimnisvolles Dunkel gehüllt, wie ein Minotaurus.

Er lehnte sich zurück und nahm seine Brille ab, putzte sie am Ärmel seines polynesischen Kattunhemdes und blickte mit einem Lächeln zu dem rothaarigen Mädchen auf der anderen Seite des Schwimmbeckens hinüber. Niemand würde je auf die Idee kommen, bei diesem freundlichen alten Mann, der nicht mehr gut hören und sehen konnte, handelte es sich um einen Minotaurus.

 

{10}»Er ist wieder am Werk«, sagte Walter Henderson zu Ellen, seiner Sekretärin. »Geben Sie ihm kein klubeigenes Briefpapier mehr.«

»Wie soll ich es ihm abschlagen?«

»Sagen Sie einfach nein, und damit hat sich’s.«

»Es hat sich noch niemand beschwert. Er schreibt seine Briefe bestimmt nicht an Klubmitglieder, sonst hätten wir längst Klagen bekommen.«

»Angenommen, er schreibt Drohbriefe an den Präsidenten. Auf unserem Briefpapier.«

»Ach, das tut er nie. Ich meine, warum sollte er?«

»Weil kein Wärter ihn davon abhält«, sagte Henderson mit finsterer Miene. »Sie brauchen alle einen Wärter … Ellen, normale Menschen wie Sie und ich gehören nicht in dieses Irrenhaus. Ich finde, wir beide sollten durchbrennen. Wär das nicht ein Spaß?«

Ellen schüttelte den Kopf.

»Sie meinen wohl, mit mir würde es keinen Spaß machen? Nun gut. Aber vergessen Sie nicht, daß Sie mich nur in Situationen erlebt haben, in denen nicht zu spaßen ist. Nach fünf kann ich unheimlich amüsant sein … Es ist dieser Bademeister, Grady, nicht wahr? Ellen, Ellen, Sie machen da einen bösen Fehler. Grady ist ein mieser Typ … Nun, wo waren wir stehengeblieben?«

»Beim Briefpapier.«

»Wie gesagt, mit solchen Dingen ist nicht zu spaßen. Nun denn: In Zukunft ist das klubeigene Briefpapier ausschließlich für Klubangelegenheiten zu verwenden.«

»Wenn Mitglieder um Briefpapier bitten, kann man es ihnen schlecht verweigern«, sagte Ellen. »Es ist schließlich ihr Klub, sie kommen für mein Gehalt auf.«

{11}»Jedes Mitglied hat sich mit seiner Unterschrift verpflichtet, die Regeln einzuhalten.«

»Wir haben aber keine Regel über die Verwendung des klubeigenen Briefpapiers.«

»Dann machen Sie eine. Und hängen Sie sie an das Schwarze Brett.«

»Meinen Sie nicht, Sie als Manager sollten das selbst in die Hand nehmen?«

»Nein. Und finden Sie eine einfache Formulierung, die meisten von ihnen können nicht lesen. Vielleicht sollten Sie es mit Bildern oder einer Zeichensprache versuchen.«

Ellen konnte seinem Gesicht nicht ansehen, ob er das ernst meinte. Er trug eine Polaroid-Sonnenbrille, die seine Augen verbarg und Ellens Spiegelbild zurückwarf, Ellen-Zwillinge im Kleinformat, wie bei einem Blick durch das falsche Ende eines Fernrohrs. Hendersons Brille war schon länger nicht mehr geputzt worden, und daher waren die Ellen-Zwillinge nicht nur verkleinert, sondern auch verwischt und undeutlich, zwei verschwommene blasse Gesichter, und auf beiden saß der kurze bräunliche Haarschopf wie ein umgestülpter Korb. Tief innen fühlte sich Ellen manchmal ganz interessant und voller Leben und ungewöhnlich, und so traf es sie jedesmal wie ein Schock, wenn sie in Hendersons Brille ihrem wahren Selbst begegnete.

»Warum starren Sie mich an, Ellen?«

»Ich habe Sie nicht angestarrt, Sir. Mir fiel nur gerade ein, daß am Schwarzen Brett kein Platz mehr ist, seit Sie dort all die von Ihrem Neffen fotografierten Sonnenuntergänge angeschlagen haben.«

»Was haben Sie an Sonnenuntergängen auszusetzen?«

{12}»Nichts, Sir.«

»Und im übrigen wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich nicht immer Sir nennen würden. Ich bin gerade neunundvierzig, da ist man noch kein Sir für eine erwachsene Frau von –«

»Siebenundzwanzig.«

»Als ich seinerzeit hier anfing, habe ich doch eindeutig festgelegt, wie die verschiedenen Angestellten mich anzureden haben. Ich will es Ihnen noch einmal sagen. Für die Handwerker und Kellnerlehrlinge bin ich der Chef. Oberkellner und Bademeister haben mich Sir zu nennen, der Hausmeister und der Wirtschaftsleiter nennen mich Mr. Henderson. Und Sie dürfen mich Walter nennen, oder vielleicht finden Sie ein hübsches kleines Kosewort.« Und mit einem erbärmlichen Grinsen fügte er hinzu: »Mausilein, Goldkind, Herzblättchen, etwas in der Art.«

»Also wirklich, Mr. Henderson«, sagte Ellen, aber es klang nicht sehr streng. Hendersons lüsterne Anwandlungen kamen so zaghaft und unregelmäßig, daß Ellen sie zu den geringeren Erschwernissen ihres Jobs zählte. Sie rechnete ohnehin nicht damit, daß er länger dasein würde. Er war der siebte Manager, seit sie im Klub arbeitete, und obschon er durchaus fähig war und auch ausgezeichnete Referenzen vorgelegt hatte, schien er vom Naturell her kaum geeignet, mit den vielfältigen Notfällen fertigzuwerden, die ein solcher Klub mit sich brachte.

 

Der aktuellste Notfall lag im Duschraum der Männer vor. In eine der Toiletten waren ein Paar Turnschuhe und ein T-Shirt gestopft worden. Die drei Objekte waren zwar gründlich eingeweicht, aber sie trugen immer noch {13}die gut lesbare Aufschrift »Frederic Quinn«; anhand dieser Indizien wurde der Neunjährige überführt und von Grady, dem Chefbademeister, in den Erste-Hilfe-Raum gesperrt, wo er Zeit hatte, über sein Verbrechen zu reflektieren.

Der kleine Frederic, der eine vornehme Knabenschule besuchte, konnte in mehreren Sprachen fluchen, doch im Augenblick brauchte er davon nur eine: »He, du kannst mich hier nicht festhalten, du schwuler Bulle, du hast mich nicht über meine Rechte belehrt.«

»Okay, hier sind deine Rechte«, sagte Grady. »Du hast das Recht, hier drinzubleiben, bis die Hölle zufriert.«

»Die Hölle gibt’s ja gar nicht, das weiß jedes Kind.«

»Oder bis eine Flutwelle den Klub wegschwemmt.«

»Das richtige Wort ist Tsunami, nicht Flutwelle.«

»Oder bis ein Erdbeben die ganze Stadt verschluckt.«

»Laß mich raus, Himmel Herrgott!«

»Bedaure, ich hab jetzt Mittagspause.«

»Dann sag ich jedem, daß Sie mich verprügelt haben.«

Doch Grady war schon unterwegs zu seinem Spind, um seine Sandwiches und die Thermosflasche zu holen.

Sich selbst überlassen, goß sich Klein-Frederic eine Flasche Mercurochrom über den Kopf, um Blut vorzutäuschen, und malte sich mit abgebrannten Streichhölzern Blutergüsse unter die Augen. War seine schöpferische Phantasie erst mal angeregt, gab es kein Halten mehr. Er ließ einen Schnurrbart folgen, dann einen Spitzbart und Koteletten und als Krönung einen gewaltigen Leberfleck mitten auf die Stirn. Und dann konzentrierte er sich wieder auf das Problem, wie er sich wohl aus seiner Lage befreien könnte:

{14}»Hilfe! Mayday! Polizei! Sanitäter!«

Auch wenn ihn vielleicht einige Klubmitglieder hörten, so schenkte ihm doch niemand Beachtung. Zum einen wurde der Status quo im Klub traditionell hochgehalten, zum anderen herrschte eine fast religiöse Überzeugung, irgendwo und irgendwie werde sich schon irgendwer um alles kümmern.

 

Miranda Shaw lag auf einem Liegestuhl neben dem Schwimmbecken; gegen die Sonne schützte sie sich mit einem großen Badetuch, einem Strohhut, einem Schirm und mehreren Schichten einer Salbe, die sie sich aus Mexiko kommen ließ. Sie konnte nicht ahnen, daß sich Mr. Van Eycks derzeitiges literarisches Projekt um ihre Person drehte.

… Was sind Sie nur für eine Heuchlerin. Nach außen hin tun Sie so vornehm, aber insgeheim treiben Sie all die anderen Dinge, Sie-wissen-schon-was. Mich können Sie mit Ihren blauen Kinderaugen nicht täuschen. Sie sollten sich schämen. Der arme Neville war Ihnen immer ein guter Ehemann, doch kaum ist er unter der Erde, machen Sie jungen Männern wie Grady verliebte Augen. Grady ist fast noch ein Junge, und Sie sind eine alte Schachtel, da können Sie sich die Haut im Gesicht, am Hintern und am Busen noch so oft straffen lassen. Eine straffere Moral würde Ihnen besser anstehen …

Miranda begann, sich unbehaglich zu fühlen, und es gab eigentlich keinen bestimmten Grund dafür. Die Wellen {15}plätscherten sanft und friedlich, die Sonnenstrahlen waren nicht zu heiß, und die Luftfeuchtigkeit betrug vierzig Prozent, genau richtig für den Teint. Es ist bestimmt die Wirkung der neuen Salbe, dachte sie, die die Nervenenden reizt und dadurch die Zellen verjüngt. Ach Gott, ich hoffe, es tut nicht weh. Ich kann keine Schmerzen mehr ertragen.

Sie zuckte, hustete, setzte sich auf.

Van Eyck blickte von der anderen Seite des Schwimmbeckens zu ihr herüber und lächelte. Zumindest glaubte sie das. Sie mußte ihre Brille aufsetzen, um sich zu vergewissern, und als sie das tat, hob Van Eyck seine freie Hand und winkte zu ihr herüber. Es war eine lebhafte Geste, die bei ihm geradezu jungenhaft und ausgelassen wirkte, hatten ihn doch die Jahre nüchtern und bedächtig gemacht. Er muß achtzig sein; Neville war fast achtzig, als er im letzten Frühjahr starb –

Mit einem kurzen, heftigen Kopfschütteln vertrieb sie die Gedanken an das Alter und den Tod. Dr. Ortiz drang darauf, daß seine Patienten nur angenehme, sanfte Dinge im Kopf hatten, Blumen und Vögel und fröhliche Kinder und im Wind schwankende Bäume. Nichts übertrieben Lustiges allerdings. Beim Lachen wurden die Muskeln um Augen und Mund überdehnt.

Sie versuchte sich fröhliche Kinder auszumalen, aber unglücklicherweise ließ der kleine Frederic Quinn wieder einen Schrei los.

 

Da die Hilfeschreie nichts bewirkt hatten, versuchte es Klein-Frederic nun mit Drohungen.

»Mein Vater kauft mir ein {16}Fünfzigtausend-Volt-Schockgewehr, das versetzt Ihnen einen Schlag, daß Sie aus den Socken kippen. Was sagen Sie dazu, Grady, Sie Fiesling?«

»Ganz gut für den Anfang«, sagte Grady und verdrückte den Rest seines zweiten Erdnußbuttersandwichs. »Und dann?«

»Sie gehen zu Boden, Mann, und kriegen Krämpfe.«

»Was du nicht sagst.«

»Und Sie sterben vielleicht daran.«

»Und wenn nun dein Vater nichts davon hält, daß du mit einem Schockgewehr durch die Gegend läufst?«

»Mein Bruder Harold kann mir eins besorgen«, sagte Frederic. »Der hat Mafia-Kontakte in der Schule.«

»Sag bloß.«

»Das hab ich Ihnen schon mal gesagt.«

»Und ich hab es dir schon mal nicht geglaubt. Jetzt glaub ich dir schon wieder nicht.«

»Es stimmt aber. Harolds bester Freund heißt Bingo Firenze, und der Onkel von Bingo ist ein Killer. Bingo bringt Harold eine Menge bei, und ich lerne es dann von Harold.«

»Du könntest wahrscheinlich beiden noch was beibringen. Und dem Onkel dazu.«

»Scheiße mit Ei, Mann. Ich bin nur ein kleiner Junge, ein unschuldiger Junge, der im Umkleideraum vom Chefbademeister belästigt worden ist. Ich bin gespannt, wie das in Hendersons Ohren klingen wird.«

»Wie Musik. Wahrscheinlich wird er mir einen Orden verleihen.«

»Du bist ein gemeines Schwein, Grady.«

»Worauf du dich verlassen kannst.«

 

{17}Fröhliche Kinder, Bäume im Wind, Vögel, Blumen – Miranda konnte sich einfach nicht darauf konzentrieren. Ihr Unbehagen wuchs. Der Arzt hatte ihr versichert, die neue Salbe sei keines der üblichen Präparate, aber das Gefühl war gleich wie beim letztenmal, als zerfresse eine Säure die obersten Hautschichten, zersetze die Falten, die Altersflecken und verhornten Stellen. Er hat versprochen, daß es nicht wehtut. Ich würde kaum etwas spüren, hat er gesagt. Vielleicht habe ich zuviel aufgetragen. O Gott, nichts wie raus hier. Ich muß es abwaschen.

Sie ließ sich ihre Panik nicht anmerken. Sie stand auf, legte sich das Badetuch mit nachlässiger Eleganz um die Schultern und machte sich auf den Weg zum Duschraum. Sie ging so, wie sie es bei der Physiotherapeutin in der Klinik gelernt hatte, schlaff und schleppend, als bewege sie sich im Wasser. In dem Leitfaden wurde einem geraten, man solle sich ein Aquarium anschaffen und beobachten, wie selbst noch der häßlichste Fisch in seinen Bewegungen ein Muster an Anmut sei. Miranda hatte sich ein Aquarium ins Schlafzimmer stellen lassen, aber Neville hatte geklagt, das ewige Hin- und Herschwimmen hindere ihn am Einschlafen. Der Fisch sorgte selber für die Lösung des Problems, indem er ziemlich rasch wegstarb, unter Mithilfe Nevilles, wie Miranda vermutete, denn das Wasser war immer trüber geworden und hatte nach Scotch gerochen.

Sie stellte sich vor, sie bewege sich unter Wasser, ein Wesen voller Anmut. Vorbei an dem Bademeister, der ein Erdnußbuttersandwich aß, vorbei an den jungen Schwestern, die sich um eine Zeitschrift zankten, und in den Gang, wo sie Charles Van Eyck begegnete.

{18}»Guten Morgen, guten Morgen, Mrs. Shaw. Wie wunderschön Sie heute wieder aussehen.«

»Ach, Mr. Van Eyck, das stimmt doch gar nicht. Wirklich nicht.«

»Wie Sie wollen«, sagte Van Eyck und schlurfte ins Büro, um sich Briefpapier zu beschaffen. Es war ein schöner, sonniger Tag. Die Boshaftigkeit durchströmte ihn wie der Saft einen jungen Ahornbaum.

Der Vorfall brachte Miranda so aus dem Gleichgewicht, daß sie alle Gedanken an Fische und Aquarien vergaß und plötzlich zu laufen anfing. Van Eyck folgte ihr mit den Blicken, sachlich abwägend wie ein langjähriger Coach: Miranda war noch ganz munter, und die kleine Operation war ihrem Hintern gut bekommen.

 

»Nein, Mr. Van Eyck«, sagte Ellen. »Ganz ausgeschlossen. Das Papier trägt unseren Briefkopf und darf nur für offizielle Klubangelegenheiten benutzt werden.«

»Den Briefkopf kann ich wegschneiden.«

»Es könnte trotzdem identifiziert werden.«

»Von wem denn?«

»Von der Polizei.«

»Warum sollte sich die Polizei für unser Klubbriefpapier interessieren?« sagte Van Eyck arglos. »Hat es denn irgendeine Unterschlagung, einen Mord oder sonst was Interessantes gegeben?«

»Nein.«

»Warum sollte sich dann die Polizei einmischen?« Er blickte sie über seine randlose Halbbrille hinweg scharf an. »Aha. Aha. So langsam komme ich mit.«

{19}»Wenn Sie sich doch nur mit einem Nein zufriedengeben wollten, Mr. Van Eyck.«

»Als Sie über die Terrasse gingen, haben Sie mir über die Schulter geguckt.«

»Eigentlich nicht. Und ich konnte gar nicht anders –«

»Eigentlich doch. Und Sie konnten anders. Was haben Sie gesehen

»Das Wörtchen Sie. Das ist alles. Nur Sie.«

»Sie, und was noch?«

»Sie – na ja, vielleicht noch ein paar Adjektive oder so. Vielleicht auch noch ein Substantiv.«

Van Eyck machte ein ernstes Gesicht und sagte kopfschüttelnd: »Ich halte das für einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Klubetikette, Ellen. Ich bin jedoch bereit, darüber hinwegzusehen, wenn Sie mir dafür ein paar Blatt Papier geben. Das ist doch nur fair, oder?«

»Für mich nicht. Ich habe strenge Anweisungen von Mr. Henderson. Wenn ich mich nicht daran halte, kann mich das meine Stellung kosten.«

»Unsinn. Sie überleben ein Dutzend Hendersons. Seien Sie jetzt ein braves Mädchen und rücken Sie das Papier raus. Fünf, sechs Blatt, mehr brauche ich im Augenblick nicht.«

 

Klein-Frederic versuchte es mit einer neuen Kriegslist.

»Grady, Sir, würden Sie bitte diese Tür aufschließen?«

»Geht nicht. Ich hab den Schlüssel verschluckt.«

»He, das ist Spitze, Mann. Sie können den Klub auf Schadenersatz verklagen, und ich trete als Ihr Anwalt auf.

Das bringt uns bestimmt zwei, drei –«

{20}»Abgelehnt.«

»Okay, Sie lassen mich hier raus, ein Händedruck, und die ganze Sache ist vergessen.«

Grady schälte eine Banane und biß drei Fingerbreit davon ab. »Die ganze Sache?«

»Sie wissen schon, das mit der Toilette.«

»Ist das ein Geständnis, Quinn?«

»Nein, verdammt noch mal. Ich bin doch nicht so blöd und verstopfe eine Toilette mit meinen eigenen Kleidern. Dazu bin ich doch viel zu schlau. Irgend jemand hat mich reingelegt.«

»Wenn du so schlau bist«, sagte Grady, »wieso wirst du dann dauernd reingelegt?«

»Irgendwer ist hinter mir her.«

»Falls du’s noch nicht weißt, Quinn: alle sind hinter dir her.«

»Sie können allen ausrichten, mein Vater kauft mir ein Schockgewehr.«

»Wird gemacht, und zwar gleich.«

»Wo wollen Sie hin?«

»Ins Büro. Die sollen’s als erste wissen.«

Vor dem Weggehen kämmte sich Grady vor dem Spiegel in der kleinen Kammer, die den Bademeistern als Umkleideraum diente. Er wußte, Ellen interessierte sich für ihn, und es war immerhin denkbar, daß auch er sich eines Tages für sie interessieren würde. Sie war ein nettes vernünftiges Mädchen mit einem sicheren Job und fantastischen Beinen. Sicher, sie war nicht das höchste der Gefühle, aber er hatte sich oft genug mit weit weniger zufriedengegeben.

 

{21}»Wir können Frederic nicht aus dem Klub ausschließen«, sagte Ellen. »Er ist bereits ausgeschlossen.«

»Wieso ist er dann hier?«

»Er muß über den hinteren Zaun geklettert sein.«

»Da sind doch vier Stränge Stacheldraht oben drauf.«

»Der Hausmeister hat gestern gemeldet, daß sein Drahtschneider aus dem Geräteschuppen verschwunden ist.«

»Genial, dieser Junge«, sagte Grady. »Ein Jammer, daß wir ein solches Genie nicht auf etwas Konstruktives ansetzen können.«

»Sie werden schon mit ihm fertig. Die Mitglieder sind der Auffassung, daß Sie sehr gut mit Kindern umgehen können. Die mögen Sie offenbar – die Kinder, meine ich.«

»Und die anderen?«

»Welche anderen?«

»Die keine Kinder mehr sind.«

»Ach so; ich glaube, Sie sind bei allen beliebt.«

»Bei Ihnen auch?«

Sie starrte auf einen Punkt an der Wand, genau über seiner linken Schulter. »Es ist gegen die Vorschriften, daß Sie nur mit einer Badehose bekleidet ins Büro kommen. Es wird erwartet, daß Sie Ihren Trainingsanzug anziehen.«

»Mir ist nicht kalt«, sagte Grady. »Ihnen vielleicht?«

»Sie finden Ihre Nummer wohl komisch.«

»Hätten Sie gern eine andere? Ich bin ein Mann mit vielen Talenten.«

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Aber ich mache mir nichts aus Ihren Talenten.«

Auf einer Ecke des Schreibtischs sitzend, baumelte er {22}mit den Beinen und bewunderte den Kontrast der sonnengebräunten Haut und der zu einem rötlichen Gold gebleichten Haare. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Ellen zu. Normalerweise wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, sich an sie ranzumachen, aber die Auswahl war im Augenblick nicht groß. Klubmitglieder waren tabu, vor allem die Teenager, die während des Sommers ständig um ihn herumgestrichen waren und sich ihm mit einer Eindeutigkeit angeboten hatten, die ihre Eltern nicht weniger schockiert hätte als Klein-Frederics fantastisches Schockgewehr. Nun, die Sommerferien waren ohnehin vorbei, die Teenager mußten wieder zur Schule. Doch Ellen war nach wie vor da.

Er sagte: »Sie geben sich ganz schön zugeknöpft. Warum eigentlich?«

»Und weil wir gerade von Vorschriften reden: Bringen Sie Ihren Freundinnen mal bei, daß sie hier nicht anrufen können. Mr. Henderson mißbilligt private Telefongespräche während der Dienstzeit.«

»He, he, jetzt werden Sie aber ganz schön massiv. Regen Sie sich ab, ich bin nicht irgendein Nullachtfünfzehn-Unhold.«

»Fast hätte ich Sie dafür gehalten.«

»Warum sind Sie eigentlich so sauer?«

»Ich bin nicht sauer, aber ich habe Augen im Kopf. Und den ganzen Sommer habe ich mit angesehen, wie Sie für Ihre vierzehnjährigen Groupies Ihren Charme versprühten und –«

»Sie haben schöne Augen, wenn Sie wütend sind. Hellgrün und leuchtend, wie Smaragde. Oder Limonadeflaschen.«

{23}»Ihre sind grau. Grau und hart wie Granit.«

»Ich wußte gar nicht, daß Sie so abscheulich sein können.«

»Ich auch nicht.« Ellen schien ein wenig überrascht. »Wahrscheinlich kann mich nur ein abscheulicher Mann dazu bringen.«

»Also gut, noch einmal von vorne. Ich komme ins Büro, um zu berichten, daß ich mit einem der jungen Burschen Schwierigkeiten habe. Und Sie sagen mir, wir können ihn nicht rauswerfen, weil das bereits geschehen ist. Darauf sage ich – ach zum Teufel, ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe. Sie haben wirklich hübsche Augen, Ellen. Es sind Smaragde. Nehmen Sie mir die Limonadeflaschen nicht übel. Das sollte ein Witz sein, aber Sie haben leider nicht gelacht.«

»Es war nicht komisch.«

»Sie lachen überhaupt nie mehr, wenn ich etwas sage.« Das Telefon läutete, und als sie den Hörer abnehmen wollte, griff er ihr schnell in den Arm. »Ich seh doch, wie Sie mit Klubmitgliedern, mit dem Hausmeister und sogar mit Henderson herumalbern. Was haben Sie plötzlich gegen mich?«

»Von plötzlich kann keine Rede sein. Das geht schon eine ganze Weile.«

»Aber warum? Ich hab Ihnen nichts getan. Ich hab immer geglaubt, wir seien Freunde, Sie wissen schon: auf der gleichen Seite, aber cool.«

»So definieren Sie Freunde – auf der gleichen Seite, aber cool?«

»Was stört Sie an meiner Definition?«

»Nur, daß ein paar wichtige Dinge fehlen.«

{24}»Die schenk ich Ihnen, aber Freunde sind wir so oder so. Oder vielleicht nicht?« Das Telefon hatte aufgehört zu läuten. Sie merkten beide nichts davon. Grady sagte noch einmal: »Oder vielleicht nicht?«

»Nein.«

»Und warum nicht …? Ach Scheiße, geben Sie mir lieber keine Antwort darauf. Ich würde als Freund sowieso nicht viel hergeben. Soll ich Ihnen mal was Lustiges sagen? Ich war bestimmt schon oft befreundet – ich hab schließlich ne Menge zu bieten – aber ich weiß nicht mehr, mit wem. Die verschiedenen Orte kann ich mir heute noch vorstellen, keiner auch nur einen Pfifferling wert, aber an die Leute kann ich mich nicht erinnern. Sie sind weggelaufen, oder ich bin weggelaufen. Kommt aufs gleiche raus. Sie sind jedenfalls weg, so gut wie gestorben.«

»Soll ich Sie bedauern?«

»Bedauern? Wieso denn das? Die Welt liegt mir zu Füßen.«

»Umso besser. Und wie ist die Aussicht dort oben?«

»Im Moment gar nicht so schlecht.«

Eine Frau kam den Gang entlang aufs Büro zu, und ihre Bewegungen gefielen ihm; sie ging mit langsamen, tänzelnden Schritten, wie eine Braut auf dem Weg zum Altar. Sie trug einen langen Seidenumhang, der sich um ihre Schenkel schmiegte. Die blonden Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, der über die Schulter nach vorne hing und mit einer blaßroten Blume geschmückt war. Bei jedem Schritt streifte die rote Blume ihre linke Brust. Es konnte Zufall sein, aber Grady kannte die Frauen gut genug, um nicht daran zu glauben.

Er sagte: »Wer ist denn das?«

{25}»Mrs. Shaw.«

»Sieht reich aus.«

»Das ist sie wohl auch.«

»Sehr reich?«

»Ich weiß nicht. Wie soll man zwischen reich und sehr reich unterscheiden?«

»Ganz einfach. Die Superreichen zählen ihr Geld, stecken es in eine Bank und werfen den Schlüssel weg. Die Reichen geben ihr Geld aus. Sie verfahren es, verfliegen es, essen es, tragen es, trinken es.«

»Mrs. Shaw schmiert es sich ins Gesicht.«

»Keine schlechte Investition.«

Ellens Stimme klang kalt. »Ich kann ja verstehen, daß ein hormonell übersteuerter Typ wie Sie auf junge Groupies fliegt; aber eine fünfzigjährige Witwe – ist das nicht ein bißchen übertrieben? Sie ist sogar zweiundfünfzig. Als vor ein paar Monaten ihr Mann starb, mußte ich ihren Aufnahmeantrag heraussuchen, um die Todesanzeige für das Klubbulletin schreiben zu können. Er war übrigens ein reizender alter Mann von fast achtzig Jahren.«

»Wie heißt sie mit Vornamen?«

»Warum?«

»Ich möchte es eben wissen. Aus Ihrem Mund hört sich alles, was ich sage oder tue, wie ein Verbrechen an.«

»Sie heißt Miranda. Aber für Sie ist es Mrs. Shaw, das möchte ich Ihnen nur geraten haben.«

»Kann ich denn nicht mal eine Frage stellen, ohne daß Sie gleich hochgehen?«

»Mr. Henderson hat persönliche Kontakte zwischen Mitgliedern und Angestellten streng untersagt. Sie wurden im letzten Sommer mehrfach verwarnt, haben Sie {26}das schon vergessen? Frederics Schwester April, die kleine Peterson, Cindy Kellogg –«

»Da gibt’s nichts zu vergessen. Es ist ja nichts passiert.«

»Nichts passiert?«

»Fast nichts.«

»Irgendwann einmal, wenn ich mich eine Woche freimachen kann, werden Sie mir erklären müssen, was Sie unter ›fast nichts‹ verstehen.«

Einen Moment zögerte er, doch dann beugte er sich über den Schreibtisch und strich ihr behutsam über den Kopf. Ihr Haar war sehr weich, wie die Federn einer kleinen Ente, die er als Junge am Ufer eines Baches gefunden hatte. Das Entlein war in seinen Händen gestorben. »Hören Sie doch auf, sich zu sträuben. Ich bin gar nicht so schlimm. Was finden Sie denn so schlimm an mir?« Das Entlein war aus keinem erkennbaren Grund in seinen Händen gestorben. Vielleicht einfach deshalb, weil er es angefaßt hatte. Vielleicht gab es weiche, zarte Dinge, die man nie anfassen sollte.

Er richtete sich auf, kreuzte die Arme über der Brust, als sei er sich plötzlich seiner Nacktheit bewußt. »Ich mag die Mädchen, und die Mädchen mögen mich. Warum kann es nicht dabei bleiben? Es ist normal.«

»Dann ist es eben normal. Hurra.«

»Haben Sie was gegen normal?«

»Ich mag normal.«

»Bloß nicht bei mir«, sagte Grady. »Ich wollte, wir wären Freunde, Ellen, ganz ehrlich. Sie sind doch mit allen anderen hier gut Freund. Was ist bloß an mir so schlimm?«

 

{27}Als die Salbe abgewaschen und durch Feuchtigkeitscreme und Make-up ersetzt war, wurde Miranda etwas ruhiger. Aber jede Minute konnte die panische Angst wiederbringen: es gab einen neuen bräunlichen Fleck auf der Stirn, das Muttermal an ihrem Hals schien größer zu werden, und die ersten verdächtigen Fältchen einer nicht mehr aufzuhaltenden Zellulitis zeigten sich auf ihren Oberarmen und Schenkeln. Wenn nur Neville da wäre, um ihr zu sagen, das Muttermal und die braune Stelle auf der Stirn seien ihre besonderen Schönheitsflecken und die bösen Fältchen existierten nur in ihrer Einbildung. Geglaubt hätte sie ihm allerdings nicht; sie wußte, daß sie echt waren, daß es Zeit war, wieder nach Mexiko in die Klinik zu gehen, Zeit für neue Injektionen.

Sie konnte die Reise nicht sofort antreten oder auch nur buchen. Ihr Anwalt hatte ihr geraten, in der Stadt zu bleiben, bis Nevilles Testament eröffnet und gerichtlich bestätigt war. Als sie nach einem Grund fragte, wich er aus, als wisse er etwas, was man am besten von ihr fernhalte. Seine Haltung beunruhigte sie, zumal das Gerücht umging, Nevilles Sohn aus erster Ehe habe vor, das Testament anzufechten. Sie hätte gern gewußt, was Ellen von alledem hielt – Ellen wußte möglicherweise Bescheid, denn alle möglichen Leute vertrauten sich ihr an –, aber als Miranda ins Büro kam, war der Bademeister da, und Ellen schien etwas aus dem Gleichgewicht.

Miranda sagte: »Ich erwarte eine Nachricht von meinem Anwalt, Mr. Smedler. Hat er angerufen?«

»Nein, Mrs. Shaw.«

»Wenn er sich meldet, lassen Sie mich bitte benachrichtigen. Ich bin in der Snackbar zu finden.«

{28}Sie hatte von Grady noch keine Notiz genommen, ja noch nicht einmal in seine Richtung geblickt, aber er wußte genau, daß sie ihn gesehen hatte. Sie hatte ihn schon den ganzen Vormittag unter dem breitrandigen Strohhut hervor und durch die übergroße Bernstein-Sonnenbrille mit den Blicken verfolgt.

Nun wandte sie sich ihm zu und nahm, wie bei einem gekonnten Striptease, ganz langsam die Brille ab. »Sie sind der Bademeister, nicht wahr?«

»Ja, Madam. Grady.«

»Wie bitte?«

»So heiße ich. Grady Keaton.«

»Ach ja, natürlich. Sagen Sie, da schreit doch irgendwo ein Kind?«

»Ja, Madam. Es ist der kleine Quinn. Frederic.«

»Können Sie denn nichts unternehmen?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Sie könnten es wenigstens versuchen. Es hört sich so an, als ginge es ihm nicht besonders gut.«

»Es ginge ihm noch viel schlechter, wenn sein Vater keine zehn Millionen besäße. Vielleicht sind es auch zwanzig. Wer zählt nach der ersten Million schon weiter?«

Ihr Lächeln war kaum wahrzunehmen; nur der Ausdruck ihrer Augen wurde eine Spur sanfter. »Alle zählen, Grady. Sie müssen neu hier sein, sonst wüßten Sie das.«

»Ich bin ein bißchen schwer von Begriff. Vielleicht sollte ich Privatstunden nehmen.«

»Gewiß. Ich bin sicher, Ellen wäre bereit, Sie mit einigen der Grundregeln vertraut zu machen.«

»Ellen und ich sind uns über die Grundregeln nicht einig. Das erschwert die Sache.«

{29}»Dann sollten Sie sich vielleicht auf die naheliegenden Probleme konzentrieren, Frederic Quinn zum Beispiel.«

Das sollte streng klingen, denn sie wollte ihn damit in die Schranken weisen, aber es gelang ihr nicht ganz. In den Jahren ihrer Ehe mit Neville hatte sie nie Gelegenheit gehabt, sich mit ihrer Stimme Geltung zu verschaffen oder sie im Zorn zu erheben. Alles wurde stets so eingerichtet, daß sie keinen Anlaß hatte, unzufrieden oder unsicher zu sein. Schlimm war es nur in der Klinik in Mexiko, wo sie während der Injektionen laut geschrien hatte. Und selbst diese Schreie waren irgendwie nicht von ihr gekommen, sondern von einer lauten, undisziplinierten Fremden, einer armen, verängstigten alten Frau: »Hören Sie auf, Sie bringen mich ja um.« – »Die Señora wird wieder jung sein!« – »Um Himmels willen, hören Sie bitte auf.« – »Die Señora wird wieder fünfundzwanzig sein …«

Zum erstenmal blickte sie Grady gezielt und genau an. Er hatte einen feinen, zu den Augenbrauen passenden goldblonden Schnurrbart und auf der rechten Wange eine Narbe, die wie ein Grübchen aussah. Er war höchstens fünfundzwanzig. Sie spürte plötzlich einen stechenden Schmerz zwischen den Brüsten, so als werde ihr eine Nadel durch die Haut unmittelbar in den Knochen gestoßen. »Hören Sie auf, Sie bringen mich ja um.« – »Die Señora wird wieder fünfundzwanzig sein.«

Sie atmete tief durch. »Sie kümmern sich besser um den Jungen.«

»Ja, Madam.«

»Vielleicht kann ich dabei helfen. Ich habe zwar nicht viel Erfahrung im Umgang mit Kindern, aber ich mag sie.«

{30}»Ich nicht«, sagte Grady.

»Aber Sie kennen doch sicher auch nette Kinder?«

»Nein, nicht ein einziges.«

»Nicht alle benehmen sich wie Frederic.«

»Alle wären so, wenn ihre Väter zehn Millionen Dollar hätten.«

»Jetzt sind wir schon wieder bei den zehn Millionen. Das setzt sich ganz schön fest, nicht wahr, wie ein Gestank.«

»Ganz recht, Madam. Wie ein Gestank.«

»Man darf jedenfalls den Jungen nicht leiden lassen, nur weil sein Vater eine Menge Geld hat. Das wäre nicht fair. Kommen Sie, ich werde Ihnen helfen, ihn zu beschwichtigen.«

»Das ist nicht nötig, Mrs. Shaw«, sagte Ellen, »Grady kann das allein.«

»Natürlich kann er das. Ich gehe auch nur mit, um zu sehen, wie das gemacht wird … falls Grady nichts dagegen hat. Haben Sie etwas dagegen, Grady?«

Grady hatte nicht das geringste dagegen.

Ellen stand auf und sah den beiden nach, die Seite an Seite den Gang entlanggingen. Sie wollte sich abwenden und an ihrem Schreibtisch ihrer eigenen Arbeit nachgehen, aber sie konnte die Augen nicht von ihnen lassen. Auf eine seltsame, beunruhigende Art schienen sie perfekt zusammenzupassen, als seien sie in einem Spielwarengeschäft zusammengestellt und als ein Paar verkauft worden.

 

Van Eyck hatte sein Briefpapier in Sicherheit gebracht und beschloß, Henderson in seinem Privatbüro aufzusuchen und sich bei ihm zu bedanken.

{31}Henderson überflog gerade ein acht Tage altes Wall Street Journal, während er sein Mittagessen zu sich nahm, einen großen Becher Quark, den er mit Chips auslöffelte. Er las immer beim Essen, denn er vertrat die Theorie, seine Magensäfte könnten freier fließen, wenn sie nicht durch die Unterhaltungen irgendwelcher Einfaltspinsel gestört wurden.

Was er las, war nicht wichtig, und es wurde von ihm auch nicht gezielt ausgesucht. Wenn abends der Badebereich im Klub geschlossen wurde, sammelte er all das Lesematerial ein, das weggeworfen oder vergessen worden war – Taschenbücher, Zeitungen, Reiseprospekte, medizinische Fachzeitschriften, Flugpläne, Illustrierte, gelegentlich sogar eine Aktentasche mit so interessanten Papieren wie dem streng geheimen Geschäftsbericht einer Ölgesellschaft oder den vom Konteradmiral a.D. Cooper Young ausgearbeiteten kompletten Einsatzplänen für einen kombinierten Luft- und Seeangriff auf Mogadischu. Henderson hatte keine Ahnung, wo Mogadischu lag, aber es war beruhigend zu wissen, daß Admiral Young die Situation im Griff haben würde, sollte ein solcher Angriff je einmal erforderlich werden.

Wirtschaft, Krieg, Politik, Porno, Pathologisches – Henderson verschlang alles, während seine Magensäfte rege flossen, wie ein verläßlicher alter Strom, der nie über die Ufer trat und nie versiegte. Doch selbst ein so manierlicher Strom konnte durch einen Staudamm gebremst werden.

»Sehr anständig von Ihnen, Henderson, mir dieses Zeug zu leihen«, sagte Van Eyck.

»Was?«

»Das Briefpapier. Wenn Sie es mir nicht geliehen {32}hätten, hätte ich es natürlich geklaut, aber so ist es mir lieber.« Der alte Herr räusperte sich. »Sie werden es sich als Verdienst anrechnen können, einen kleinen Beitrag zur Weltliteratur geleistet zu haben.«

»Was?«

»Ich schreibe an einem Roman.«

»Auf unserem Klubpapier?«

»Danken Sie mir lieber noch nicht, Henderson, das wäre ein wenig voreilig. Doch eines Tages könnte eine einzige Seite davon ein ganzes Vermögen wert sein.«

»Was?«

»Sie sagen immer nur was. Ist vielleicht irgendwas mit Ihren Ohren nicht in Ordnung?«

Henderson fuhr mit einem Chip in seinen Quark, aber er konnte nichts hinunterschlucken, sein Mund war trocken. Der verläßliche alte Strom war schon an seinem Ursprung versiegt. »Was Sie da auf unser Klubpapier schreiben, das soll einmal ein Vermögen wert sein?«

»Ganz richtig.«

»Und für wen?«

»Die Nachwelt. All die Leute da draußen. Im übertragenen Sinn.«

In einem weniger übertragenen Sinn sah Henderson all die Leute da draußen als eine Schlange von Anwälten, die nur darauf warteten, den Klub wegen Beleidigung, böswilliger Verleumdung und Ehrverletzung zu verklagen. Er ging hinüber zum Wasserspender, um einen Schluck zu trinken. Vielleicht würde er eine Reise nach Mogadischu buchen. Wenn dort der Krieg ausbrach, hatte er vielleicht das Glück, als einer der ersten auf der Liste der Gefallenen zu stehen.

{33}»Ach übrigens«, sagte Van Eyck, »Sie könnten mir möglicherweise bei meinen Recherchen helfen und mir sagen, wie der Klub zu seinem Namen kam.«

»Die Vögel.«

»Was für Vögel?«

»All die Pinguine, die da draußen nach Fischen tauchen.«

»Das sind Pelikane. Der nächste Pinguin ist zehntausend Meilen weit weg. Es ist eine antarktische Tierart.«

»Es muß hier irgendwo in der Nähe einen Pinguin geben«, sagte Henderson schnell. »Wie sollte der Klub sonst zu diesem Namen gekommen sein?«

»Das, guter Mann, wollte eigentlich ich von Ihnen wissen.«

»Zehntausend Meilen?«

»So ungefähr.«

»Das bringt mich in eine unmögliche Lage. Ich habe jedem, der es wissen wollte, erzählt, diese kleinen Biester seien Pinguine, und nun sind sie’s gar nicht.«

»Sie waren es noch nie.«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut. Aber lügen Sie ruhig weiter, wenn Sie wollen. Kein Gesetz kann Sie daran hindern.«

Van Eyck kehrte an seinen Tisch auf der Terrasse zurück. Es zeigte sich immer deutlicher, daß Henderson komisch wurde, genau wie all die anderen Manager vor ihm. In den nächsten Wochen würden die gleichen Symptome zu beobachten sein, er würde immer häufiger zucken, in unpassenden Augenblicken lächeln, vor sich hin murmeln. Ein Jammer, dachte Van Eyck und griff wieder {34}zur Feder. Im Grunde ist er kein schlechter Kerl, auch wenn er bei seinem Buchmacher eine Menge Schulden hat.

 

Admiral Youngs Schlachtpläne für Mogadischu kümmerten seine beiden Töchter wenig; sie trugen in der Snackbar ihre eigenen Gefechte aus. Ihre Waffen waren einfach, ihre Attacken direkt. Cordelia schlug Juliet einen Selleriestengel auf den Kopf und rannte dann zur Tür, um der Vergeltungsaktion zu entkommen; doch in dem Augenblick traf Juliet sie mit einer reifen Olive am Ohr. Der Vorfall wurde Ellen gemeldet, die ihrerseits mit Admiral Young telefonierte und ihm nahelegte, herzukommen und seine Töchter abzuholen.

Schon nach wenigen Minuten fuhr Young in seinem altehrwürdigen Rolls-Royce vor. Er war zwar seit Jahren pensioniert, aber er bewegte sich immer noch wie eins seiner Schlachtschiffe. Er vertraute völlig darauf, daß sich ihm keine Hindernisse in den Weg stellten und daß die Stabilisatoren einsatzbereit waren, falls die See stürmisch werden sollte. Er trug seinen dichten weißen Haarschopf immer noch in jenem strengen Bürstenschnitt, den er sich als junger Mann auf der Marineakademie zugelegt hatte; aus der Ferne wirkte er wie ein in ein kurzes Schneegestöber geratener Kahlkopf.

Er stellte den Rolls-Royce ins Parkverbot am Haupteingang, wo seine Töchter zusammen mit Ellen warteten.

»Was muß ich denn da über euch hören, Mädchen, ihr habt euch gestritten? In eurem Alter sollte man eigentlich wissen, daß das nicht geht.«

»Sie weiß es«, sagte Juliet. »Sie ist älter als ich.«

{35}»Nur zwei Jahre«, sagte Cordelia.

»Du konntest also schon sprechen und gehen, als ich geboren wurde.«

»Daß man nicht streiten soll, hab ich jedenfalls nicht gelernt.«

»Das müßtest du aber wissen. Jetzt bist du schon ganz erwachsen und hast noch nichts gelernt.«

»Du meine Güte«, sagte der Admiral sanft. »Bist du wirklich schon erwachsen, Cordelia?«

»Das müßtest du doch wissen. Mrs. Young hat dir ein Telegramm geschickt, als ich geboren wurde. Du warst damals gerade in Hongkong.«

»Ich hätte nicht mehr gewußt, daß es Honkong war.«

»War es aber. Sie wollte ja hinfahren, aber es hat nicht mehr gereicht, da brachte sie mich in Manila zur Welt. Im Krankenhaus waren überall Ratten.«

»Dann kam es wohl auf eine weitere Ratte nicht an.« Juliet mußte über ihren eigenen Witz so unbändig lachen, daß ihr Kopf mit den kurzen braunen Haaren wie ein Mop durchgeschüttelt wurde und sie beinahe das Gleichgewicht verlor.

»Du darfst deine Schwester nicht hänseln, Juliet«, sagte Admiral Young sanft. »Das ist herzlos.«

»Sie ist aber herzloser als ich, sie hat mir zwei Jahre Übung voraus. Ich muß aufholen. Es ist doch nur fair, daß man mich aufholen läßt.«

»Niemand kann euch garantieren, daß es im Leben immer fair zugeht, Mädchen. Man muß schon froh sein, wenn einem Gerechtigkeit widerfährt, von Mitleid ganz zu schweigen.«

{36}»Ach komm, verschon uns mit diesem Blödsinn«, sagte Cordelia.

»Spar dir’s für die Matrosen auf«, fügte Juliet hinzu.

»Oder die Hilfsmatrosen.«

»Wir sind deine Töchter.«

»Und das geschieht dir ganz recht.«

»Du hast uns auf dem Gewissen.«

»Denk mal drüber nach, Papa. Hättest du nicht –«

»Aber du hast

»Und jetzt sind wir da.«

Und jetzt waren sie da, ein in den Dienstvorschriften der Marine nicht vorgesehenes Problem, und doch bis zu einem gewissen Grad ein Produkt der Marine.

Sie waren in vielen Teilen der Welt herangewachsen. Auf der Sprachenschule in Genf lernten sie genug Französisch und Italienisch, um sich ein Essen bestellen und ein Taxi oder die Polizei rufen zu können. Sie besuchten vornehme Internate in London, Rom und Paris, doch Nachwirkungen zeigten allenfalls die Lehrer. Auf der Musikakademie in Österreich sollte Cordelia Violine und Juliet Flöte spielen lernen; doch anstatt zu üben, saßen sie lieber im Kellergeschoß und spielten Elvis Presley-Schallplatten und sahen sich die deutsche Version alter Hollywoodfilme an. An der Amerikanischen Schule in Singapur brachten sie die meiste Zeit damit zu, in einem Jeep durch die Straßen zu rasen, nachdem Cordelia irgendwo zwischen Sydney und Tokio fahren gelernt hatte. Dieser kosmopolitische Hintergrund hatte nicht bewirkt, daß sie weltoffen und umgänglich wurden; vielmehr wurden sie immer stärker isoliert. Während die äußere Welt um sie her immer größer wurde, verkleinerte und {37}verdichtete sich ihre private Welt. Auch in Gesellschaft redeten und zankten die beiden nur untereinander, als seien sie von lauter Fremden umgeben, lauter austauschbaren und unwichtigen Menschen. Wie Imker gegen Bienenstiche waren sie gegen Menschen immun geworden.

»Ich kann diesen Klub sowieso nicht leiden«, sagte Cordelia. »Du vielleicht?«

Juliet spitzte den Mund, als denke sie darüber nach. Es war natürlich überflüssig. Denn wenn Cordelia den Klub nicht mochte, mochte sie ihn auch nicht. »Nein, ich mochte ihn noch nie.«

»Gehn wir nach Hause.«

»Wir sollten uns erst bei Ellen verabschieden.«

»Wieso denn?«

»Noblesse oblige.«

»Das ist französisch. In den USA gelten für mich keine französischen Vorschriften.«

»Papa hat seinen staatsmännischen Blick aufgesetzt.«

»Also gut, meinetwegen. Wiedersehn, Ellen.«

»Wiedersehn, Ellen.«

»Auf Wiedersehn, Mädchen«, sagte Ellen.

Fast jeder nannte sie Mädchen. Cordelia war fünfunddreißig, Juliet dreiunddreißig.

 

Van Eyck hatte seinen Platz auf der Terrasse mit Bedacht so gewählt, daß er genau überblicken konnte, was sich am Eingang zum Klub abspielte. Desinteressiert – aber nicht ohne Abscheu – verfolgte er, wie sein Schwager, Admiral Young, mit den zwei Mädchen in dem Rolls-Royce davonfuhr.

Was das Militär betraf, so hatte Van Eyck ganz {38}entschiedene Ansichten, und er arbeitete seit Jahren an Plänen zur Begrenzung seines Einflusses. Van Eycks Ideen blieben im Grunde unverändert, auch wenn sich von Zeit zu Zeit die Schwerpunkte verschoben. Die Besoldung war sofort und drastisch zu kürzen, besonders in den oberen Rängen. Ruhegehälter sollten erst ab siebzig gezahlt werden, und auch dann nur für einen begrenzten, vernünftig bemessenen Zeitraum. Man sollte die hohen Tiere nicht darin bestärken, länger als nötig auf Kosten des Steuerzahlers zu leben. Kriege sollten auf Länder mit schwer auszusprechenden Namen und schwierigen klimatischen Bedingungen beschränkt werden – ersteres würde Fernseh- und Nachrichtensprecher davon abhalten, sie zu erwähnen, letzteres würde die Zahl der Auslandskorrespondenten auf ein Minimum beschränken.

Am wichtigsten war jedoch, daß Uniformen abgeschafft oder vereinfacht wurden: weg mit den extravaganten Mützen und den maßgeschneiderten Uniformröcken mit all ihren goldenen Litzen und Streifen.

Wäre die Uniform nicht gewesen, hätte seine Schwester Iris keinen zweiten Blick auf Cooper Young geworfen. Es war der zweite Blick, der den Ausschlag gegeben hatte. Bis dahin war Iris ein nettes intelligentes Mädchen gewesen, und man konnte erwarten, daß sie einen netten intelligenten Mann heiraten würde, der mit ihrem Vermögen vernünftig umging und drei, vier Söhne zeugte, die in diesem Sinne weitermachen würden. Stattdessen fiel sie auf eine Uniform rein, brachte zwei hohlköpfige Töchter zur Welt und wurde zu einem verbitterten, kranken alten Weib. Arme Iris. Der ironische Gipfel war aber, daß der Admiral in den Ruhestand trat und nun {39}seine Uniform nur noch einmal im Jahr zum Regimentsball trug. Van Eyck fand weder an der Musik noch am Tanzen Gefallen, und er gab sein Geld bestimmt nicht leichtfertig aus, aber einen Regimentsball ließ er sich nie entgehen. So wurde sein Zorn auf das Militär einmal im Jahr neu geschürt.

Van Eyck griff zur Feder und schrieb auf einen der Briefbogen, die Ellen ihm gegeben hatte: