{4}Für Faith Baldwin

{5}Wem Böses getan wird,

der vergelte mit Bösem.

W.H. Auden

{7}1

Noch war der Nachmittag warm, aber für die Nacht kündigte der Wind bedrohlichen Nebel an. Er drängte sich durch das offene Fenster, tastete mit neugierigen Fingern in der Ecke der Anmeldung herum, hob den Saum von Miss Schillers weißem Kittel und spielte mit dem dunklen Haar der jungen Frau, die an der Tür saß. Sie hielt eine Zeitschrift im Schoß, aber sie las nicht, sondern schlug nur die Seiten um, eine nach der anderen.

»Ich weiß nicht, ob Dr. Keating Sie noch annehmen kann«, sagte Miss Schiller. »Es ist schon spät.«

Die junge Frau hüstelte nervös. »Ich hab’s nicht eher geschafft, ich … ich hab die Praxis nicht gefunden.«

»Sie sind fremd in der Stadt?«

»Ja.«

»Hat jemand Ihnen Dr. Keating empfohlen?«

»Empfohlen?«

»Hat jemand Sie hergeschickt?«

»Ich … nein, ich hab den Namen aus dem Telefonbuch.« Die junge Frau erhob sich unvermittelt, die Zeitschrift und ihre billige braune Handtasche fielen zu Boden. »Ich muß sie sprechen, es ist furchtbar wichtig.«

»Dann brauche ich Ihren Namen und Ihre Anschrift, ich kann ja Dr. Keating mal fragen.«

»Violet O’Gorman, Olive Street 916

{8}»Miss?«

»Mrs. Violet O’Gorman.«

Miss Schiller fixierte sie mit einem scharfen Blick, dann wandte sie sich um und rauschte steifgestärkt in Charlottes Sprechzimmer.

Charlotte war schon umgezogen, aber sie hatte sich längst damit abgefunden, daß häufig etwas Unvorhergesehenes ihre Pläne durchkreuzte. Seit Jahren kannte sie es nicht anders.

Sie stand vor dem Wandspiegel und rückte den Hut zurecht, eine schlanke, hochgewachsene Frau knapp über dreißig, die gelassene Kompetenz ausstrahlte.

»Was ist jetzt?« fragte sie, ohne sich umzudrehen.

»Da ist eben noch jemand gekommen. Ohne Empfehlung. Hat Ihren Namen angeblich aus dem Telefonbuch.«

»Soso.«

»Nennt sich O’Gorman.«

»Wenn sie sich so nennt, heißt sie vermutlich auch so«, bemerkte Charlotte sachlich. »Und noch etwas, Miss Schiller, beim Telefonieren fragen Sie doch bitte Wie ist der Name? und nicht Wie war der Name?, das hört sich immer an, als ob Sie mit einer Leiche reden.«

»Ich gebe mir die größte Mühe.« Miss Schillers Tonfall und die schmalen Lippen machten deutlich, daß man sich für Frau Dr. Keating ohnehin vergeblich mühte.

Charlotte setzte den Hut wieder ab und ordnete mit ein paar geschickten Griffen das weiche braune Haar. Miss Schiller bedachte den Hut mit einem scheelen Blick. Sie mißbilligte Frau Dr. Keatings Stil, die Art, wie sie sich privat zu kleiden pflegte, mißbilligte die breitkrempigen Hüte und Chiffonkleider und Stöckelschuhe. Patienten, die Dr. Keating auf dem Weg zur Visite im Krankenhaus {9}trafen, konnten leicht das Vertrauen verlieren, wenn sie daherkam wie zum Bridgespielen oder zu einer Cocktailparty. Bei Miss Schiller stand ein solcher Vertrauensverlust nicht zu befürchten. Sie ließ ihren Hexenschuß vom Chiropraktiker behandeln und kaufte in einem kleinen Laden in der Stadt chinesische Kräuter zur Blutbildung.

»Bitten Sie Mrs. O’Gorman herein.«

»Ist gut, Frau Doktor.«

Miss Schiller ging hinaus und drückte dabei eine Hand ins Kreuz, um darzutun, daß sie noch unter Schmerzen ihre Pflicht tat. Charlotte lächelte. Sie wußte um den Chiropraktiker und die chinesischen Kräuter, sie wußte praktisch alles, was es über Miss Schiller zu wissen gab, und war deshalb tolerant. Du kennst ja den Spruch, hatte sie mal zu Lewis gesagt: Alles wissen heißt alles verzeihen. Das war ihre aufrichtige Überzeugung. Sie sei eine bemerkenswerte Frau, hatte Lewis erwidert, und sie hatte ihm ohne einen Funken Arroganz zugestimmt. Es war ja wirklich eine Seltenheit, daß jemand heutzutage ohne nervöse Spannungen oder Schlaflosigkeit oder eines jener obskuren psychosomatischen Symptome durchs Leben kam, mit denen sich die Hälfte ihrer Patienten herumplagte.

Charlotte war gesund und zufrieden. Sie arbeitete intensiv, aber nicht bis zur völligen Erschöpfung. Sie kannte sich in ihrem Fach, der Allgemeinmedizin, gut aus, hatte einen scharfen, wenn auch nicht besonders tiefschürfenden Verstand und einen erfreulichen Sinn für Humor. Die meisten Kollegen nannten sie Charley und redeten hinter ihrem Rücken durchaus freundlich, in Sachen Sex allerdings so gut wie gar nicht über sie. Dabei war sie keineswegs frigide, denn da gab es ja Lewis. Und früher oder später … ja, früher oder später mußte sie sich wegen Lewis etwas einfallen {10}lassen. Die Mondschein-und-Rosen-Phase lag unwiderruflich hinter ihnen, die Beziehung war jetzt eher von Sonne und Butterblumen, von stärkeren, sinnlicheren Symbolen geprägt. Lewis drängte; es wurde immer schwerer, Distanz zu halten.

Sie hatte es sich zur Regel gemacht, während der Sprechzeit nicht an ihn zu denken. Entschlossen schlug sie sich Lewis aus dem Kopf und schenkte ihre ganze Aufmerksamkeit der jungen Frau, die Miss Schiller gerade ins Sprechzimmer brachte. Miss Schiller hatte die Patientin mit festem Griff am Arm gepackt, als sei sie eine Gefängniswärterin, die eine fluchtverdächtige Schutzbefohlene vorführt.

Ihr Gesicht war rot angelaufen vor Empörung. »Was soll ich Ihnen sagen? Sie wollte nicht mit herein! Einfach getürmt. Das muß man sich mal vorstellen, wo Sie sich extra –«

»Das ist alles, vielen Dank, Miss Schiller«, sagte Charlotte.

»’türlich wollte ich mit rein«, protestierte die junge Frau, als die Tür sich hinter Miss Schiller geschlossen hatte. »Ich bin nur mal rausgegangen, weil ich ’n Schluck Wasser trinken wollte. Ich hab immer solchen Durst.«

»Setzen Sie sich, Mrs. O’Gorman.«

Die junge Frau schob sich ängstlich auf eine Stuhlkante. Sie mochte um die zwanzig sein. Dunkle Haare umrahmten ein Gesicht, das recht reizlos war, wenn man von den strahlenden Augen und der gesunden Röte der Wangen absah. Trotz der Hitze trug sie einen dicken Tweedmantel, den sie mit beiden Händen über dem Bauch zusammenhielt. Über ihre Stirn zog sich eine lange Zickzacknarbe. Das Narbengewebe war gewuchert, möglicherweise, {11}überlegte Charlotte, hatte die junge Frau es schon mit Bestrahlungen versucht, um das Mal unauffälliger zu machen.

»Gräßlich, dieser Durst, ich hab den Eindruck, daß ich leicht zehn Liter am Tag schaffe.«

»Das ist gut für Sie«, sagte Charlotte. »In Ihrem Zustand.«

Die junge Frau stieß einen leisen Schrei aus. »O Gott, sieht man es? Sieht man es schon?«

»Entschuldigen Sie, wenn ich das so sage. Ich dachte natürlich –«

»Daß man es jetzt schon sehen kann …«

»Man sieht es nicht.«

»Doch, bestimmt. Sie haben gesagt … gesagt …« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Tränen quollen zwischen ihren Fingern hervor und tropften von ihren Handgelenken.

Sie trug einen Ehering. Aber den trugen sie alle, sie kauften ihn im Warenhaus. Für manche, dachte Charlotte, muß das der schlimmste Augenblick sein, schlimmer als die Wehen. Der Augenblick, in dem sie ins Warenhaus gehen, um den Ring zu kaufen. Es ist wohl keine einzige darunter, die nicht von einer weißen Hochzeit geträumt hätte. Es war ein deprimierender Gedanke.

Schließlich fragte sie: »Wo wohnen Sie, Mrs. O’Gorman?«

»In Oregon. Ashley, Oregon.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Ja. O ja. Aber ich bin weg von ihm. Er ist nicht der, wo … Er ist nicht der … der Vater.«

»Was wünschen Sie, Mrs. O’Gorman? Wie heißen Sie übrigens mit Vornamen?«

»Violet.«

{12}»Wer hat Sie hergeschickt, Violet?«

»Keiner.« Die junge Frau machte große Unschuldsaugen, aber Charlotte ließ sich nicht täuschen. Ich will doch nicht hoffen, dachte sie, daß man sich über mich erzählt, ich nähme illegale Eingriffe vor.

»Niemand hat mich hergeschickt«, wiederholte sie. »Ich hab Ihren Namen im Telefonbuch gesehen, das hab ich auch draußen schon der Schwester erzählt, und ich bin zu Ihnen gekommen, weil Sie eine Frau sind, weil ich gedacht hab, Sie würden verstehen, wie das ist, wenn man in anderen Umständen ist und keinen Mann dazu hat.«

»Sie wollen das Baby nicht?«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Violet schlicht.

»Sie sind jung und kräftig. Wenn Sie das Kind austragen, können Sie Ihren Job bis kurz vor der Geburt behalten …«

»Ich hab aber keinen Job.«

»Dann könnte vielleicht der Mann, um den es geht, Sie in dieser Zeit unterstützen. Wenn Sie beweisen können, daß es sein Kind ist, muß er das sogar.«

»Klar kann ich das beweisen. Ich hab nicht mit Eddie zusammengelebt. Ich mach ihn verrückt, hat er gesagt, da bin ich für ’ne Weile zu meiner Schwester gezogen. Und deshalb hat er auch gleich gewußt, daß es nicht sein Kind ist.« Sie legte eine Fingerspitze an die Narbe auf ihrer Stirn. »Er hat mich mit ’ner Lampe geschlagen. Danach hab ich’s noch zwei Monate ausgehalten, dann bin ich weg von ihm. Er hat so schreckliche Sachen zu mir gesagt. Ich hab’s doch nicht aufs Fremdgehen angelegt gehabt …«

Sie fing wieder an zu weinen. Charlotte betrachtete sie nüchtern und emotionslos. (»Kann dich denn nichts erschüttern, Charley?« hatte Lewis sie vor seiner Abreise in der letzten Woche gefragt. »Erschütterung kann ich mir in {13}meinem Beruf nicht leisten. Da müßte ich ständig Tränen vergießen, und zwar völlig nutzlose Tränen, begreifst du das nicht?« Nein, das hatte er nicht begriffen. So weltklug er sonst auch war – die Bedeutung einer Gefühlsregung beurteilte er nach der Menge der ausgelösten Tränen, des freigesetzten Lachens.)

»Ich gehe davon aus, daß der bewußte Mann Sie nicht heiraten will.«

»Kann er gar nicht.« Sie kramte in ihrer Manteltasche nach einem Papiertaschentuch und fand eins, das schon tränennaß und lippenstiftverschmiert war. »Er ist schon verheiratet.«

»Wußten Sie das, als Sie –«

»Ja. Er hat’s mir gesagt. Aber damals war mir das egal. Er war so anders als die anderen Männer, die ich kannte.«

»Älter als Sie?«

»Ich schätze schon. Um die vierzig.«

»Kannten Sie ihn schon lange?«

Violet stieß einen Laut aus, der fast wie ein Lachen klang. »Ich hatte ihn noch nie im Leben gesehen.«

»Und trotzdem haben Sie – «

»Ja, ich … Aber das verstehen Sie ja doch nicht.«

»Ich werde es versuchen«, sagte Charlotte ernst.

»Na ja, er ist in die Bar gekommen, wo Eddie arbeitet … Eddie ist mein Mann. Er hat von den großen Redwoodbäumen angefangen und daß es ein Verbrechen ist, sie zu schlagen. Manche, hat er gesagt, sind viertausend oder fünftausend Jahre alt und achtzig, neunzig Meter hoch und fast wie Menschen. An die einzelnen Wörter kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es klang wie … wie ein Gedicht.«

Charlotte betrachtete sie schweigend und voller Mitleid.

»Das mit den Bäumen ist großer Quatsch, hat Eddie {14}gemeint, und als ich auch was sagen wollte, hat er geschnauzt, ich soll den Mund halten und mich zu meiner Schwester trollen, und ich hab mich nicht getraut, nein zu sagen. Eddie ist … hart.«

»Hart?«

»Früher ist er Profiboxer gewesen, bis ihm der Blinddarm durchgebrochen ist. Ich hab mir keinen Ärger einhandeln wollen, und da bin ich gegangen.«

»Aber nicht zu Ihrer Schwester.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nur bis vor die Tür, da hab ich gewartet. An seinem Wagen. Es war der einzige mit einem kalifornischen Nummernschild. Ich … eigentlich hab ich mich bloß entschuldigen wollen, weil Eddie sich so schlecht benommen hatte. Wir haben ein bißchen geredet, und dann hat er gesagt, er muß zurück zu seinem Motel, weil er ganz früh wieder weg muß. Nach Hause.«

»Das heißt hierher, nach Salinda?«

»Ja. Ich war unheimlich enttäuscht. Ich meine … ist Ihnen das nie passiert, daß Sie in einer großen Stadt sind, in Portland vielleicht, und da sehen Sie plötzlich auf der Straße einen Typ und denken, mit dem verbindet mich was, mit dem verbindet mich eine Menge … So war das bei ihm. Sie waren wohl nie in Ashley, was?«

»Nein.« Sie hörte den Ortsnamen zum ersten Mal.

»Ein ganz kleines Nest, in dem keiner bleibt. Alle fahren nur durch, nach Osten oder Norden oder Süden. Dableiben tut keiner.« Sie hob den Kopf und sagte erregt: »Ich hasse das Kaff. Und Eddie hasse ich auch.«

Und aus diesem Haß heraus, dachte Charlotte, hat sich Violet mit einem Mann vereinigt, der wie ein Gedicht zu reden versteht. In ihren Augen stand er wohl stellvertretend für all jene romantischen und aufregenden Menschen, die {15}durch die Stadt fuhren, nach Osten oder Norden oder Süden, und die nie dablieben.

»Wie das danach gelaufen ist, weiß ich gar nicht, ich weiß es einfach nicht. Ich … ach bitte, Frau Doktor, Sie müssen mir helfen.«

»Es tut mir leid, das kann ich nicht. Nicht so, wie Sie es sich vorstellen.«

Die junge Frau stieß einen Laut der Verzweiflung aus. »Ich hab gedacht … wo Sie doch eine Frau sind wie ich … und so, wie Sie sind …«

»Es tut mir leid«, wiederholte Charlotte.

»Was soll ich denn machen? Was soll ich machen mit diesem … diesem Ding, das da in mir wächst und wächst, wo ich doch kein Geld hab und keinen Job und keinen Mann. Wenn ich bloß tot wär.« Sie trommelte mit beiden Fäusten auf ihre Schenkel. »Ich bring mich um.«

»Das dürfen Sie nicht, Violet. Kommen Sie, seien Sie jetzt vernünftig.«

Miss Schiller erschien. Sie hatte an der Tür gelauscht. Sie schätzte Aufregungen und träumte häufig von Gewalttätigkeiten.

»Brauchen Sie mich, Dr. Keating?«

»Ich? Nein, danke«, sagte Charlotte frostig. »Sie können nach Hause gehen, ich schließe nachher ab.«

»Ich dachte nur …«

»Gute Nacht, Miss Schiller.«

Die Tür schlug wieder zu.

Violets Gesicht war fleckig vor Verlegenheit. »Das hat sie bestimmt mitgekriegt. Jetzt erzählt sie es überall rum.«

»Sie hat keinen, dem sie es erzählen könnte. Nur ihren Kater.«

»Ihren Kater?«

{16}»Ein großes, dickes Biest, die beiden schwatzen stundenlang miteinander. Ist Ihnen jetzt besser?«

»Nein. Wieso? Es hat sich doch nichts geändert.«

Charlotte kam sich recht töricht vor. Herkömmlicher Takt lief vor so schlichten, unmittelbaren Reaktionen ins Leere: Natürlich will ich dieses Kind nicht. Weshalb sollte ich mich besser fühlen, da sich doch nichts geändert hat?

»Solche Eingriffe sind verboten«, sagte Charlotte ohne Umschweife, »sofern sie nicht notwendig, aus medizinischer Sicht notwendig sind. Sofern nicht das Leben der Mutter auf dem Spiel steht.«

»Mein Leben steht auf dem Spiel.«

»Das glauben Sie jetzt nur. Später, wenn Sie sich damit abgefunden –«

»Bitte«, sagte Violet. »Bitte. Geben Sie mir was zum Einnehmen.«

»Das kann ich nicht. Und es würde auch nicht helfen. Die Schwangerschaft ist schon zu fortgeschritten. Wie weit sind Sie?«

»Im vierten Monat.«

Charlotte dachte an das Kind, das wohlgeborgen in Violets widerstrebendem Körper ruhte, unerschüttert von gewalttätigen Fäusten und innerer Ablehnung. Inzwischen war es schon als menschliches Wesen erkennbar, Arme und Beine gut ausgebildet, die Zervikalkrümmung verschwunden, der Kopf fast aufrecht, Nase und Lippen und Wangen bereits deutlich ausgeprägt. Vier Monate … Woher wußte sie das so genau?

»Ich weiß es eben«, sagte Violet. »Es ist nur dieses eine Mal passiert.« Sie hob den Kopf und sah Charlotte halb herausfordernd, halb ängstlich an. »Wahrscheinlich nehmen {17}Sie mir das genausowenig ab, wie Eddie es mir abgenommen hat.«

»Ich nehme es Ihnen ab.«

»Nur dieses eine Mal. Eine Minute, und jetzt sehen Sie mich an. Es ist gemein, das hab ich nicht verdient.«

»Ich weiß, ich weiß … Dieser Eddie, Ihr Mann … Vielleicht wäre es im Augenblick das beste, wenn Sie zu ihm zurückgingen. Falls er Sie wieder aufnimmt.«

»Aufnehmen würde der mich, ganz klar. Er hat’s gern, wenn ich im Haus bin, dann hat er eine, die für ihn kochen und die er schikanieren kann. Aber hier rumsitzen und reden, das bringt ja doch nichts. Sie wollen mir nicht helfen.«

»Ich kann nicht.«

»Sie können, aber Sie wollen nicht, weil Sie Angst haben. Ich hab auch Angst, mehr als Sie.« Violet machte ein finsteres Gesicht. Die Tränen hatten alle Sanftmut weggeschwemmt, die Augen funkelten wie kaltes Glas. »Bitte, kennen Sie nicht jemanden, der …«

»Nein, leider nicht«, sagte Charlotte ehrlich. Gewiß, man munkelte über den alten Dr. Chicholm, aber gemunkelt wurde viel, hin und wieder auch über sie. Meist setzten vergrätzte Patienten oder chronische Spinner solche Gerüchte in die Welt.

Violet betrachtete sie traurig und verbittert. »Ich denk mir, Sie sind nie so verzweifelt gewesen wie ich.«

Charlotte übte sich in Geduld. »Kommen Sie, Violet, es geht hier nicht um einen Wettbewerb, wer von uns mehr Angst hat oder verzweifelter ist. Es geht um ein handfestes Problem, mit Gefühlswallungen läßt sich das nicht lösen. Haben Sie denn hier eine Bleibe?«

»Mein Stiefonkel hat eine Pension in der Stadt, da darf {18}ich oben im Hinterzimmer wohnen, bis … bis die Sache geregelt ist.«

»Welche Sache?«

»Er meint, ich soll mir Geld von dem Mann holen. Von dem Vater.«

»Haben Sie es schon versucht?«

»Ja. Aber er war nicht zu Hause. Er ist verreist.«

»Kommt er wieder?«

»Ja, heute abend, hat’s geheißen.«

»Er weiß nicht, daß Sie schwanger sind?«

»Nein.«

»Was glauben Sie, wird er zugeben, daß es sein Kind ist?«

»Wird er wohl müssen. Es ist ja wirklich seins. Ich kann vor Gericht gehn, sagt mein Onkel, und ihn zwingen, daß er ’ne Menge Geld rausrückt. Ich kann ihn fix und fertig machen, sagt mein Onkel.«

»Sie sollten nicht an Rache denken, Violet. Nur daran, für sich und für Ihr Kind das Richtige zu tun.«

Es gab eine lange Pause. »Ich will ihn gar nicht fix und fertig machen. Ich nehm’s ihm nicht übel, war ja schließlich auch meine Schuld. Und ich will gar kein Geld. Ich will bloß wieder so sein wie vorher. Ohne so ein Ding, das in mir wächst. Ich verkrafte auch Eddie, alles würd ich verkraften, wenn ich wieder so sein könnte wie vorher.«

»Es tut mir leid«, sagte Charlotte. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen.«

In der Anmeldung läutete das Telefon, und Charlotte nahm ab. Es war Lewis. Ziemlich kurz angebunden sagte sie, es sei schön, daß er wieder zurück sei, er solle sie später zu Hause anrufen.

Als sie wieder ins Sprechzimmer kam, war Violet verschwunden. Sie war durch die Hintertür geschlüpft und {19}hatte als Beweis dafür, daß sie dagewesen war, nur das Knäuel feuchter Papiertaschentücher auf dem Stuhl und das Krankenblatt auf Charlottes Schreibtisch zurückgelassen. Auf dem Krankenblatt standen in Miss Schillers sauberer Bibliothekarinnenschrift nur Name und Adresse: Mrs. Violet O’Gorman, Olive Street 916.

Sie griff nach dem Blatt und behielt es eine gute Minute in der Hand. Dann knüllte sie es zusammen und warf es mit einer wütenden Bewegung in Richtung Papierkorb.

{20}2

So wie sie sich bemühte, während der Arbeitszeit Lewis zu vergessen, versuchte sie abends jeden Gedanken an ihre Arbeit auszuschalten. Es wollte ihr nicht recht gelingen.

»Du bist zappelig heute abend«, sagte Lewis.

»Findest du?«

»Darf ich mir schmeicheln, daß es die pure Wiedersehensfreude ist?«

»Darfst du nicht.«

»Aber du freust dich doch?«

»Natürlich.«

»Du hast mir gefehlt, Charley.«

Der Ton war nicht locker plänkelnd wie sonst. Seine Stimme klang müde.

Sie trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Es kam nicht oft vor, daß sie ihn zuerst, aus eigenem Antrieb berührte. Sie war eine sehr stolze Frau und erwartete, daß Lewis sie eroberte, daß er den ersten Schritt tat.

Er war Anfang vierzig, hochgewachsen, so lang und schlaksig, daß er auf kein normales Sitzmöbel paßte. Den Sessel, in dem er jetzt saß, hatte er gekauft und Charlotte geschenkt. Es war ein roter Ledersessel, der nicht in das graugelbe Farbschema des Wohnzimmers paßte. Er hob sich ab, verlangte gebieterisch nach Beachtung. Wenn {21}Lewis nicht da war, erinnerte dieser Sessel sie stets an ihn, er war ein dissonanter Ton in dem kleinen ruhevollen Raum, so wie Lewis eine Dissonanz in ihrem Leben war.

Er legte den Kopf zur Seite und hielt ihre Hand zwischen Wange und Schulter fest. Sie hatte das unvernünftige Gefühl, als habe sich ihre Hand in einer Felsspalte verfangen.

Sie brach das Schweigen. »Lewis?«

»Ja, mein Schatz.«

»Vielleicht hättest du an diesem ersten Abend bei Gwen bleiben sollen …«

»Ausgeschlossen«, sagte er kurz. »Bitte ein anderes Thema.«

»Schon gut. Wie war die Reise?«

»Wie jede Reise ohne dich, lang und fade.« Er war, wie jedes Jahr, mit zwei Anwaltskollegen eine Woche zum Angeln in die Sierras gefahren. Lewis hatte im Grunde gar keinen Spaß daran, sondern fuhr nur mit, weil es von ihm erwartet wurde. Er war ein bereitwilliger Anpasser, seine Auflehnung gegen Konventionen war rein verbal.

»Freut mich, daß es fade war, dann komme ich dir jetzt bestimmt richtig aufregend vor«, sagte sie leichthin, aber sie verspürte einen Stich des Unmuts und der Eifersucht. Die Zeit mit Lewis war knapp bemessen und kostbar. Trotzdem hatte er eine ganz Woche auf eine Angeltour vergeudet. Ich werde besitzgierig, dachte sie, da heißt es aufpassen. Menschen kann man nicht besitzen. Ich besitze meinen Wagen, mein Haus, meine Kleider … das müßte genügen. Nein, es genügte eben nicht. Am Steuer des Wagens mußte Lewis sitzen, die Kleider waren mit Rücksicht darauf ausgesucht worden, ob sie ihm gefielen, und das Haus hatte sie sechs Wochen nach ihrer ersten Begegnung gekauft, damals hatte sie noch nicht gewußt warum, sondern nur {22}gedacht, daß ihre Wohnung zu eng, nicht ungestört genug war.

Das Haus war auf drei Seiten von einer hohen steinernen Mauer umgeben. Die vierte Seite bot einen hinreißenden Blick auf Stadt und Hafen. Von Lewis’ Sessel am Panoramafenster sah man die Stadt unten ausgebreitet, ein wirres Geflecht von Lichtern, das sich den Hang hinunter bis zum Meer erstreckte. Die Stadt war mittelgroß. Groß genug für ein halbes Dutzend zweitrangiger Nachtklubs, klein genug für die rasche Verbreitung der Kunde, daß der oder jener brave Bürger dort gesehen worden war. Sie und Lewis besuchten nie zusammen einen Nachtklub, gingen nicht einmal zusammen ins Kino. Sie trafen sich in ihrem Haus – er versteckte seinen Wagen in ihrer Garage oder stellte ihn einen Block vorher ab –, oder sie tauchten nachts am Strand in der Dunkelheit unter wie all die anderen anonymen Liebespaare, deren Wagen dort sandumweht herumstanden.

»Ich mag dein Haar.« Lewis sah zu ihr auf. »Es ist braun, schlicht braun. Schlichtbraunes Haar sieht man heutzutage nicht mehr oft, meist ist es rot getönt … Charley, du hörst gar nicht zu.«

»Doch. Du hast gesagt, daß ich braunes Haar habe.«

»Ich wollte damit nur sagen, daß ich dich liebe. Alles an dir ist genau so, wie es sein muß.«

»Wie nett.«

»Nett.« Er runzelte die Stirn, die schwarzen, buschigen Augenbrauen verliehen seinem Gesicht einen Hauch von Grausamkeit. »Charley, irgendwas stimmt heute abend nicht mit dir. Ich habe wieder mal das Falsche gesagt oder getan. Oder du bist noch sauer wegen dieser Angeltour.«

»Ich bin nicht sauer. Mich beschäftigt etwas. Ein Fall von heute nachmittag.«

{23}»Komm, red ihn dir von der Seele.«

»Es ist kein Er, sondern eine Sie. Ich darf nicht darüber sprechen.«

»Das machst du doch oft, trotz der ärztlichen Schweigepflicht.«

»Ich weiß … Lewis, ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht.« Sie stand am Fenster und spielte mit ihren Fingern. Irgendwo in der Stadt, in dem Durcheinander der gelben und roten und grünen Lichter, war ein Licht, das zu Violet gehörte – ein trübes, fliegenschißgesprenkeltes Licht im Hinterzimmer einer Pension in der Olive Street. Und auch zu Gwen gehörte ein Licht. Zu Gwen, die sanft und geduldig wie immer auf Lewis’ Heimkehr wartete, die Collies an ihrer Seite, allesamt so sanft und lieb wie ihre Herrin.

»Na, wenn du nicht gerade einen deiner Patienten durch ein falsches Rezept ins Jenseits befördert hast …«

»Solche Fehler passieren mir nicht. Es war eher eine Fehleinschätzung. Die Frau … alles, was sie gesagt hat, stimmte ja. Natürlich habe ich Angst. Aber es sind so dumme, triviale Ängste im Vergleich zu dem, was sie bedrückt … Und sie hat gesagt, daß ich nie verzweifelt war. Das war ich auch nicht. Ich habe noch nie etwas erlebt, das mich zur Verzweiflung getrieben hätte.«

Sie wandte sich rasch um, weil sie den subtilen Stimmungsumschwung gespürt hatte. Lewis zündete sich gerade eine Zigarette an. Sie merkte, daß der Verlauf des Abends ihn enttäuschte und verdroß. Der erste gemeinsame Abend nach einer Woche ließ sich nicht so ideal an, wie sie es sich vorgestellt hatten, und Lewis gab insgeheim ihr die Schuld. Konnte sie denn etwas dafür, daß es ihnen nicht möglich war, sich völlig von der Außenwelt abzuschotten? Sie und Lewis würden, konnten nie allein sein, {24}ungeachtet der steinernen Mauer, die an drei Seiten das Haus umgab. Die vierte Seite war unbewacht, ungeschützt, und von dieser Seite drängten Violet herein und Gwen und Miss Schiller, ja, sogar die beiden Kollegen, die mit Lewis auf der Angeltour gewesen waren.

Sie seufzte. »Ich bin deprimiert und streitsüchtig, Lewis. Vielleicht ist es besser, wenn du gehst.«

»Vielleicht.« Er drückte die Zigarette in den Aschbecher aus Berglorbeer, den er ihr aus dem Norden mitgebracht hatte. »Allerdings lasse ich mich nicht gern herumkommandieren wie ein kleiner Junge.«

»Das war nicht böse gemeint, Liebling. Es ist nur … wenn du bleibst, geraten wir bestimmt aneinander.«

»Du kannst ganz schön penetrant daherreden. Herrgott, Charley, denkst du denn, ich bin aus Eisen? Du hältst mich hin, dann holst du mich her, und schließlich schickst du mich in die Wüste. Du hast nichts Besseres zu tun, als von irgendeiner dummen Person und ihren Ängsten zu schwatzen, dabei haben wir weiß Gott genug mit uns zu tun.« Er stand auf und packte sie unsanft bei den Schultern. »Wen interessiert das schon, wen zum Teufel interessiert das? Charley, du hast es dir doch nicht anders überlegt? Du liebst mich doch noch?«

»Ja. Natürlich.«

»Wenn ich dich festhalte, weichst du zurück, als wenn ich aus dem Mund rieche.«

»Komm, Lewis, hör auf damit«, sagte sie scharf und machte sich los. »Ich habe dir doch schon gesagt, daß ich heute abend nicht ganz ich selbst bin. Alles ist verkehrt, ist schief gerückt.«

Er machte ein grimmiges Gesicht. »Wegen dieser Frau?«

»Damit hat es wohl angefangen.«

{25}»Warum?«

»Sie ist in Schwierigkeiten. Ich habe es abgelehnt, ihr zu helfen.«

»Wie kämst du auch dazu? Wahrscheinlich eine ganz gewöhnliche Nutte, die Pech gehabt hat.«

»Nein. Sie ist ein nettes Mädchen, sensibel und sehr hilflos.«

»Solche Fälle hast du doch öfter. Warum beunruhigt dich der hier so?«

»Unseretwegen, Lewis. Verstehst du denn nicht …«

»Nein.«

»Wenn wir so weitermachen, wenn wir ein Liebespaar werden, könnte ich versehentlich in demselben Boot landen wie sie.«

Er schnaubte verächtlich. »Jetzt verstehe ich. Aus irgendeinem unverständlichen Grunde hast du dich mit dieser Person identifiziert und mich mit dem Kerl, der ihr das Kind gemacht hat, der gefühllosen Bestie Mann.«

»Nein, das stimmt nicht.« Sie forschte in seinem Gesicht nach Anzeichen von Verständnis. »Was würdest du tun, wenn ich schwanger wäre?«

»Bei unserer platonischen Beziehung? Es darf gelacht werden.«

»Ich sehe dich nicht lachen. Was würdest du tun?«

»Komm, hör auf. Du würdest nicht schwanger werden.«

»Aber möglich wäre es.«

»Nicht bei entsprechender Absicherung.«

Sie lächelte mokant. »Eine interessante Analogie. Wenn du eine Erdbebenversicherung abschließt, bist du finanziell gegen ein Erdbeben gesichert. Sie gibt dir keine Garantie dafür, daß du um ein Erdbeben herumkommst. Das Gefühl der Sicherheit ist trügerisch.«

{26}»Erdbeben … Das hat uns gerade noch gefehlt. Herrgott, Charley, was ist nur in dich gefahren? Du wirst langsam neurotisch.«

»Meinst du?« Sie wandte das Gesicht ab. »Es ist wohl besser, wenn du gehst.«

»Aber ja«, sagte er. »Bitte sehr, bitte gleich.«

Er ging quer durchs Zimmer zur Tür, sehr langsam, um ihr Gelegenheit zu geben, ihn zurückzurufen. Sie tat es nicht, sondern blieb am Fenster stehen, bis sie den Wagen aus der Garage donnern hörte. Das wütende Hochjagen des Motors ließ darauf schließen, daß Lewis seinen Zorn an dem Fahrzeug ausließ.

Seine Zigarette glühte noch. Sie brachte den Aschbecher in die Küche und wusch ihn ab, mit zornig-ungelenken Bewegungen. Wenn sie sich ärgerte, äußerte sich das nicht wie bei Lewis in jäh aufflammender Wut; das Hochjagen eines Wagens, ein zerbrochener Golfschläger waren für sie kein Ventil. Charlottes Zorn war kalt und langsam, ergriff nach und nach Besitz von ihrem ganzen Körper, dem ganzen Nervensystem, und machte Sprache und Bewegung nahezu unmöglich.

Sie dachte an all das, was sie hätte sagen wollen, sprach die Sätze leise vor sich hin, umformulierend, zuspitzend, bis sie eine funkelnde Schärfe hatten wie Diamanten. Es kam nur selten vor, daß sie sich eine derart kindische Genugtuung gestattete.

Sie sah auf die Uhr. Halb zehn. Inzwischen dürfte Lewis zu Hause sein, bastelte wohl gerade an einer Lügengeschichte für Gwen. Miss Schiller steckte sich indessen das Haar auf und sprach mit ihrem Kater, erzählte ihm vielleicht von Violet: »Heute war eine liederliche Person in der Sprechstunde, frech wie Rotz, wollte die Frau Doktor dazu {27}bringen, ihr das Kind wegzumachen. Was so alles passiert … Und was für Leute man kennenlernt …«

Ja, was so alles passiert. Charlotte bekam Gewissensbisse. Ich hätte der Frau helfen sollen, dachte sie. Ich wollte ja auch etwas für sie tun, aber da war sie schon weg.

Sie stand am Fenster und spielte mit ihren Fingern. Grauer Nebel hing tief über den fernen Giebeln und machte sie unscharf wie Traumbilder. Unter einem dieser Dächer verbrachte Violet eine unruhige Nacht, ohne Freunde, ohne Geld, mit dem Gedanken an den Tod als einzigem Begleiter.

Olive Street 916. Die Adresse hatte sich in ihrem Gedächtnis festgesetzt wie Angst und Leid der jungen Frau, die ihr als dicker Klumpen in der Kehle steckten.

Entschlossen wandte sich Charlotte vom Fenster ab, trat an den Dielenschrank und griff nach Hut und Mantel.

{28}3

Dtamales,