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Gerhard Streminger

Die Fremde

Roman

GERHARD STREMINGER

Die
Fremde

Roman

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Prolog

1. Brief Das stille Tal

2. Brief Die Dorfgemeinschaft

3. Brief Eine verzauberte Welt

4. Brief Das Flüchtlingskind

5. Brief Bau der Staumauer

6. Brief Neues Leben in Übersee

7. Brief Ablassen des Stausees

8. Brief Homo faber

9. Brief Teddy und das Erhabene

10. Brief The circle is broken

Epilog

Nachwort

Prolog

Vor vielen Jahren, als ich noch im Norden der Vereinigten Staaten lebte, erhielt ich von meiner Großmutter alle paar Wochen einen fein säuberlich mit der Hand geschriebenen Brief. Sie lebte damals in einem Altenheim in Florida. In ihren Schreiben teilte sie mir Bedeutsames aus ihrem Leben und aus dem unserer Familie mit, beginnend mit ihren Kinder- und Jugendjahren in der ehemaligen schottischen Heimat.

Meine Großmutter hatte ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen, und auch zuvor hatten wir uns aufgrund der großen Entfernung der Orte, an denen wir lebten, nur sehr selten getroffen. Wie nahe sie mir die ganze Zeit über war, wurde mir erst im Lauf der Lektüre bewusst. Als ich den ersten Brief aus dem Postkasten zog, war ich noch einigermaßen verblüfft, doch bald erwartete ich den jeweils nächsten mit wachsender Ungeduld. Sobald ich das neue Schreiben erhalten hatte, ging ich in den Lesesaal der Universität, um es – in einem der alten, bequemen Fauteuils sitzend – entspannt und in besonders anregender Atmosphäre zu lesen. Häufig unterbrach ich die Lektüre und hielt inne, um über das soeben Gelesene nachzudenken und die Bäume vor den Fenstern zu bestaunen. Bei stürmischem Wetter wurde ihr Geäst einmal zusammengedrückt, dann wieder auseinandergerissen, sodass Zweige und unzählige Blätter zu Boden fielen. Selbst bei geschlossenen Fenstern war das Rauschen der Bäume und das Heulen des Windes zu hören, und da die meisten Studierenden zumindest sporadisch aufmerksam lauschten, verbreitete sich im Lesesaal eine konzentrierte Stille und ein allgemeines Gefühl von Geborgenheit.

Als ich Wochen später den dritten Brief erhalten hatte, rief ich meine Großmutter im Altenheim an. Nach einem kurzen Austausch verbaler Herzlichkeiten erzählte ich ihr von meinem Erstaunen, dass sie gerade mir diese Briefe geschickt hatte und fragte nach Dingen, die sich während des Lesens aufgedrängt hatten. So wollte ich unbedingt mehr über meine europäischen Urgroßeltern wissen. Aber meine Großmutter winkte ab und bat mich, diese Fragen auf die Zeit nach Erhalt des letzten Schreibens zu verschieben, da sich vieles, so meinte sie, dann ohnedies von selbst erklärt haben werde. Somit beschränkte ich mich zunächst auf die genaue Lektüre des Geschriebenen, und zwar mit ständig wachsender Neugierde und Betroffenheit.

Konkrete Fragen wollte meine Großmutter also nicht beantworten, wohl aber nannte sie Gründe, weshalb sie sich überhaupt zum Schreiben entschlossen hatte.

„Ich wollte“, sagte sie langsam, „viele drängende Erinnerungen und Erlebnisse endgültig in Gedanken fassen und diese dann für dich in anschaulicher Weise zu Papier bringen.“

So sei es ihr zum Teil tatsächlich gelungen, meinte sie, gegenüber einer Vergangenheit, die nicht vergehen wollte und dauernde Gegenwart geblieben war, ein wenig Abstand zu gewinnen.

Damals war ich einigermaßen irritiert, als mir meine Großmutter dies telefonisch anvertraute. Mittlerweile sind jedoch viele Jahre vergangen, und ich glaube, besser zu verstehen, was sie damit gemeint hat. Ihre insgesamt zehn Briefe bewahre ich als Andenken sorgsam auf. Da ihre Schreiben eine Unmenge an Naturbeobachtungen, an Allgemeinmenschlichem und philosophischen Wahrheiten enthalten, habe ich mich entschlossen, sie zu veröffentlichen. Für die Publikation wurden einige kleinere inhaltliche Ungenauigkeiten behutsam korrigiert, aber an der Form und am Inhalt des Geschriebenen gewissenhaft festgehalten. Auch die Überschriften zu den einzelnen Briefen stammen von meiner Großmutter. Offensichtlich wollte sie ihre jeweilige Sicht der Dinge unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkt konzentrieren und mitteilen.

Lange habe ich mir überlegt, ob meine Großmutter Einwände gegen eine Veröffentlichung erhoben hätte. Unterdessen bin ich mir aber ziemlich sicher, dass sie dies nicht getan hätte. Denn die Briefe, die in Wirklichkeit kleine Essays oder Kurzgeschichten zu ganz bestimmten Themen aus ihrem Leben und aus dem unserer Familie sind, enthalten nichts, was rein zufällig oder gar bloß persönlich wäre.

Enya Macleod

1. Brief

Das stille Tal

Liebe Enya,

während des Sommers hat es in Florida praktisch nie geregnet. Die heißen Tage konnte man daher fast nur in Gebäuden verbringen, aber dort liefen die Klimaanlagen zumeist auf Hochtouren, sodass ich oft im Pullover dasaß und es mich dennoch fröstelte. Aber heute Nachmittag hat es endlich wieder geregnet, und die tröstenden Regentropfen trommeln gelegentlich noch immer auf das Dach der Veranda, auf der ich nun im Rollstuhl sitze. Es ist Nacht und still geworden, und die Singzikaden, die in Erdlöchern und Mauerritzen Unterschlupf gesucht hatten, beginnen erneut, um die Wette zu zirpen. Für mich gehört dies zu den schönsten und meditativsten Naturgeräuschen, die ich kenne, insbesondere dann, wenn der Gesang der Zikaden mit einem Tonband aufgenommen wurde und ganz langsam abgespielt wird.

Meine Gaslampe, die neben mir steht und die ich vor langer Zeit in einem der hiesigen Antiquitätenläden gefunden habe, wird von Dutzenden Insekten und Nachtschmetterlingen umschwirrt. Ihre Flamme habe ich auf ganz klein gedreht, sodass eine Stimmung zwischen Tag und Nacht entsteht, die meine Vorstellungskraft am ehesten beflügelt. Völlige Finsternis verbirgt die Gegenstände und macht Angst. Doch wenn Tag und Nacht einander berühren, wird mein Geist beweglicher, und es fällt mir leichter, von der eigenen Sicht der Dinge loszulassen und anderes ernst zu nehmen. Dann tauchen neue Horizonte auf, und es kommen Dinge zum Vorschein, die ansonsten verborgen geblieben wären. Zugleich gibt es bei Dämmerlicht noch genügend Helligkeit, um zu schreiben und schon lange Gedachtes zu Papier bringen zu können. Nach diesen einleitenden Worten, die dir vielleicht als ein wenig fremd erscheinen, möchte ich mit meiner Geschichte beginnen.

Schon seit Längerem habe ich von dir, liebe Enya, nichts mehr gehört. Deine Eltern haben mich jedoch in jüngster Zeit einige Male angerufen und mir mit hörbarem Stolz mitgeteilt, dass du nach Minneapolis gezogen bist, um dort Kunstgeschichte zu studieren. Sie hatten auch erwähnt, dass du dich – vielleicht gerade wegen des Ortswechsels – mehrmals nach der genauen Herkunft unserer Familie erkundigt hast. Weil auch mich, nun schon eine Greisin geworden, diese Frage immer noch umtreibt, möchte ich dir davon erzählen. Mein eigenes Leben wird mir dabei als roter Faden für eine kleine Geschichte unserer Familie dienen. Ich werde dir von unserer ehemaligen Dorfgemeinschaft berichten sowie von jenem Haus, in dem meine Geschwister und ich groß geworden sind; sodann von der Schule und der Landschaft, in die eingebettet unser Leben seinen gewohnten Lauf nahm. Als Kind erkundete ich die nähere und weitere Umgebung um das Dorf mit meinem Vater, und später gemeinsam mit Joy, meinem border collie. Ich hoffe, dass es mir gelingen wird, dir jene Nähe zu vermitteln, die zwischen uns Menschen und zwischen uns und der Natur geherrscht hat. Vor dem Hintergrund dieser Vertrautheit erlebten wir das, was dann auf uns einbrach, als furchtbare Katastrophe. Doch zuerst zur Idylle davor.

Unsere Familie stammt zum Großteil aus Schottland und zu einem kleinen Teil aus Irland und Deutschland, vornehmlich jedoch von den schottischen Highlands and Islands. Aber noch ehe ich auf uns Menschen zu sprechen komme, möchte ich dir in groben Umrissen zuallererst die Landschaft vorstellen, die uns umgab und behütete, und deren Fruchtbarkeit unsere Großfamilie jahrhundertelang ernährte.

Der untere Teil jenes Tals, in dem die meisten unserer engeren Vorfahren lebten, hat die Form eines mächtigen Troges. Knapp vor Talschluss stand beiderseits eines Flusses unser Dorf. Wenn man von dort nach Osten ins Landesinnere wanderte, stieg die kleine Schotterstraße fast kontinuierlich an. Nach etwa fünf Meilen machte das Tal einen sanften Bogen nach Norden. An den Abhängen, links und rechts vom Weg, entsprangen Quellen, an deren sumpfigem Ursprung langstielige, leuchtend grüne Gräser wuchsen. Das Quellwasser floss in kleinen Rinnsalen wie Blut in den Adern die Abhänge hinab. Am Talboden vereinten sie sich zu kleinen Bächen, und diese wiederum zu einem beachtlichen Fluss. Bisweilen führten schmale Gehwege von der Schotterstraße weg, die Bäche entlang.

Nach weiteren fünf Meilen war der Anfang des Haupttals erreicht. Eine gewaltige Felswand bildete den Abschluss, aber zwei kleine Seitentäler führten um sie herum in die Ferne. Wenn man sich dort umdrehte und den etwa zehn Meilen langen Weg zurück in Richtung Dorf wanderte, passierte man als Erstes einige bizarr geformte Findlinge. Der größte ähnelte dem Bug eines Riesenschiffs, das aus einem grünen, mit Felsbrocken gesprenkelten Meer ragte. Wenn ein böiger Wind sanft wie ein großer, unsichtbarer Pinsel über das Gras strich, wogte dieses gleich den Wellen in einer abgeschiedenen Bucht langsam hin und her.

Verstreut im weiten Grün der Almlandschaft standen auf kleinen Anhöhen mehrere, ganz aus Stein erbaute Häuser. Einige wenige wurden noch bewohnt, aber bei den meisten waren die Hausdächer eingebrochen, und Moos und der sich wie eine Krake ausbreitende Efeu hatten die Gebäude für Menschen unbewohnbar gemacht. Mancherorts, geschützt durch die noch aufrecht stehenden Seitenwände, wuchsen Büsche und Zwergbirken aus den ehemaligen Wohnzimmerböden ins Freie, an einer Stelle sogar durch die noch erhalten gebliebenen steinernen Fensterrahmen. Ein paar Hirten lebten hier mit ihren Schafen und Hunden gefährlich nahe den Gewalten der Natur, den Stürmen vor allem, aber auch den unberechenbaren Stein- und Schneelawinen. Diese machten bisweilen einen solchen Lärm wie ein Tornado und waren im ganzen Tal zu hören. In den oft nur handtuchbreiten Feldern um die Steinhäuser, die voneinander durch Drainagegräben getrennt waren, gedieh auf den kargen Böden etwas Gemüse. Früher tauchten an dieser Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation noch Wölfe, Bären und Luchse auf, die mitunter eine ganze Schafherde rissen. Aber diese Wildtiere gab es zu meiner Zeit schon lange nicht mehr, allerdings lebten jenseits der Baumgrenze bemerkenswert viele Greifvögel. Diese, auch der Goldene Adler, gingen bevorzugt dort auf Jagd, wo der Blick offen und es für mögliche Beutetiere schwierig war, rasch einen Unterschlupf zu finden.

Wenn man weiter talabwärts in Richtung Dorf wanderte, wurden die Gehöfte häufiger und der Pflanzenbewuchs üppiger. An einigen gut zugänglichen Orten wurde Torf gestochen. Dort, wo er abgebaut war, bildeten sich inmitten des glänzenden Schwarz der Erde binnen Kurzem kleine Moortümpel. Noch weiter talabwärts gediehen die ersten größeren Büsche, einige kleinwüchsige Erlen sowie große Farne und Schachtelhalme. Sie alle sprossen bevorzugt in jenen windgeschützten Furchen, wo sich bei Hochwasser Rinnsale und kleine Wasserfälle tief in den Boden gegraben hatten. Von der Ferne ähnelten diese bewachsenen Bachbette dunkelgrünen Dachrinnen, die stets nach unten zeigten, aber ungeordnet an den Abhängen der Hügel herumlagen. Die Erosion war immer dort am größten, wo bei Hochwasser das Gewässer am raschesten floss. Im Gegensatz zum Talanfang waren nun praktisch alle Felsen mit den Pflanzen ihrer Umgebung verwachsen.

Bereits in Sichtweite des Dorfes gab es in größeren Talsenken die ersten kleinen Wälder, häufig eine Gruppe schottischer Pinien, die wie riesige Regenschirme – zum Teil ein wenig in Schräglage – aus dem Boden ragten und gelegentlich einen scharfen Harzgeruch verbreiteten. Überall auf den Hängen grasten zwischen den in unterschiedlichsten Grünschattierungen leuchtenden Pflanzen weiße, stoisch ruhige und manchmal beinahe froschäugige Schafe. Ihre Nahrung fanden sie zwischen Heidekraut und Farnen, und zuweilen auch zwischen schwarzen Erdhaufen, den Produkten der Wühlarbeit von Maulwürfen auf ihrer Suche nach Regenwürmern.

Wenn die Rinnsale und kleinen Bäche des Tals einander begegneten, waren sie noch durchsichtig bis zum steinernen Grund. Aber nach einer stürmischen Umarmung und der gemeinsamen Reise in Mäandern durch Wiesen und kleine, algenreiche Tümpel änderten sie die Farbe, und ihr Wasser glänzte manches Mal bei Sonnenschein wie Öl. Glasklar waren Bäche in eines der vielen kleinen Moore geflossen, die im Frühsonnenlicht bronzefarben schimmerten, und das Sumpfgebiet verließen sie voller Schwebstoffe, koloriert wie Pferderücken. Der letzte Zusammenfluss zweier nun bereits stattlicher Bäche geschah unmittelbar unter jener Steinbrücke, die den östlichen Teil unseres Dorfes mit dem westlichen verband. Verglichen mit seinem Oberlauf floss das Wasser nun träge dahin, und wenn es längere Zeit nicht geregnet hatte, tauchten im Flussbett kleinere Sandbänke auf. Einmal ähnelte eine solche einem menschlichen Körper, sodass ich zuerst dachte, jemand ruhe sich dort am Ufer aus. Nach dem nächsten Hochwasser war der sandige Gast wieder verschwunden.

Einige hundert Meter vom Dorf flussabwärts nahm das Gewässer erneut Geschwindigkeit auf und stürzte über eine Hangschulter. War es kalt, so verbarg sich der kleine Wasserfall hinter einem riesigen Schleier aus Nebel. Unterhalb der Hangschulter ergoss sich der Fluss über und zwischen Felsen in eine Hunderte Meter tiefer gelegene Ebene, die von fernen Hügeln eingerahmt und vom Fluss aus unserem Tal entwässert wurde; hinter den Hügeln lag bereits das Meer. Der Boden dieser großen, fast kreisrunden Ebene wurde von den dort lebenden Menschen intensiv genutzt und diente als Acker- und Weideland. Verstreut in der Landschaft standen mehrere Scheunen, in denen im Herbst das Heu für die Wintermonate eingebracht wurde. Etwa in der Mitte der Ebene befand sich eine stattliche Siedlung, die Neustadt. Einige wenige Villen waren von Parks umgeben und damit auch abgeschirmt vor neugierigen Blicken. Aber die meisten Häuser hatten mehrere Stockwerke, standen frei in der Landschaft und beherbergten üblicherweise mehrere Kleinfamilien.

Das Leben dort unten in der Ebene war um einiges bequemer als bei uns hier oben. Alle Felsbrocken, die verstreut in der Landschaft umherlagen, waren gesprengt und weggeschafft, alle Moore trockengelegt worden, und ein dichtes Wegenetz erlaubte die maschinengerechte Bewirtschaftung des Bodens. Doch von uns aus, wo alles noch um einiges ursprünglicher war, hatte man eine grandiose Aussicht und damit auch einen weitaus größeren Überblick. Sobald man einen der steileren Hügel in der näheren Umgebung des Dorfes erklommen hatte, konnte man die ganze Ebene und über diese hinaus das Meer sehen sowie die vielen kleinen Inseln, die der Küste vorgelagert waren. Besonders auffallend war die Insel mit dem Hügelchen in der Form einer holländischen Haube. Alle diese Eilande waren unbewohnt, wurden jedoch als Weideplätze genutzt. Im Frühjahr, wenn das Gras wieder zu sprießen begonnen hatte, brachten die Viehbauern Schafe oder Rinder auf die Inseln, und vor Wintereinbruch wurden sie wieder nach Hause transportiert. Oft waren die Tiere, vor allem unsere langhaarigen, kuscheligen Rinder, die noch allein kalben konnten, in der Zwischenzeit derart verwildert, dass ein Einfangen unmöglich geworden war und sie getötet werden mussten.

Vom großartigen Ausblick einmal abgesehen, hatte das Leben oben im Dorf zudem den Vorteil, dass es im Winter ungleich mehr Sonnenstunden gab, während sich in der Ebene oft wochenlang hartnäckig der Nebel hielt. Aber im Sommer war es meist genau umgekehrt. Trotz des Windes, der beinahe dauernd wehte und hauptverantwortlich war für das sich ständig ändernde Wetter, hingen in einem Sommer viele Tage lang die Regenwolken so tief über dem Dorf, dass nicht einmal Hügelkämme, geschweige denn ferne Bergspitzen zu erkennen waren. Als sich der Luftdruck endlich erhöht und ein Sturm die Wolkenbänke halbwegs verblasen hatte, schien wieder die Sonne, die Zärtliche, die uns alle wärmt und frei atmen lässt, in voller Pracht. Als wäre ein dunkelgrauer Vorhang vor unseren Augen weggezogen, öffnete sich der Blick, und Bergrücken ragten wie ehedem aus dem Nebel. Ich konnte mich nicht sattsehen an der großartigen Kulisse und staunte, dass jenseits des verdüsterten Himmels während der ganzen Zeit etwas existiert hatte, das für uns Dorfbewohner unsichtbar geblieben war.

Das riesige Tal wurde von vier- bis fünfhundert Menschen bewohnt. Ihre Behausungen lagen zumeist verstreut auf kleinen Anhöhen, wo ein relativ trockener Boden zu finden war. Nur in unserem Dorf am Talschluss gab es eine größere Ansammlung von etwa fünfzig Gebäuden. Neben den Häusern waren da und dort Birken oder Eichen gepflanzt, auch einige Föhren, die im Winter nur zum Teil ihre Nadeln verloren. Überragt wurden alle Bäume in ihrer Größe von einer mächtigen Trauerweide unten am Flussufer, deren lange, schnurdünne Zweige praktisch dauernd hin und her wogten. Wenn die Sonne schien, tanzten im Wasser unterhalb des Baumes jene Strahlen, die den Weg zwischen den Blättern bis zur glitzernden Wasseroberfläche gefunden hatten. Für uns Kinder war es immer ein besonderer Nervenkitzel, über dem Wasser mit nackten Füßen im Geäst der Trauerweide, deren dicke Arme fast den Boden berührten, umherzuklettern. Sobald die Bäume eine gewisse Höhe erreicht hatten, wurden sie die bevorzugten Rastplätze von Vögeln. Wenn diese, vor allem die massiveren Krähen, auf kleineren Ästen landeten oder von dort aufflogen, wippten die Zweige oft noch sekundenlang nach.

Das Dorf funktionierte für das Tal wie ein Herz, das eine ständige Zirkulation schuf und den Menschen die Gelegenheit bot, viele wichtige Dinge zu erfahren. Zwar gab es kein Geschäft, das täglich geöffnet gewesen wäre, aber wöchentlich wurde ein Markt abgehalten, bei dem alle ihre Waren feilbieten und Benötigtes erwerben konnten. Gewitzte Käufer oder Verkäufer machten nach jedem geglückten Handel ein Gesicht wie nach sieben trübseligen Regentagen. Neben dem Tausch verschiedenster Waren hatten sich einige Dorfbewohner auf eine bestimmte Tätigkeit spezialisiert und wurden von ihren Nachbarn bei Bedarf zu Rate gezogen, wie etwa der Dorfschuster.

Da die Entfernung zwischen den Gebäuden gering war, lebten praktisch alle Dorfbewohner in Rufweite, was den meisten sehr behagte. Denn aufgrund der Mühsal, die ihnen das exponierte Leben in den Highlands abverlangte, waren sie aufeinander angewiesen. Zwar gab es gewöhnlich genügend Nahrung, aber eine Missernte machte die Lage sogleich prekär. So fiel einmal, wie mir von Alten erzählt wurde, wegen des vielen Regens mehrere Jahre lang die Kartoffel- und Getreideernte aus, da die Knollen und Ähren verfaulten. Während dieser mageren Jahre schlachteten Menschen die ebenfalls halb verhungerten und kaum noch nahrhaften Rinder oder ließen diese zur Ader, um das spärliche Essen mit deren Blut ein wenig aufzubessern. Da die weiblichen Kühe nicht mehr empfängnisbereit waren, gab es nach einiger Zeit auch kein Rindfleisch mehr. Während dieser Hungersnot war eine Kuh mehr wert als ein Menschenleben. Die letzte größere Nahrungsquelle waren Meeresfische, die während des Frühjahrs und Sommers in großen Mengen gefangen werden konnten und zumindest den Clans, die an der Küste lebten, zur Verfügung standen. Nach sieben Jahren, als die Totenglocke fast wöchentlich düster durchs Tal dröhnte, wollten auch die letzten noch Verbliebenen ihre Heimat verlassen, als sich endlich das Wetter besserte und sich das Angebot an Nahrung langsam wieder vergrößerte.

Mühsal, Gefahren und Schwierigkeiten gab es in den Highlands also zuhauf, weshalb deren Bewohner ihre Beziehungen untereinander sorgsam pflegten und ihnen Hilfestellung sowie Gastrecht geradezu heilig waren. Die Menschen lebten Seite an Seite mit dem Gefühl, geborgen zu sein und gebraucht zu werden. Falls irgendwelchen Eltern ein Unglück zustieß, wenn sie etwa krank wurden oder gar starben, war es eine Selbstverständlichkeit, dass Verwandte oder Nachbarn die Kinder mitversorgten und, wenn nötig, in ihr Haus aufnahmen und in die eigene Familie integrierten.

Unser Tal wurde zumindest seit Jahrhunderten von Menschen bewohnt. Denn ein alter Handelsweg, der über weite Strecken dem kurvenreichen Lauf unseres Flusses gefolgt war, hatte durch das Tal über die Hügel zu einem Pass geführt, der einen relativ bequemen Durchgang zwischen den hohen Gebirgen erlaubte. Weil diese Gegend so lange von Menschen bewohnt war, trug jeder Bergkessel, jeder größere Felsen und jeder Hügel einen eigenen Namen, und es gab zumeist auch eine Erzählung oder Sage, die diesen erklärte.

Trotz relativer Armut und der Härte des Lebens hingen die meisten mit allen Fasern ihres Herzens an ihrem Tal, das sie bis in die kleinsten Einzelheiten kannten und wo so viele ihrer Verwandten oder Vorfahren wohnten oder gewohnt hatten. Ihr Lebenssinn wurzelte in der Vertrautheit mit der Landschaft und in der unmittelbaren Nähe geliebter Menschen. Natürlich gab es zwischen ihnen auch manche Konflikte, und unter einer ziemlich ruhigen und entspannten Oberfläche verbarg sich oft unermessliches Leid. Aber selbst dann, wenn man die ärmlicheren Hütten betrat, strömte einem zumeist ein herzliches Willkommen und eine Zufriedenheit entgegen – und die Wärme eines Herdfeuers, über dem zur Mittagszeit Kartoffeln, Teigwaren oder Wildbret im Fett brutzelten.

Ohne Wetterkapriolen herrschte kein Mangel an Nahrung, weshalb die meisten es als Selbstverständlichkeit erachteten, dem Laird, also dem Oberhaupt oder „Vater“ des Clans, einen Anteil der Ernte zu überlassen. Früher bestand seine Aufgabe darin, für Sicherheit zu sorgen und Recht zu sprechen. Aber diese Funktionen hatten seit Jahrhunderten staatliche Organe übernommen, genauer gesagt seit der Schlacht von Culloden im Jahre 1746, der letzten Landschlacht auf britischem Boden. Damals waren die gälisch sprechenden Schotten aus den Highlands, also die Kelten, von Engländern und englisch sprechenden Schotten aus den Lowlands, also von germanischen Völkern, vernichtend geschlagen worden. In meiner Jugend beschränkte sich der Laird darauf, für einen emotionalen Zusammenhalt innerhalb des Clans, seiner „Kinder“ zu sorgen.

Ein unabhängiger Stolz war selbst den einfachsten Dorfbewohnern eigen, der wohl der generationenlangen Erfahrung geschuldet war, mit so vielen Schwierigkeiten konfrontiert gewesen zu sein und sie dann doch mit Einfallsreichtum und Fleiß gemeistert zu haben. Neben diesem Selbstbewusstsein besaßen die meisten einen ausgeprägten Sinn für die Natur, für ihre Wohltaten und ihre Gefahren, für den langsamen Wandel der Jahreszeiten und das Besondere eben jenes Tals, in dem wir gemeinsam miteinander lebten. All das, die Schönheiten der Natur und ihre Schrecken, wurde in zahlreichen Liedern und Balladen besungen. Jene, die außerdem einen berühmten Namen trugen oder als Mädchen einen solchen getragen hatten, etwa jenen des Königsgeschlechts der MacDonalds, erfasste zudem oft ein fast unbändiges Selbstwertgefühl, und sie bewegten sich bis ins hohe Alter anmutig wie Schwäne. Aber weil diese Gegend schon seit vielen Generationen von Menschen besiedelt wurde, war sie auch der Schauplatz vieler Tragödien, die jede Familie von Zeit zu Zeit, manche auch fast ständig heimsuchten. Trotz aller Schönheit der Natur und trotz einer sozialen Ordnung, die unausgesprochen von den meisten akzeptiert wurde und in die verwoben unser Leben seinen gewohnten Lauf nahm, schwebte ein Schleier aus Melancholie über dem Tal. Graue, am Himmel langsam dahinziehende und sich ständig ändernde Wolken, diese Symbole von Vergänglichkeit, spiegelten sich im Innersten vieler Menschen in einem tiefen See unsagbarer Traurigkeit wider.

So gab es im Dorf ein Haus unten am Fluss, in dem ein älteres Ehepaar lebte, von Kummer gebeugt. Denn die beiden Söhne, ihre einzigen Kinder, hatten im letzten Krieg ihr Leben verloren. Mühe und Trauer hatten den beiden offenbar das Herz gebrochen, denn zu lebensbejahenden Emotionen waren sie nicht mehr fähig. Sie schlossen sich völlig von der Gemeinschaft aus, um ungestört in ihrer Erinnerungs- und Traumwelt leben zu können. Wir alle versuchten, sie wieder in die Gemeinschaft zu integrieren, aber mit Ausnahme kleiner Essensgeschenke wiesen sie jede Hilfestellung und jeden Kontakt brüsk von sich. Niemand wagte es, ihre Hütte zu betreten, deren Fenster immer mit Decken verhangen waren. Eines Tages brach eine enge Verwandte der beiden, die weit weg auf einer Insel im Westen lebte, die Tür zur Hütte mit Gewalt auf. Was sie uns danach mit Entsetzen schilderte, machte uns alle noch mehr betroffen und blieb im Dorf ein Dauerthema:

Das Zimmer, in dem die beiden hausten, war durch eine Wand aus geflochtenen Weiden vom übrigen Teil des Raumes getrennt. Hinter der Absperrung lebten, in Käfige gesperrt, einige Kaninchen. Das Wohnzimmer war feucht und schmutzig. Verschiedenste schlechte Gerüche brachten die Verwandte fast zum Erbrechen. Die Hüttenwände aus Torf waren nicht mit Holz verkleidet, neben der Feuerstelle stand ein ungehobelter, speckiger, schwarzer Tisch aus Föhrenholz. Aus fürchterlich schmutzigen Betten, die an der Wand standen und einer Wanne ähnelten, starrten sie große, braune Augen aus hageren Gesichtern entsetzt an, als sie die Hütte betrat. Während ihrer Anwesenheit versuchte die Verwandte, ein wenig Ordnung zu machen. Nach ihrer Abreise kamen in klaren Sommernächten, wenn der Mond hell schien oder Tausende Sterne am Nachthimmel funkelten, die beiden Alten sporadisch aus ihrer Hütte, setzten sich auf eine der Bänke oder Sitze aus Torf nahe der Häuser und schauten in die Ferne. Insbesondere bei leichtem Bodennebel tauchte das Licht des Mondes die Heide und die Hügel in einen fahlen Schimmer, manchmal in schaurige Knochenfarben. Niemand hat die bedrückten Alten bei ihren Nachtspaziergängen jemals ein Wort sagen hören.

So, liebe Enya, für heute genug. Pass’ auf dich auf.

2. Brief

Die Dorfgemeinschaft

Liebe Enya,

heute möchte ich dir mehr von unserem Dorf erzählen, zunächst von den Gebäuden, in denen wir lebten. Die meisten waren aus Stein erbaut und locker um einen Dorfplatz gruppiert, wodurch das Dorf ein wenig einem riesigen Vogelnest ähnelte. Die Dächer der Häuser waren zumeist mit Grasziegeln, Farnen oder Heidekraut gedeckt. Gelegentlich wurde auch Schilf verwendet, das im Winter, wenn der Schnee auf den Dächern geschmolzen war, bei Sonnenschein honigfarben in der weißen Landschaft glänzte. Auf einigen Dächern waren Taubenkobel befestigt, weshalb man untertags fast ständig das Gurren und den lauten Flügelschlag von weiß oder hellgrau gefärbten Tauben vernahm. Meistens waren sie zu zweit unterwegs, ließen sich gemeinsam von den Hausdächern fallen und segelten hinunter zum Fluss, um in einer kleinen, ruhigen Bucht Wasser zu trinken. Aber manchmal drehten sie zu Dutzenden ihre Runden um das Dorf und die angrenzenden Äcker, wo die Erde trocken genug war, um gepflügt und bebaut zu werden. Erschöpft ließen sie sich nach dem Ausflug wieder auf den Hausdächern nieder und gurrten zufrieden vor sich hin. Falls die Dächer nicht zu hoch und zu steil gebaut waren, tummelten sich dort oben, zwischen weißen Tauben und schwarzen Krähen, gelegentlich auch Ziegen.

Im Inneren der Häuser waren die Steinwände zumeist mit Lehm oder Mörtel verputzt, um die Bewohner besser vor Wind und Nässe zu schützen. Den milchigen Rauch des Torffeuers leiteten Kamine nach draußen. Viele dieser Steinhäuser waren für Menschen erbaut, aber in einigen Langhäusern bewohnten diese nur den kleineren Teil des Gebäudes; im größeren lebten in der kalten Jahreszeit Nutztiere, vor allem Rinder, aber auch Pferde, Schafe und eben Ziegen. An fast alle Häuser schloss sich ein kleiner Stall mit großem, eingezäuntem Auslauf an, von wo fast dauernd ein leises, zufriedenes Hühnerpiepsen zu hören war.

Neben diesen Steinhäusern gab es noch einige kleine Rundhütten. Sie stammten aus früherer Zeit und hielten aufgrund ihrer Bauweise den häufigen Stürmen besonders gut stand. Die Feuerstelle befand sich ursprünglich in der Mitte des Raums und spendete bei Bedarf behagliche Wärme. Später wurde diese Anordnung jedoch als nicht sehr schicklich erachtet und die Feuerstelle daraufhin an eine der Seitenwände verlegt, wodurch etwa zwei Drittel der Energie verloren gingen. Um das dichte, oft unterarmhohe Heidekraut dauerhaft am Dach zu befestigen, wurde dieses mit einem Netz aus geflochtenem Hanf niedergebunden. An jedem Ende der Seile war ein großer Stein befestigt, der die Taue straffte. Diese Steinbrocken lagen entweder am untersten Teil des Dachs, wodurch dieses an das graue Haar einer älteren Dame mit Lockenwicklern erinnerte, oder aber sie lagen, weitaus sicherer, unten am Boden, um die dann längere Seile gespannt waren. Die Zimmerdecke der Hütten bestand zumeist aus einigen Holzbrettern, die nebeneinander auf die Steine der Seitenwände oder auf lange Holzlatten gelegt wurden. Sie sollten die Regentropfen sowie die Erde und die Pflanzenteile, die gelegentlich von den Dachziegeln rieselten, daran hindern, in das Innere des Wohnraums zu fallen. Diese Rundhütten bewohnten zu meiner Zeit vorwiegend Alleinstehende.

In meinen Kindertagen führte ein Weg zwischen den Gebäuden zu dem zentralen Dorfplatz und von dort zur kleinen Steinbrücke, die den einen Ortsteil mit dem anderen verband. Unter der Brücke, neben einer kleinen Stromschnelle, hingen von Frühjahr bis Herbst einige Fischreusen, die von einem alten Mann betreut wurden. Die gefangenen Fische tauschte er gegen Sachen, die er gerade benötigte. Als eine Art Erkennungszeichen trug er stets ein Stück Fischleine um den Hals. Einmal ging ihm eine etwa zwanzig Pfund schwere Forelle ins Netz. Von allen Seiten strömten die Kinder herbei, um das ungewöhnlich große Tier, das in der Wiese lag und verzweifelt mit den Flossen auf und ab schlug, zu bestaunen. Ein kleiner Junge, der wohl keine zwei Jahre alt und nicht viel größer als die Forelle war, deutete die Flossenbewegungen als einen Gruß und winkte zurück.

Wenn ein Paar heiratete und eine neue Bleibe nötig wurde, kamen alle zusammen, um beim Bau zu helfen. In der Regel war das Haus innerhalb weniger Wochen vollständig eingerichtet. Zum Feststampfen des Bodens wurden oft Schafe in das Gebäude getrieben und darin stundenlang eingesperrt. Jenes Gebäude, in dem ich aufwuchs, war jedoch kein Neubau, sondern schon seit etwa zehn Generationen von ein und derselben Familie bewohnt. Unser Haus stand ein wenig abseits von den anderen und war auf einem Abhang erbaut, weshalb es von dort einen fantastischen Weitblick gab:

Vor uns lag das Dorf, daran angrenzend die Äcker und die riesige, gemeinschaftliche Koppel, die allen Dorfbewohnern ohne Beschränkung der Anzahl der Tiere zur Verfügung stand. Ausgenommen zur Winterzeit, weideten dort auch unsere Pferde, die ständig mit ihrem Schweif lästige Insekten zu vertreiben suchten. Gelegentlich verließen sie gemeinsam die Koppel und galoppierten übermütig über die pfadlose Heide. Für uns Menschen zogen sie den Pflug oder schleppten die Karren mit dem Dung aus den Ställen auf die Felder. Jenseits der Koppel begannen bereits die sanften Abhänge der großen Hügel, auf denen Schafe und Hochlandrinder frei herumliefen und grasten. Je weiter man nach oben blickte, umso häufiger lagen Felsen verstreut in der Landschaft. Am Kamm der höheren Hügel war der Boden praktisch vegetationslos, öde und braun, ganz im Gegensatz zu den fruchtbaren, kultivierten Hafer- oder Gerstenfeldern am Fuße der Hügel. Im Osten und Norden bildeten die Gebirge eine steinerne Kulisse. Dorthin huschten bei Sonnenschein die Schatten der Wolken, ehe sie im Nichts verschwanden.