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Lida Winiewicz

Der verlorene Ton

Roman

Lida Winiewicz

DER
VERLORENE

TON

Roman

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1. Auflage 2016

Coverfoto: iStockphoto.com | © Tina Lorien

ISBN e-book: 978-3-99200-165-1

Inhalt

TEIL I

TEIL II

TEIL III

Für Xenia

TEIL I

Das Wien der Zwanzigerjahre war leiser und lauter als heute.

Klingeln der Straßenbahn, „Tramway“ genannt, der Beiwagen am hinteren Ende mit offener zugiger Plattform, Sportliche sprangen auf und ab, Motorradgeknatter, Klavier, Gesprächsfetzen, Kindergeschrei, selten eine Autohupe, Kübelgeschepper, Schritte, Hundegebell, Pferdegetrappel, im Sommer Lavendelweiber mit zweistimmigem Angebot: „Kaufts an Lavendel! Zehn Groschen a Büscherl Lavendel! An Lavendel hamma do! Wer kauft uns an o?“

Und Werkelmänner, meist Kriegsversehrte, der Erste Weltkrieg keine zehn Jahre vorbei.

Ein Einbeiniger auf der Hietzinger Brücke rührte mich prompt zu Tränen. Kaum hörte ich die Blechmusik, fing ich zu weinen an, je näher sie kam, desto lauter, schließlich mischte sich mein Geheul störend mit dem Donauwalzer, und wer immer den Kinderwagen schob, rettete sich schleunigst in den Schönbrunner Schlosspark.

Es gab auch Straßenmusikanten. Sie kamen in den Hinterhof, zu zweit, der eine mit „Klampfn“ oder „Quetschn“, der andere Wienerlied-Sänger der Gattung „Krawattltenor“.

Ich durfte ihnen ein Zehnerl, in Zeitungspapier gewickelt, vom Klopfbalkon hinunterwerfen.

„Vergelt’s Gott, kleines Fräulein!“

Das Zehnerl war eine Münze von ungeheurer Kaufkraft. Man bekam dafür bei Frau Wurzer, Kurzwaren und Delikatessen, zehn Stollwerck-Karamellen oder ein Täfelchen Milchschokolade, blitzblau verpackt, Marke Bensdorp.

Oder einen Kinderfahrschein beim Ehrfurcht gebietenden Schaffner, einmal Ring rund, am Fenster! Vielleicht sogar zwicken dürfen!

Straßenbahnschaffnerin war damals mein Traumberuf.

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Ein Haus, schönbrunnergelb. Ein dunkelgrünes Haustor. Zwei Randsteine, höher als ich. Jetzt blicke ich auf sie hinab.

Das Haus meiner Kindheit ist Teil des Parkhotels Schönbrunn.

„Guten Tag, ich habe als Kind im Achtzehnerhaus gewohnt, dürfte ich in die alten Räume? Ich würd’ sie gern wiedersehen.“

Die Frau an der Rezeption, jung, blond, diskret zurechtgemacht, mustert mich, lässt die Finger über die Tastatur ihres Computers tanzen, betrachtet den Bildschirm und sagt: „Sie haben Glück, die Suite ist derzeit nicht belegt.“

„Es ist also möglich?“

„Ja.“

Sie reicht mir ein Plastikkärtchen.

„Was ist das?“

„Der Zimmerschlüssel.“

Wir hatten einen Schlüsselbund, daran ein Medaillon: der Heilige Christophorus, den reißenden Strom durchquerend, auf den Schultern das Jesuskind. „Es wird immer schwerer und schwerer“, sagte Judy, „der Christophorus denkt, gleich fall’ ich um und dersauf, aber er ist nicht dersoffen, er hat sich zusammengerissen, obwohl er schon blau im Gesicht war vor Anstrengung, Nässe und Kälte, er hat den Jesus ans andere Ufer gebracht, und wenn ihr glaubt’s, ihr dersaufts, dann denkt’s an den Christophorus!“

Die Frau hinterm Tresen wartet, betrachtet mich, beinahe gütig, vielleicht hat sie daheim eine demente Oma, nimmt mir das Kärtchen weg und zeigt auf etwas Schwarzes: „Das ist der Magnetstreifen.“

„Aha.“

„Dort drüben ist der Lift.“

Lift? Wo ist die Stiege mit dem gedrechselten Handlauf? Judy rieb ihn mit Bienenwachs ein. Dann glänzte er wie Seide.

Ich fahre in den ersten Stock, steige aus und erkenne nichts wieder. Spannteppich, watteweich. Wir hatten Bretterboden. Der Span, den ich mir einzog, bestialischerweise tief unter den Nagel des rechten großen Zehs, und den Judy herausoperierte, mit einer Nadel, deren Spitze sie vorsorglich ausgeglüht hatte, den habe ich in einer Schachtel jahrelang aufbewahrt, blutverkrustetes Symbol zeternd überstandener Leiden.

Ich öffne die erstbeste Türe.

Ja, da stand das Bett, dunkles Holz, mit aufgetürmtem Bettzeug, darüber eine bunte Decke, aus Vierecken zusammengesetzt, ein Quilt, wie ich seither weiß, vom weit gereisten Onkel Leo aus den USA mitgebracht.

Das Bett diente uns als Sitzbank. Daneben, hell und schmal, das Klavier meiner Mutter, Kirschholz, vor dem Bett ein Tisch mit Lade, darin Küchengerät und Besteck.

Um den Tisch eine fröhliche Runde, Stimmengewirr, Gelächter, Tabakrauch. Ich rieche ihn gern. Er haftet an Papas Händen, den angegelbten Fingern. Papa raucht „Ägyptische“. Auf der orangefarbenen Schachtel sind Kamele zu sehen, Palmen und Pyramiden. Das Wort Py-ra-mi-de gefällt mir. Ich sage es vor mich hin, vorzugsweise abends im Bett, wie einen Zauberspruch. Wer die Gäste waren, weiß ich nicht mehr. Nur dass Onkel Egon da ist, kein wirklicher Onkel, sondern ein Studienkollege Papas, mit Gattin Leopoldine, die immer ein Kropfband trägt, obwohl sie keinen Kropf hat, und Onkel Pepi, auch kein Onkel, sondern Tante Jettis Freund. Jetti ist die Schwester unseres Vaters.

Pepi, Absolvent der Wiener Neustädter Militärakademie, als Fähnrich ausgemustert, behauptet, er habe dort, vor Hunger, in einen Besenstiel gebissen. Und als wir die Fahne sehen wollen, sagt er, er hat keine Fahne. Wieso ist er dann ein Fähnrich? Wir glauben ihm kein Wort. Jetzt studiert er Psychologie an der Wiener Universität.

Ich sitze auf Judys Schoß. Onkel Pepi sitzt auf dem Bett. Ich bin zwei.

Plötzlich krabble ich zu ihm hinüber, öffne die Tischlade, entnehme ihr zwei Kochlöffel, stelle mich hinter ihn und beginne, auf seinen Kopf einzutrommeln.

Gespräche und Lachen verstummen. Alles blickt gespannt auf mich. Meine Schwester, sieben, kichert.

Ich trommle, fester, schneller, gerate in eine Art Rausch. Onkel Pepi hält still wie ein Lamm im Dienst der Psychologie. Was will das Kind? Was bezweckt es? Welchen Zwängen ist es unterworfen? Welche geheimen Kräfte bestimmen sein Unterbewusstsein? Was will sein Über-Ich? Judy macht dem Spuk ein Ende. Sie packt mich, nicht unsanft, setzt mich wieder auf ihren Schoß, drückt meinen Kopf an sich. Sie riecht gut. Ihre Halskette, grünes Glas, schmiegt sich an meine Stirne, rund und kühl, angenehm.

Judy hat viele Halsketten. Sie bewahrt sie in einer alten Weihnachtskeksdose auf. Ich darf mit ihnen spielen. Die, die sie um den Hals trägt, mag ich besonders gern. Hält man einen der großen grünen Glassteine dicht vors Auge, taucht man in meergrünes Wasser, Lichtpunkte durchschweben es wie Goldstaub und jederzeit kann ein Fisch aus dem Klavier herausschwimmen.

Jetti massiert Pepis Kopf.

Was ist dem Kind eingefallen?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Im Mittelpunktstehen tut gut.

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Hier also haben wir gewohnt, in diesen engen Räumen, Vater, Mutter, Schwester, ich, Judy und Kater Graupi, Kurzform für „Grauperter“. Er war Judy zugelaufen und dank ihrer Fürsorge zu dick, um Vögeln nachzustellen.

Judy kam mit sechzehn zu uns, vermittelt von der „Agentur Aloysia Hofeneder, erstklassiges Dienstpersonal“, direkt aus der Steiermark, aus einem Dorf, das nicht „Oberschöps“ hieß, wie Papa behauptete, sondern Unterlamm.

Judy hieß auch nicht Judy. Der selbst zugelegte Name stammte aus einem schottischen Ritterroman: Graf Douglas liebt die schöne, schuldlos verarmte Judy und heiratet sie, ungeachtet des Widerstands der adeligen Familie.

„Zwölf Dudelsackspieler schritten rund um die Hochzeitstafel.“

Wenn Judy aus Romanen erzählte, bediente sie sich grundsätzlich der Mitvergangenheit. Andere Berichte, etwa jener von ihrem Einstand bei uns, erfolgten in der Gegenwart: „Ich steh’ vor dem grünen Haustor, drin spielt wer Klavier, schöner als unser Herr Pfarrer Orgel. Ich trau’ mich nicht läuten, weißt, ich hab’ keinen Koffer dabei, nur ein kariertes Bündel, einen Polsterüberzug ohne Knöpf’. Ich möcht’ davonrennen. Darf nicht. Die Aloysia reißt mir den Kopf ab. Ich läut’. Das Klavier hört auf. Nix passiert. Endlich Schritte. Das Tor gibt nach. Vor mir steht eine junge Frau in einem Kleid wie ein Nachthemd, darüber eine Küchenschürze. Nein, deine Mutter hat nicht wie eine Gnädige ausg’schaut. Sie sagt ‚Servus‘, ich sag auch ‚Servus‘. Sie schaut mich an, irgendwie komisch, sagt aber nix, nimmt mein Bündel, als wär’s ganz normales Gepäck, sagt ‚Komm!‘, lässt mich rein, macht das Tor zu und geht voraus. Ich ihr nach. Oben zeigt sie mir mein Kammerl, ein richtiges Bett, kein Strohsack, mit einer richtigen Decke, nicht irgendwelchen Fetzen. Dann führt sie mich in die Küche, gießt Wasser in eine Waschschüssel und sagt: ‚Bitte wasch’ dir die Hände.‘ Ich glaub, ich spinn’. Mein Lebtag hat niemand ‚bitte‘ zu mir gesagt. Ich wasch’ mir die Hände, gründlich, sie gibt mir ein Handtuch, ein Handtuch, das kannst du dir nicht vorstellen: ein weißes, sauberes! Bei uns daheim hat ein Handtuch vier Wochen halten müssen. Ich bin immer aufs Stockerl gestiegen, damit ich beim Händeabtrocknen das oberste Stück erwisch’, gleich neben dem Schlingerl, verstehst, der Rest war steif vor Dreck. Sie hängt das Handtuch auf, legt ein Schneidbrettl auf den Tisch, ein Messer und Semmelknödel und sagt: ‚Schneid’ die Knödel klein, für den Karl!‘ Dann geht sie zum Klavier und spielt weiter. Was sie spielt, weiß ich nicht. Immer dieselbe Stelle. Ich nehm’ das Küchenmesser und schneid’ die Knödel klein. Ich denk mir, der Karl ist der Hausknecht. Oder vielleicht ein Hund. Aber der Karl war dein Vater.“

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Ich suche die alte Küche. Ich finde sie nicht. Stattdessen ein chromblitzendes Bad.

Wir hatten einen eisernen Waschtisch, das weiß lackierte Gestell mit Waschschüssel, Krug und Kübel aus Karlsbader Porzellan. Den Boden der Waschschüssel zierte ein rötlichbraunes Porträt der Kaiserin Elisabeth. Ich fand es ungehörig, die Schüssel vollzufüllen und Sisi absaufen zu lassen, noch schlimmer, beim Zähneputzen auf ihr Gesicht zu spucken, doch Judy lachte nur.

Das Wasser musste von unten heraufbefördert werden, Bassena und Klo waren im Hof.

Wo ist die alte Stiege?

Ich öffne die nächstbeste Tür und falle in ein Zeitloch: Großmama Stieböck! Sie steht auf der obersten Treppenstufe, feindselig, kerzengerade, in schimmerndem, schwarzem Taft.

Ein Gespenst!

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Die Stieböcks verstanden sich als Hietzinger Patrizier, alteingesessen, kaisertreu. Vater Stieböck war Rechtsanwalt, Mutter Stieböck Unternehmerin. In ihrem Geschäft in der Spiegelgasse gab’s Hofball-Accessoires: Schmuckfedern, Seidenblumen, Strasskrönchen, falsche Perlen.

Die Stieböck-Kinder studierten, Leo Medizin, Theo Jus, Mizzi Klavier. Sie war brillant. Ihr Lehrer war, unter anderen, der Komponist Franz Schmidt, Schöpfer des Oratoriums „Das Buch mit sieben Siegeln“.

Ich besitze mehrere Postkarten mit seiner krakeligen Handschrift: „Liebes Fräulein, bitte kommen Sie Montag statt Donnerstag.“ – „Liebes Fräulein, bitte kommen Sie Freitag statt Dienstag.“

Mizzi gab ihr erstes Konzert mit siebzehn, „unter der Patronanz Ihrer Kaiserlichen Hoheit Erzherzogin Marie Valerie“.

Woher kannten die beiden einander? Über die Schmuckfedern-Verbindung? Etliche Hofdamen kauften bei Großmama Stieböck ein. Tatsache ist, eines Tages gab Mizzi der Tochter Sisis und Kaiser Franz Josephs privat Klavierunterricht.

Großmama war hoffnungsvoll. Irgendwann würde Mizzi einem Erzherzog auffallen, er würde sich in sie verlieben und sie heiraten, allen Widerständen zum Trotz.

Ehen zur linken Hand waren Habsburger-Tradition! Sogar der Thronfolger lebte in unstandesgemäßer Ehe. Dabei war diese Chotek immerhin eine geborene Gräfin! Und Erzherzog Johann hatte eine Bürgerliche gefreit, diese Plechl oder Plichl oder Plochl, eine obskure Person.

Großmama sah sich schon bei Hof, morganatische Schwiegermutter, zum innersten Kreis gehörend.

Der Traum platzte.

Schuld war Papa.

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Meine Eltern lernten einander in jungen Jahren kennen. Kupplerin war die Musik.

Theo, Mizzis Bruder, und Karl, beide Schüler am Hietzinger Gymnasium, wurden bei Schulkonzerten aufeinander aufmerksam. Theo spielte Klavier („mit ekler Geläufigkeit“, fand seine kleine Schwester), Karl sang. Er hatte von der Natur einen prachtvollen Bass mitbekommen, weich, samten, großzügig bemessen, und schmetterte sich, ungehindert von künstlerischen Bedenken, quer durch die Opernliteratur.

Bei Stieböcks, in der hochherrschaftlichen Villa in Ober-Sankt-Veit, gab es Hauskonzerte.

Karl wurde eingeladen. Der solide Prunk der Räume beeindruckte ihn. Er selbst bewohnte seit dem frühen Tod seines Vaters mit Mutter und Schwester eine ärmliche Wohnung in der Singrienergasse in Meidling. Bei Stieböcks gab’s gobelinbezogene Fauteuils, teure Teppiche, Luster aus Muranoglas sowie, auf zwei Seitentischen, ein üppiges Buffet: edles Obst, vielerlei Käse, helles und dunkles Brot, Salami, Schinken, Pasteten, Sachertorten, Apfelstrudel, staubzuckerbeschneite Buchteln mit heißer Vanillesauce, alles kunstvoll arrangiert rund um das chromblitzende Glanzstück, einen Schinkenschneider mit Kurbel!

Mizzi, zwölf, saß am Klavier. Karl sang die Kavatine des Figaro aus dem „Barbier von Sevilla“ von Rossini. „Largo al factotum della città!“

Als er ihr mit dem Schlusston, einem „G“, imponieren wollte, indem er ihn endlos aushielt, sagte sie knapp:

„Schon gut!“, klappte das Instrument zu und verliebte sich in ihn.

Er seinerseits brauchte länger.

Endlich, nach vielen Stunden gemeinsamen Musizierens („Eure Mutter hat mir die ärgsten Unarten abgewöhnt!“), Dutzender gewechselter Briefe („Liebes Fräulein!“, „Lieber Winiewicz!“) und zahlreicher Fehldiagnosen („Er liebt mich nicht!“, „Sie liebt mich nicht!“) heirateten Karl und Mizzi fünfzehn Jahre später in der Pfarrkirche Hietzing, gegen den Willen der Mama.

Am Tag der Trauung saß sie im Café Gröpl beim Fenster, schaute dem Hochzeitspaar nach und weinte in ihren Kaffee.

Sie hatte Grund, zu weinen. Österreich war Republik, der Ehemann verstorben, die Witwenrente karg, die Villa in Ober-Sankt-Veit den Gläubigern zugefallen, vom soliden Prunk nichts übrig als der noble Schinkenschneider und Goethes gesammelte Werke, das Geschäft in der Spiegelgasse geschlossen, niemand brauchte Schmuckfedern und Krönchen, die Söhne Leo und Theo hoffnungslos zerstritten und Mizzi, die schöne Mizzi – die Türen der vornehmen Welt wären ihr offengestanden! –, Gattin eines kleinen Beamten, der noch dazu schielte! Mon Dieu!

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Papa war tatsächlich Beamter.

Als frisch promovierter Jurist in die DDSG eingetreten, die Erste Donaudampfschifffahrtsgesellschaft, war er dort im Lauf der Jahre für vieles zuständig geworden: Tarife, Reiserouten, Fahrpläne, Donauhandbuch, Kontakt zu den Schifffahrtsgesellschaften anderer Donauländer. Er war oft in Ungarn, Bulgarien, Rumänien und brachte uns Kindern allerlei buntes, handgeschnitztes Spielzeug mit, Holzpferdchen, Tamburine, Hirtenflöten, denen wir quietschende Töne entlockten, Lammfellmützen, „Katschulla“ genannt, die wir im Winter aufsetzten, obwohl sie uns viel zu groß waren, öliges Halva, klebriges Rahat, picksüße Rosenmarmelade.

Sein Titel „Oberschifffahrtsrat“ stand auf Visitenkarten, die er nie fand, wenn er sie suchte. Ein paar lagen jahrelang unter einem der ungleichen Beine des wackelnden Küchentischs.

Mein Vater liebte die Donau. Vor allem das Donaudelta. Während des Ersten Weltkriegs im rumänischen Brăila stationiert, erkundete er die Gegend, befuhr das weitverzweigte Gewässer mit den einheimischen Fischern, trank mit ihnen, sang mit ihnen und lernte die Vögel unterscheiden – Kormorane, Kraniche, Reiher.

Manchmal führte er sie uns vor, als Schattenspiel, mit den Händen hinter einem beleuchteten Leintuch, und kein Fernsehen, kein Film, kein Theater hat mir je mehr Vergnügen gemacht als Papas Vogelwelt, vergleichbar nur dem Behagen, wenn er uns abends, auf einem Küchenschemel zwischen unseren Betten sitzend, unsere Lieblingsgeschichte vorlas, „Prinz Achmed und die Fee Peri Banu“ aus „Tausendundeine Nacht“: „Drei Königssöhne, Brüder, verlieben sich in die schöne Prinzessin Nur en-Nahar, eine verwaiste Cousine, vom Vater der drei Prinzen liebevoll großgezogen, alle drei wollen sie zur Frau. Ihr Vater, der keinen der drei Prinzen bevorzugen will, bestimmt: ‚Zieht in die Welt, meine Söhne, und wer von euch dreien das schönste, kostbarste Geschenk mitbringt, der soll die Prinzessin heimführen.‘ Die Prinzen fügen sich. Als Kaufleute verkleidet, versehen mit schnellen Pferden und schier unerschöpflichem Geld, machen sie sich auf den Weg, ziehen drei Tagereisen auf derselben Straße dahin, kommen an eine Stelle, wo diese sich dreifach teilt, beschließen, ab hier getrennte Wege zu gehen, und kehren eine letzte Nacht in einer Herberge ein. Hier wollen sie sich übers Jahr wiedertreffen und ihre Geschenke vergleichen. Gesagt, getan. Ein Jahr später kehren sie in die bewusste Herberge zurück, umarmen einander und jeder zeigt, was er gekauft hat: Husain ein schlankes Fernrohr aus purem Elfenbein, Ali einen künstlichen Apfel mit kostbaren Steinen besetzt, Achmed einen verblassten Teppich. Es sind drei Zauberdinge. Das Fernrohr zeigt jedweden Ort der Erde, den man zu sehen wünscht, der Apfel heilt jegliche Krankheit. Der fahle Teppich kann fliegen.

Die Prinzen richten das Fernrohr auf Prinzessin Nur en-Nahar und sehen entsetzt: Sie ist krank. Todkrank! Sie liegt im Sterben! Sofort besteigen sie den Teppich, fliegen heim, lassen die Sterbenskranke am Zauberapfel riechen und siehe da, sie gesundet! Doch wer bekommt sie zur Frau? Alle drei Prinzen sind an Nur en-Nahars Errettung in gleichem Maß beteiligt: ohne Fernrohr keine Kenntnis der Krankheit, ohne Teppich keine schnelle Heimkehr, ohne Apfel keine Genesung. Der König sagt: ‚Meine Söhne, nehmt Pfeil und Bogen, reitet hinaus und schießt eure Pfeile ab. Der, dessen Pfeil am weitesten fliegt, wird Nur en-Nahars Gemahl.‘ Husain schießt als Erster. Dann Ali. Sein Pfeil überholt den des Bruders. Achmed schießt als Letzter. Sein Pfeil, unauffindbar, bleibt wie vom Erdboden verschluckt. Ali heiratet Nur en-Nahar. Husain zerreißt sein Gewand, bestreut sein Haupt mit Asche und lebt fortan als Bettelmönch. Achmed geht auf die Suche nach seinem verschwundenen Pfeil, wandert fünf Tage und fünf Nächte und findet ihn, Meilen entfernt, auf einer Felsplatte liegend, neben einer Eisentüre. Achmed will die Türe öffnen. Sie öffnet sich von selbst. Musik ertönt, leise Musik von nie gehörter Süße. Achmed durchschreitet die Pforte und findet sich in einem Garten von märchenhafter Pracht. Blüten in allen Farben verströmen betörenden Duft, Brunnen plätschern, Nachtigallen singen, Paradiesvögel schwirren umher wie fliegende Juwelen. Achmed geht wie im Traum und steht plötzlich vor einem Schloss aus weißem, glänzendem Marmor. Vor dem Tor wartet ein Mädchen, schöner als Nur en-Nahar. Es ist die Fee Peri Banu, die Tochter des Geisterkönigs. Sie verneigt sich vor Achmed und spricht: ‚Gute Nacht, schlafts gut!‘“

Papa macht es wie Scheherazade, die schöne Erzählerin der „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“, die immer dann verstummt, wenn es am spannendsten wird.

Dass es dabei um ihren Kopf geht, dass sie um ihr Leben erzählt, weil der Sultan, ihr Zuhörer und Gatte, die Ehefrau am Hochzeitsmorgen erbarmungslos töten lässt (die erste hat ihn betrogen!), verschweigt unser Vater wohlweislich.

Was ihm nicht gefällt, ignoriert er.

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Das Schielen, fand Großmama, war übrigens nicht das Schlimmste. Das Schlimmste: Am 1. Mai marschierte ihr Schwiegersohn mit den Sozialdemokraten über die Wiener Ringstraße, eine rote Nelke im Knopfloch. Und sein Trauzeuge war ein gewisser Max Winter gewesen, linker Schreiberling und Revoluzzer.

„G’hören alle eing’sperrt! Alle!“

Papa nimmt’s gelassen, sagt: „Sie hat ja recht. Mizzi hätte wen Besseren verdient“, geht Schwiegermama aus dem Weg und singt:

„Vom Patriziertum blieb leider

übrig nur der Schinkenschneider!“

Nach der Melodie des beliebten Volkslieds: „Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt a große Wanzn!“

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Mein Vater war, in der Tat, Sozialist. Nicht in der Tat. Im Herzen! Er trat der Partei nicht bei. Vereine waren ihm suspekt, egal welcher Geistesart; Nudisten, Esperantisten, Kleintierzüchter, Burschenschafter alle gleichermaßen zuwider.

Er hatte ein zu scharfes Auge für die niedrigen Nebenaspekte hochtrabender Programme, ein zu empfindliches Ohr für die Leere pompöser Worte.

Als Onkel Pepi, mittlerweile glühender Vegetarier, uns partout bekehren wollte, stellte Papa sich mit uns in einer Reihe auf und wir sangen im Chor: „Die-Pflan-zen-le-ben-auch!“

Und als „die Roten“ sangen: „Wir sind Sozialdemokraten, Söhne des Lichts!“, vervollständigte er den Text mit der Zeile: „Wir lieben den Wein und den Braten, aber sonst tun wir nichts!“

Dieser Individualismus kostete ihn letztlich das Leben. Als Hitler Österreich überrannte, verhalf die verbotene Sozialdemokratische Partei etlichen ihrer Mitglieder zur Flucht nach Schweden. Unser Vater war kein Mitglied.

Nichtsdestoweniger war er Wegbegleiter der „Männer der ersten Stunde“, die nach dem Zweiten Weltkrieg halfen, Österreich aufzubauen. Ihre Namen, aus Kindertagen vertraut, stehen heute im Wiener Straßenverzeichnis: Beppo Afritsch, Innenminister unter Julius Raab, hat seine Gasse in Kagran, Anton Tesarek, von Max Winter für die Idee „Kinderfreunde“ begeistert, seinen Platz am Wienerberg, Josef Holaubek, gelernter Tischler, der es vom Feuerwehrmann zum Wiener Polizeipräsidenten brachte, seinen Platz am Alsergrund und Friedrich Hillegeist, Sekretär des Bundes der Industrieangestellten, seine Straße im zweiten Bezirk. In Sachen „Industrieangestellte“ schickte er meinem Vater umfangreiche Rundschreiben, deren Rückseite unbedruckt war. Judy bewahrte die Blätter im Küchenkastl auf und wenn jemand Schmierpapier suchte, fragte sie: „Brauchst ein’n Hillegeist?“

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1929 starb meine Mutter, sechsunddreißig Jahre alt, an akutem Nierenversagen. Dialyse gab es nicht.

Der Tag kam, da wollte ich Genaues über ihren Tod erfahren. Tante Jetti, Onkel Pepi, Onkel Leo sagten, sie wüssten nichts.

Als Tante Jetti begriff, ich würde mich mit dieser Antwort niemals zufriedengeben, sagte sie: „Eure Mutter ist am Steinhof gestorben, in der geschlossenen Abteilung.“

„Im Irrenhaus?“

Sie nickt.

„Wer hat die Krankengeschichte?“

„Liegt unter Verschluss.“

„Ich will sie einsehen! Ich bin ihre Tochter!“

„Dem Karl haben sie sie auch nicht gezeigt. Und der war ihr Mann! Vergiss es!“

„Das werde ich bestimmt nicht tun! Ich besorg’ mir die Krankengeschichte!“

„Versuch’s!“ Die Tante sagt es im Ton vorauseilender Resignation.

Ich gehe den „Wiener Weg“: Man kennt wen, der kennt wen, den kennt wer, der wiederum kennt … und so weiter.

Der handgeschriebene Text riecht schwach nach Karbol. Ich lese: „Gotteslästerung, Tobsuchtsanfälle, mussten ihr die Jacke anlegen.“

Die Zwangsjacke! Meiner Mutter! Der Musikerin, die am liebsten weite Gewänder trug. Der Künstlerin, die Schönberg und Alban Berg anerkannte, Kokoschka und Schiele liebte, die sich vom Dienstmädchen duzen ließ, die Zwänge der Zeit bekämpfte.

Meine Eltern waren aus dem Verband der Katholischen Kirche ausgetreten, als Protest gegen Prälat Ignaz Seipel und dessen Billigung des Schießbefehls am Tag des Justizpalastbrands.

„Es gab neunundsiebzig Tote“, erzählte Tante Jetti gern. Sie und Onkel Pepi waren damals um ihr Leben gerannt. „Und die Berittenen sind in die Menge gesprengt.“

Die Berittenen!

Jettis Geschichte klang wie einer von Judys Romanen. Da gab’s auch Berittene.

Doch was ich in Händen hielt, das war kein Ritterroman. Das war das Protokoll des Sterbens meiner Mutter. Gotteslästerung!

Hatte Mizzi Seipel beschimpft? Und die geistlichen Schwestern empfanden das als Gotteslästerung? Und wieso Tobsuchtsanfälle? War sie unglücklich gewesen? War der Karriereverzicht zugunsten von Ehe und Familie schmerzhafter, als Papa ahnte? Die Entfremdung von der Mutter belastender als gedacht? Hatte ihr meine Geburt den Rest gegeben, zwei Tage und zwei Nächte Wehen im Rudolfinerhaus?

Ich weiß, wie Zwangsjacken aussehen: Sackleinwand, überlange Ärmel, vorsorglich zugenäht. Zwei Pfleger stülpen dem Kranken das Ding blitzschnell über den Kopf, schieben die Arme in die Ärmel, kreuzen und verknoten sie.

Meine Mutter, wehrlos, verschnürt, ein Paket der Verzweiflung. Sie ahnte nicht, dass ihr Tod gnädiger war als jener, der ihrem Mann bevorstand.

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Ich habe den Tod meiner Mutter nicht bewusst wahrgenommen. Ich war elf Monate alt.

Im Stadium des Gefüttert-, Gewaschen-, Gewickelt-, Herumgetragenwerdens blieb mir der Verlustschmerz erspart.

Meine Schwester, fünf Jahre älter, hat den Schlag nie verwunden.

Später erzählte sie mir, ihre schönste Erinnerung sei das Lachen der Eltern gewesen, abends im Nebenzimmer, der Lichtstreifen unter der Türe und die „Dichterliebe“ von Schumann, Lieder nach Gedichten von Heine, die unser Vater sang, von seiner Frau begleitet.

Eines Tages erschien Fräulein Anny, eine Studienkollegin unserer Mutter – sie nannte sich „Klaviervirtuosin“, trug meistens zu enge Kleider und puderte ihre Nase so ausgiebig, dass ich dachte, sie nähme Mehl –, unterm Arm Schumannlieder und bot an, Papa zu begleiten.

Er dankte und lehnte ab.

Daraufhin schlug sie vor, aus mir ein Klavierwunderkind zu machen. Auch das Projekt fand keine Gnade.

Fräulein Anny zog ab, beleidigt, und tauchte erst im Krieg wieder auf.

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Judy macht Gemüsesuppe. Ich darf die Erbsen auslösen. Bevor ich die Schote aufdrücke, schätzen wir, wie viele Erbsen sie enthalten wird. Wer’s errät, bekommt einen Groschen. Ich hab’ schon sechs Groschen beisammen!

Papa ist im Büro. Meine Schwester ist in der Schule. Graupi schläft. Ich hab’ Judy für mich allein!

Sonst, wenn Papa daheim ist, ist er die Nummer eins. Dann kommt Nummer zwei, meine Schwester. Dann ich. Ich bin Nummer drei. Manchmal hab’ ich Angst, das stimmt nicht, Judy mag den Graupi lieber und ich bin Nummer vier. Aber jetzt ist alles in Ordnung.

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