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Meir Shalev

Fontanelle

Roman

Aus dem Hebräischen von
Ruth Achlama

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2002 bei

Am Oved Publishers Ltd., Tel Aviv,

erschienenen Originalausgabe:

›Fontanelle‹

Copyright © 2002 by Meir Shalev

Die deutsche Erstausgabe erschien

2004 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Roger Mühl,

›Campagne Grassoise en été‹, 2000

Copyright © Galerie de la Bouquinerie

de l’Institut, Paris

Foto: Jean Michel Sordello

 

 

Für Rina

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23554 8 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60401 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

[5] Einführung

Von seiner hohen Kreisbahn überschaute der Schlangenadler unseren Hof, verglich das im Gedächtnis Gespeicherte mit dem Augenschein: Er musterte die weiß leuchtenden Tische und Stühle auf dem kleinen Rasen, dessen sommerliches Grün ihm schon wohlvertraut war. Beäugte den alten Hund, der unter dem roten Guajavabaum lag. Den Namen des Baums kannte der Schlangenadler zwar nicht, aber er wußte, daß er der einzige seiner Art im Dorf war. Sodann glitt er tiefer hinab über die Mauern, die uns vor den Augen der Menschen, nicht jedoch vor den Himmelsbewohnern verbargen.

Einen Moment schwebte er auf der Stelle, die Schwingen schwarze Klingen gegen den flirrenden Sommerhimmel, die Krallen lässig eingezogen im trägen Raubvogelsinnen, gerade so wie Apupas riesige Finger sich ballten, wenn er über die Angehörigen der Familie Schuster nachsann – ein Zeichen, daß er gleich loslegen würde: über ihre Väter, ihre Mütter, über die schmählichen Umstände ihrer Geburt und über all das, was er, David Joffe, ihnen antun würde, »wenn ihre Stunde geschlagen hatte«. Oder vielleicht waren die Krallen einfach nur so eingerollt? Ich weiß es nicht. Ich bin dem Sinnen der Raubvögel nie ganz auf den Grund gekommen.

Jetzt hörte der Schlangenadler die Geräusche, ohne zu wissen, daß es Geburtstagslieder, Geigenspiel, Glück- und Segenswünsche waren, und bemerkte den kleinen Jungen, ein blaues Blumenkränzchen auf dem Kopf, zwischen Eltern und Verwandten in strahlend weißen Hemden. Aber da all das – Kind und Hund, [6] Geige und Guaven, Kranz und Onkel und Tanten und Eltern und Stühle [*»Großvater und Großmutter, Onkel und Tante, Enkel und Urenkel in einem Wagen von Perlmutt«] – für ihn nicht als Jagdbeute taugte, kreiste er noch einmal und segelte davon, nahm auf einem warmen Luftstrom Aufschwung in einem hohen Gleitflug und überblickte sein gesamtes Reich.

Die Zeit, groß im Diskriminieren, wählte ihre Opfer: der Todgeweihte zum Tode und der zum Gedenken Bestimmte zum Gedenken [der zum Gedenken Bestimmte zum Leben und der Todgeweihte dem Vergessen preisgegeben]. Die niedrige Hügelkette, heute mit dem Rot und Ocker der Dachziegeln gesprenkelt, lag damals grau und vergilbt im Westen. Die Reihe der Zypressen, inzwischen längst gefällt, schimmerte noch grün am Fuß der Hänge. Die Straße von der Kreuzung – einst stand dort eine kleine ruhige Bahnstation, jetzt wimmelt es nur so von Menschen, den Kunden eines Einkaufszentrums – war seinerzeit ein Sandweg, der das trockene Bachbett und die Felder durchquerte. Der Schlangenadler sah dort einen Wagen heraufkommen, und das Pferd, das ihn zog, zockelte gemächlich, wie jemand, der Herr seiner Zeit ist und mit dem Weg wohlvertraut.

Ein magerer Mann und eine junge Frau saßen vorn zwischen Koffern und Kisten. Die Linke der Frau hielt die Zügel, ihre Rechte die Linke des Mannes. Die Linke des Mannes hielt die Rechte der Frau, seine Rechte eine grüne Weinflasche. Eine Khakihose mit scharfen Bügelfalten und ein helles gebügeltes Hemd schlotterten ihm um den dürren Leib, und über seinem vorzeitig gerunzelten, klugen Gesicht glänzte eine sonnengebräunte Glatze. Die Frau – das kurz geschnittene schwarze Wuschelhaar nach Männerart gescheitelt – trug ein graues Männerarbeitshemd und einen geblümten Rock, der einem wogenden Anemonenfeld glich.

Eine frühsommerliche Hitzewelle tyrannisierte die Jesreelebene. Die Gerüche zerquetschter Strohhalme und zu Staub gemahlener Ackerschollen wirbelten von den Wagenrädern auf, [7] tanzten ihren langsamen Reigen im Raum. Emsige, ferne Zikaden zersägten die Welt. Die Erde glühte nach ihrer Art. Die Luft vibrierte, wie immer, über ihr, als wispere sie Liebe [als antworte sie ihr]. Das Pferd durchquerte das Wadi in einer Bresche, die Apupa vor Jahren mit Sichel und Hacke in die Mauer von Schilf geschlagen hatte, wandte sich nach Osten und folgte dem anderen Ufer. Der alte Glatzkopf sagte etwas. Die junge Geblümte lachte. Er setzte die Flasche an die Lippen, nahm einen letzten Schluck und warf sie an den Rand des Weizenfelds. Ein kurzer Knall war zu hören, und sofort – ohne Zögern und Zagen, wie man bei uns in der Familie sagt – glitzerten auf der Erde tausend grüne Augen, die im Flug des Schlangenadlers aufleuchteten und erloschen.

Der Weg machte eine Biegung, kreuzte das Feld von Süden nach Norden, gabelte sich. Das Pferd schlug den linken Weg ein, heute ein rosa-grauer Streifen von Pflastersteinen und Asphalt, nämlich die Hauptstraße unseres neuen Villenviertels, dem mein Vater, wäre er nicht gestorben, die Bezeichnung »Reicheleuteslum« oder einen ähnlichen Namen gegeben hätte: diese Banalität der Steinbogen, funktionslosen Säulen, der unvermeidlichen Limonenzypressen und der schrecklichen Zwergkokospalmen, die ich zu Dutzenden verkaufe. Wand reicht an Wand, Fenster guckt in Fenster, und am Schabbat – Gäste und Gartengrill.

Von dort führte der Weg zum Dorf hinauf, der Nordwestwind spielte mit dem Rock der Frau, bauschte das Rot seiner Blumen in der weißglühenden Luft. Noch heute frischt er jeden Tag zur selben Stunde auf, fährt, jedesmal aufs neue verblüfft, zwischen die Gebäude des Zentrums, die weit höher sind als die Dorfhäuser, die er in Erinnerung hat.

Fünf Jahre alt war ich an jenem Tag, und mein Geburtstag wurde wie jeder andere Geburtstag in der Familie gefeiert: Das Kränzchen, das meine Mutter mir gewunden hatte, leuchtete blau auf meinem Kopf. Die Küsse der Joffes – so nennen wir uns, [8] die Angehörigen des großen Joffe-Clans – befeuchteten mein Gesicht. Die Glückwünsche schwirrten wie fröhliche Bachstelzen auf und ab durch die Luft. Die Erfrischungen jedoch blieben auf den Tischen stehen. Meine Mutter reichte nur »gesunde Kost«, das hieß streng Vegetarisches: wurmstichiges Obst (sie ist gegen Schädlingsbekämpfungsmittel), mistgewöhntes Gemüse (sie ist gegen Kunstdünger), fades, grobes Vollkornweizenbrot (»man ißt nicht zum Vergnügen«).

Am Vorabend hatte sie erklärt, sie werde den Gästen Haferbrei vorsetzen: »Das ist sehr gesund und schmeckt gut! Es besteht kein Grund, die Familie mit Kuchen zu vergiften!«

Das Wort »Kuchen« sagte sie in ihrem besonderen Tonfall, und Vaters und meine geübten Ohren hörten darin förmlich das Gift des weißen Zuckers, den Greuel des fein gesiebten Mehls, die Todesdroge der Eier, die Schlangenbrut der Butter – all das, was meine Mutter als »Gifte« bezeichnet. In ihren Augen ist jeder Kuchen nichts anderes als ein Mordkomplott, aber mein Vater, dem das Wort »gesund« den Appetit verdarb, auf Nahrung im allgemeinen und auf meine Mutter im besonderen, sagte: »Es interessiert mich nicht, daß das sehr gesund ist! Es schmeckt nicht, es ist langweilig, es ist idiotisch! Und es ist der Geburtstag von Michael, Hanna, nicht deiner!«

Feuerscharf war das Komma, das er nach meinem Namen setzte, und jenseits des Ausrufezeichens lag ein wütender Raum, schwarz wie ein abgebranntes Feld.

»Am Geburtstag meines Kindes wird kein Haferbrei aufgetischt! Hast du gehört?!«

Gegen seine sonstige Gewohnheit geriet Vater in Rage, und getreu seiner Gewohnheit in Zornmomenten ging er zur unpersönlichen Form für die verborgenen Haferbreiköche über, um keinen Streit zwischen dem Ich und dem Du zu stiften.

Der sehr gesunde Haferbrei wurde vom Menü gestrichen, und ein neuer Ausdruck gesellte sich zum Sprachfundus der Familie, [9] wo er erfaßt und katalogisiert wurde, um zu gegebener Zeit parat zu sein, den jeweiligen Tagesbedürfnissen angepaßt: »An der Beerdigung meines Mannes werden seine Zatzkes nicht teilnehmen«, »auf dem Klavier meiner Frau wird kein Fremder spielen«, und was der Joffeschen Ausschmückungen, Ableitungen und Erweiterungen mehr sind. Aber mein Vater ließ es dabei nicht bewenden. Er ging zwischen den Gästen umher, sein linker Ärmel flatterte leer im Wind, seine Rechte verteilte insgeheim kleine Würstchen an dankbare Abnehmer.

Die Familienfeierkamera schwenkt vom Osten des Hofes zum Westen in der langsamen Horizontale der Erinnerung: Da ist Apupa, damals noch ein großer, starker Großvater mit kolossalen Händen und weißem Bart, bewirtet die Gäste mit selbstgebranntem Schnaps. Dort sind seine beiden Halbbrüder – »wer hat sie gerufen«, murrte er – sitzen artig abseits, froh, daß sie eingeladen wurden, grübeln, womit sie das wohl verdient haben. Würde Apupa sie womöglich sogar eines Wortes oder Blickes würdigen? Da ist Amuma, damals noch eine lebende Großmutter, die mir, wie an jedem Geburtstag, »Herr Hamster hat einen guten Schlaf« aufsagte. Hirsch Landau, den Hals seiner Geige gepackt, sitzt, wie immer, neben ihr. Mein Vetter Gabriel, auch »Zipljonok« oder »Puiu« – beides heißt Küken – genannt, war damals noch klein und dünn, zupfte die Frauen am Rock und belästigte sie mit seinem lautstarken »Stillen… Stillen…« Etwas abseits stand sein großer Inkubator. [*Hier schon erzählen, daß er ein Frühchen war? Und wie weit ins Detail gehen?] Er brauchte ihn zwar nicht mehr, geriet aber immer in Panik, wenn er ihn nicht in der Nähe sah.

Nur Onkel Aaron – er hieß bei uns »der Bräutigam« und hatte Gabriels Inkubator und Apupas Schnapsbrennerei gebaut, Pflüge perfektioniert, den ersten Sonnenboiler erfunden, Schalldämpfer für Trecker, Pistolen und Motorpumpen produziert und auch den Gaskocher für die britische Armee hergestellt, dank dessen allein, [10] so rufen wir Joffes immer wieder in Erinnerung, ja dank dessen allein Montgomery Rommel im Zweiten Weltkrieg besiegen konnte – nur er hatte sich nicht verändert. Genau wie er in unserer Kindheit zu uns kam – klein, dankbar, dunkelhaarig und verlegen –, hoppelte er mit seinem lahmen Bein, sann auf neue Erfindungen, hing alten Sorgen nach und dachte an seine Frau Pnina, die allein zu Hause saß.

Es war ein trockenheißer weißer Sommertag. Der angenehme Geruch verstaubter Zypressen und geschorenen Rasens hing in der Luft. Ein großer Raubvogel mit hellen Flügeln und gestreiftem Bauch – »das ist ein Schlangenadler, Michael«, sagte Vater und deutete mit seiner einzigen Hand, »er jagt Schlangen« – schwebte über uns, beobachtete und drehte ab. Die Zeit, in der viele Joffes eine direkte Verwandte erblicken, rann genau neben uns langsam und gewaltig dahin, netzte geduldig ihre Ufer. Apupas alter Hund erhob sich abrupt, als hätte er die Worte meines Vaters verstanden, und bellte mit unerwarteter Vehemenz eine Kletternatter an, die an der Hofmauer entlangkroch.

Wie andere Alte im Dorf, die fürchten, man werde sie bald aus dem Haus werfen, schielte der Hund uns besorgt von der Seite an, um sicherzugehen, daß wir seine Reaktionsfähigkeit und Treue beachteten. So lagen damals die Dinge: Unsere kleine Stadt war ein Dorf, und im Dorf ging es zu, wie es auf dem Dorf nun mal zugeht – der Metzger, der Holzfäller, der Altwarenhändler warteten auf alle am Ende des Tages, und Tiere, Pflanzen, Gegenstände und Menschen wurden geprüft: Hast du gearbeitet? Frucht getragen? Nutzen gebracht?

»Laß mich«, wisperte bange die Schlange, »laß mich meines Weges ziehen.« Aber kein Mensch hörte es, denn wie ich sprach auch die Schlange nur im Herzen.

Alle guckten die beiden an, wandten die Gesichter dann erwartungsvoll Onkel Aaron, dem »Bräutigam«, zu. In mehrfacher Hinsicht ist auch er Großvaters Hund: treu, gehorsam und [11] pflichteifrig. Tatsächlich stand er vom Tisch auf, wedelte mit dem Schwanz, der dem Auge nicht sichtbar, aber sehr gut in seinem Gesichtsausdruck zu erkennen war, nahm die lange Hacke, die am Guajavabaumstamm lehnte, und begab sich zur Schlange.

Mein Vater rief: »Bring sie nicht um, Aaron. Das ist eine gutartige Schlange. Laß sie ziehen.«

Aber der Bräutigam und der Hund, jeder aus des andern Furcht Mut schöpfend [in dem Wunsch, dasselbe Herrchen zufriedenzustellen], näherten sich der Schlange, und diese bewertete die neue Lage und schloß, daß sie genug habe: Zwei Werktätige, die sich auf ihre Kosten auszuzeichnen wünschten, gefährdeten zu sehr ihre kaltblütige Lebensroutine. So senkte sie denn mit einem Schlag den Kopf und ergriff die Flucht, flitzte zwischen flüchtenden Verwandten- und fallenden Stuhlbeinen hindurch und erreichte, nach Art der Kletternattern, im Nu Blitzgeschwindigkeit.

Der Hund bellte hinter ihr her, der Bräutigam schwang die Hacke, und ich – mit neuen Sandalen, weißem Hemd und Blumenkränzchen – rannte ihnen nach. Die Schlange hielt auf die Scheune zu, schlängelte den Betontrog der Kühe entlang. Ich erinnere mich: Die schwarz-weißen Köpfe heben sich von ihrem grünen Mahl, fahren in einer Woge der Angst zurück. Die Eisenjoche, ein beängstigendes großes Xylophon, klingeln von einem Ende des Kuhstalls bis zum andern.

Hinter dem Kuhstall war damals eines unserer vier Tore in der Mauer, und dahinter lag der große Misthaufen. Der Hund, der die Grenzen des ›Joffe-Hofs‹ nicht weniger gut kannte als Apu-pa – beide pflegten sie zweimal am Tag zu markieren, und zwar auf die genau gleiche Weise –, hielt hier an. Ein letztes Bellen, um den Punkt ans Ende der Handlung zu setzen, ein schnelles Scharren im Sand – und schon trottete er zurück zu seinem Herrchen und seiner Lagerstatt und zu dem »Guter Hund«-Rückenkraulen, und dann das Recken, Strecken, Gähnen und Dösen eines Alten, der Nutzen gebracht und Aufschub erhalten hat.

[12] Erst fünf Jahre alt wurde ich an jenem Tag, aber ich war der größte Junge im Kindergarten, flink und stark. Schon damals ernannte mich Apupa zum Leibwächter meines Vetters Gabriel. Er ist so alt wie ich, aber zum Leidwesen unseres Großvaters war er ein kleines, schwaches Kind. Die Schlange spürte das Stampfen meiner Schritte auf der Erde, wandte sich zur Rechten und sauste durch den Stall der Legehennen. Ich erinnere mich: Flügelschlagen, Gegacker, wirbelnder Staub in der Nase, Gestank und Federn. Sie steuerte unseren kleinen Zitrusfruchthain an. Zweige schlagen mir in die Stirn, Reiser bersten unter meinem Fuß, Blätter rascheln in meiner Erinnerung. Sie hatte es auf den Unterschlupf jenseits des Hains abgesehen, auf das große Kornfeld, das der Ernte harrte. Heute stehen da, wie gesagt, die neuen Villen, aber damals wuchs Weizen dort. Mit letzter Anstrengung peitschte sie quer durch Mutters Gemüsebeet: entsetzte, ungespritzte Tomaten, erbleichende Vitamine, eine gekreuzigte Vogelscheuche schreit verblüfft »Halt!« und spreizt die Arme – und schon tat sich ein enger Spalt in der Mauer der gelben Ähren auf, und die schwarze Nudel verschwand darin, von begierigem Mund eingesogen. Der Spalt ging im Nu wieder zu, man konnte nicht mehr wissen, wo sie steckte, aber ihr Schuppenrascheln zwischen den Weizenhalmen hörte man, und das Wiegen der Ähren – wie der Hals einer Frau, der eine Hand ins Kleid greift – deutete auf das Kriechen der Schlange darunter: pulsierende Haut, geneigte Kehle, ein gebeugter Halm, erschrocken.

Ich war ein neugieriges Kind, mutiger, flinker und selbstsicherer als der Mann, der ich heute bin. Trotz Furcht vor Schelte von Amuma und Mutter und trotz des schnellen Bebens auf meiner Schädeldecke – so spüre ich nahendes Unheil – sauste ich ihr mitten ins Feld nach. Stürmische Grannen schnitten mich in Hals und Wangen, messerscharfe Blätter in die Arme, aber die Schlange hatte das Weite gesucht, war auf der Stelle erstarrt oder hatte vielleicht ein Erdloch gefunden – war nicht mehr zu sehen oder zu hören.

[13] Ich hielt inne. Mit pochendem Herzen und wogender Lunge. Stumm, die Ohren gespitzt. Ich sprang hoch, drehte prüfend den Kopf, die Augen weit aufgerissen: ein großes Meer. Sanfte, in den Kinderaugen unendliche, gelbe Wellen umspülten die Insel meines Körpers. Heute weiß ich, daß es nur dreißig Dunam Weizen waren, ganze drei Hektar, aber damals, in den kindlich leeren Weiten meines Bewußtseins, erstreckte sich unser Feld von uralten Zeiten bis an den Saum der fernen blauen Bergzüge, die am Horizont aufragten und uns ringsum einkreisten. Oft ging ich dorthin, um einzutauchen, mich auf den Grund zu legen und den Schlaf zu erwarten. Ein großer, leerer Himmel wölbte sich über mir, Ährenpinsel durchmischten sein Azur, Bussarde flatterten darin, schienen an Gespinsten zu hängen. Meine Augen schlossen sich, wie jetzt, für einen Moment. Ein weiteres Zittern auf meiner Schädeldecke, sanfter als zuvor, dann langsames Versinken, Vergessen, Untergehen in seinen Wellen.

Und plötzlich, wie es kleinen Kindern oft geschieht und mir bis heute noch – genau fünfzig Jahre sind seit jenem Tag vergangen –, erfüllte mich große Müdigkeit. [*Auf den Unterschied zwischen »erfüllte mich Müdigkeit« und »befiel mich Müdigkeit« eingehen. Entsteht die eine Müdigkeit im Körper und befällt die andere ihn von außen?] Ich erlosch wie eine Kerze, zwischen zwei Fingern ausgedrückt. Die Aufregung des Geburtstags, die neuen Sandalen, die Geschenke, die Verfolgungsjagd, der in Schnaps getauchte Finger, den Vater mich hatte ablecken lassen, als Mutter nicht hinguckte – all das hatte mich zu Boden gezwungen. Ich sank auf den Rücken und schlief auf der Stelle ein.

Ich heiße Michael Joffe. Nicht Jaffe, sondern Joffe. Wir Joffes achten sehr auf dieses o. »Es gibt ›Joffe‹ und ›Jaffe‹«, sagen wir, »die mit a und wir mit o.« Und meine Tante Rachel sagt: »Wir sind die Joffes, und die sind die Jaffes.«

[14] Ich wurde im Sommer 1947 meiner Mutter, Hanna Joffe, einer unerträglich aggressiven Missionarin für Gesundheit und Vegetarismus, und meinem Vater, Mordechai Joffe, einem Berater für den Anbau von Zitrusfrüchten, geboren, der bei einer Palmach-Aktion einen Arm verloren hatte und meine Mutter von rechts und links betrog, wenn man die Untreue eines Einarmigen so beschreiben kann. Einmal, in einem selten mutigen Moment, fragte ich sie, warum sie ihn geheiratet hatte, worauf Mutter, in einem selten liebevollen Moment, lächelnd erwiderte: »Weil er auch Joffe hieß, da brauchte ich den Familiennamen nicht zu wechseln.«

Meine Mutter ist kräftig, knochig und konsequent. Das Alter hat sie nicht gebeugt, und nach Art der fanatischen Vegetarier möchte sie auch ihre Mitmenschen gesunden lassen. Morgens und abends referiert und predigt sie, belästigt alle mit ihren zornig tadelnden Blicken und dem, was mein Vater »ihre Einträufelungsmethode« nannte: Man soll gut kauen! Man soll Vollkornreis essen, Tee und Kaffee vergessen, Obst hoch bemessen! Aber am wichtigsten ist zu wissen: Proteine nie mit Kohlenhydraten mischen!«

Vater spottete über ihr »man«. Er sagte, wenn unsere Stammmutter Hanna und nicht unser Lehrer Moses die Zehn Gebote verfaßt hätte, würde es dort nicht heißen: »Du sollst nicht töten«, sondern: »Man soll nicht töten«, »Man soll nicht stehlen«, und: »Man soll Vater und Mutter ehren.« Aber unter seiner gleichmütigen Spöttelei grollten Ärger und Enttäuschung. Es ist schwer, mit einer Prinzipientreuen zusammenzuleben, und noch viel schwerer mit einer, die immer recht hat. Anfangs hatte er versucht, die Sache zu ignorieren, danach begann er zu diskutieren – »Kaffee ist doch auch eine Pflanze, oder etwa nicht?« –, und zum Schluß wappnete er sich mit allerlei Verteidigungsmitteln: Er legte sich Fleisch- und Wurstverstecke an, trainierte und schärfte seinen Sinn für Humor, umgab sich mit einem Harem fremder Frauen, und letzten Endes ging er vorzeitig von dannen. Für den [15] Tod gibt es in der hebräischen Sprache ein großes und weiträumiges Wortfeld: hinscheiden, enden, fallen, gefällt werden, seine Seele aushauchen, das Leben verlieren, mit seinen Vätern schlafen, ableben, nach dem himmlischen Kollegium berufen werden, erlöschen, seine Seele zurückgeben, das Zeitliche segnen, umkommen, von Gott zu sich genommen werden, die himmlischen Engel haben die Erdenbewohner besiegt, hinweggerafft werden, abkratzen, krepieren, heimgehen, aus dem Leben gerissen werden, in den Himmel aufsteigen, zu Staub werden, sein Lebenslied vorzeitig beenden, den Geist aufgeben und noch und noch – und in diesem ganzen großen Feld paßt nichts besser für den Tod meines Vaters als »von dannen gehen«. So ist er gestorben, und so, von dannen gehend, sehe ich ihn seither vor mir: von hinten, mit seinem leichtfüßigen, aufrechten Gang und der leichten seitlichen Rumpfneigung der Armamputierten, übers Feld davon schreitend.

Mutter, die viel Karotten aß und deren scharfen Augen nichts entging, verlieh seinen Liebhaberinnen den allgemeinen Schimpfnamen Zatzkes sowie individuelle Schimpfnamen, die stets auf die Worte »er ist bei« folgten: Er ist bei »der Mörderin«, er ist bei »der Kuh«, er ist beim »Arsch«, er ist bei »der Spuckerin«. Als letzte erhielten diejenigen Zatzkes ihre Beinamen, die erstmals bei seiner Beerdigung auftauchten, wo sie einen engen, traurigen Pulk bildeten und voneinander noch mehr überrascht waren als Mutter. Sie verströmten den guten Duft nach den Schalen von Zitrusfrüchten, und ich fragte mich: Hatten sie sich vorher womöglich darüber abgesprochen? Denn zu seinen Lebzeiten roch seine Hand immer danach. Kam er nachts heim, witterte ich diesen Geruch an seiner einzigen Hand, die mir übers Gesicht strich: »Schläfst du, Michael?«

»Ja.«

»Dann reden wir morgen. Gute Nacht.«

Die Eltern meines Vaters habe ich nur auf Bildern gesehen. Sie [16] starben, ehe ich geboren wurde. Aber die Eltern meiner Mutter habe ich gut gekannt. Unser Haus war, wie die übrigen Häuser der Familie, auf ihrem Grundstück, dem »Joffe-Hof«, erbaut. So heißt noch heute der geräumige Hof, der einst das Herz einer regen Landwirtschaft war und heute ringsum abgeschottet ist: umgeben von dornigem Brombeer- und Heckenrosengestrüpp und roter Bougainvillea, verschanzt hinter Steinmauern und Kaktushecken und belagert von schimmernden, hohen Wohnhäusern nebst Parkplätzen, Straßen und Läden.

Sie, Mirjam Joffe, von der Familie »Amuma« und von ihrem Mann »Mutter« genannt, ist bereits tot. Er, David Joffe, von der Familie »Apupa«, mit Betonung auf der zweiten Silbe, und von seiner Frau »David«, mit Betonung auf der ersten Silbe, genannt, lebt noch. Früher war er ein großer, kräftiger, lauter und aggressiver Mann, doch heute ist er klein, zittert vor Kälte, und von all seinen einstigen Eigenschaften sind ihm nur seine Riesenhände und sein »Spatzengehirn« geblieben. Letzteres habe ich in Anführungszeichen gesetzt, denn dieses sagten ihm immer wieder seine Frau und seine Töchter nach: Die älteste ist meine Tante Pnina, die den Beinamen »die schöne Pnina« trägt. Die zweite ist ihre Zwillingsschwester, meine Mutter Hanna, die drei Minuten nach ihr geboren wurde und seither nicht vergeben kann. Die dritte Tochter ist Tante Batja, die bei ihren Schwestern »Über-alles« heißt, weil sie einen Deutschen heiratete, einen der Templer, die damals im Lande lebten, und im Zweiten Weltkrieg mit ihm nach Australien verbannt wurde. Ich habe sie nie gesehen, aber ihre Tochter, namens Adelaide, kam viele Jahre später ins Land, worauf sich kurze, aufreibende Liebesbande zwischen uns entspannen, die mit ihrer Rückreise endeten. Die vierte Tochter ist meine Tante Rachel, bei der ich manchmal schlafe und Tschernichowski-Verse, Erinnerungen und Geschichten höre.

Der Mann der schönen Pnina ist Onkel Aaron, dessen Beiname, wie gesagt, »der Bräutigam« lautet. Aaron ist ein Technikgenie, [17] hinkt auf einem Bein, und diese beiden Eigenschaften beglücken Rachel, denn dank ihrer kann sie ihren Schwager »den berühmten Beinbehinderten« nennen, wie der Dichter Saul Tschernichowski den Schmiedegott Hephäst genannt hatte. Genau wie Hephäst ist auch unser berühmter Beinbehinderter verheiratet mit einer schönen Frau, die ihn betrogen hat, und wiederum genau wie er »versteht er mehr als jeder wahre Ingenieur«, und seine Erfindungen ernähren uns bereits viele Jahre lang. Ich sage »uns«, weil Apupa, in Sorge wegen des fehlenden Sohns, den Bräutigam eine Verpflichtung hatte unterschreiben lassen, daß er, wenn er Pnina zur Frau erhielt, für ihre Schwestern sorgen und auch ihre Familie ernähren werde.

»Pnina war dermaßen schön, und Aaron liebte sie so sehr…« – erzählte mir Rachel in ihrer lyrisch fließenden Satzmelodie [in ihrer besonderen Satzmelodie, die jede gewesene Begebenheit in ein Märchen verwandelt], daß er widerspruchslos zustimmte. Aber noch vor der Hochzeit passierte etwas Furchtbares: Pnina wurde schwanger von einem fremden Mann. Und während die Joffes noch allesamt schreckerstarrt waren, geschah etwas noch Furchtbareres: Großvater, mit Töchtern gesättigt und hungrig nach einem Sohn, zwang sie, das Kind zur Welt zu bringen, und nahm es zu sich. Das ist mein Vetter Gabriel, dem die Familie den größten Kranz an Kosenamen gewunden hat: Alle nennen ihn Misinik und Siebele, und Großvater nennt ihn, wie erwähnt, auch Puiu und Zipljonok, das heißt Nachkömmling, Siebenmonatskind und Küken auf jiddisch, rumänisch und russisch.

Nach der Niederkunft heiratete die schöne Pnina ihren Aaron, und seither sitzt sie abgeschieden im Haus. Die einen sagen, ihr Mann ließe sie nicht hinaus, damit ihre Schönheit nicht unter Wind und Sonne leide, andere meinen, sie hätte sich das selbst auferlegt. »So oder so« – diesen Ausdruck hat Großmutter geprägt, und wir alle verwenden ihn auch nach ihrem Tod weiter –, der Bräutigam erfüllte seine Verpflichtung und sorgte für die [18] ganze Familie: Er baute allen Häuser, finanzierte Hochzeiten und Ausbildungen, und jetzt, da auch er alt geworden ist und die Fürsorge keine selbstübernommene Pflicht mehr ist, sondern schon zweite Natur, plant und gräbt er für uns alle ein System von Lagerräumen, Bunkern und Speisekammern, Zisternen, Benzintanks und womöglich auch Fluchttunneln. »Wie soll man wissen«, sagt Tante Rachel, »was er da unter der Erde eigentlich treibt?« Aber manchmal kriecht der Bräutigam hervor, das Gesicht verschrumpelt wie das einer Blindmaus beim Austritt aus ihrem Erdloch, beschattet die geblendeten Augen mit der Hand und gibt eine Erklärung ab: »Sehr bald«, so sagt er, und wir alle sprechen ihm, wie kichernde Truthähne, die Fortsetzung nach: »Sehr bald wird hier ein furchtbares Unglück geschehen.«

Tante Rachel ist, wie erwähnt, die vierte Tochter von Amuma und Apupa. Sie hat in allem das Sagen, ist die Direktorin, hat die Leitung inne und von ihrem Vater, noch zu seinen Lebzeiten, die Rolle des Familienoberhaupts übernommen. Ihr Mann, der in der Familie Joffe »der Junge« genannt wird, kam wenige Monate nach der Hochzeit im Unabhängigkeitskrieg um. Da Rachel in dem leer gewordenen Bett nicht einschlafen konnte, wurde sie mondsüchtig und begann, mit geschlossenen Augen zu wandeln und sich einen Partner zu suchen. Nachdem wir einige Peinlichkeiten erlebt hatten, wurde ein Turnusdienst in der Familie eingerichtet, und wir alle, die Jungs und Männer der Familie, wurden und werden hingeschickt, um bei ihr zu schlafen.

Von ihren Armen umschlungen, glühend vor Hitze – die Joffes decken sich stets mit dem Puchowik, dem Federbett, zu, und Rachel zieht sich darüber hinaus noch den Flanellschlafanzug ihres toten »Jungen« an –, hörte ich von ihr die Chronik unserer Familie, und in der mir verbleibenden Zeit werde ich vieles davon erzählen: alles, woran ich mich mit Freuden erinnere, und alles, was ich zu vergessen hoffe [das, was ich in Erinnerung habe, und das, was ich trotz aller Anstrengungen nicht mehr vergessen werde].

[19] Ich bin heute fünfundfünfzig Jahre alt, etwas asthmatisch, verheiratet mit einer tüchtigen Frau, Alona heißt sie, und wie so einige andere Joffes bin auch ich Vater von Zwillingen: Der Sohn, Uri, ist noch träger als ich. Die meiste Zeit des Tages lagert er auf dem Bett, versunken über seinem Laptop, beim Schmökern, beim endlosen Warten auf die Frau, die »eines Tages kommen wird«, und beim endlosen Anschauen des Films Bagdad Café. Für die Tochter, Ajelet heißt sie, gilt: Ihre Hände gegen alle, die Hände aller gegen sie, und das nicht in der biblisch-ismaelitischen Bedeutung des Satzes. Sie ist geschäftig wie ihre Mutter, aber viel quecksilbriger und leidenschaftlicher, hat bereits das Haus verlassen und eine Kneipe – den »Joffe-Pub« in Haifa – eröffnet. Und beide, Uri wie Ajelet, sind riesengroß, sehen mich an und wechseln dabei listig grinsende Blicke, wie zwei Kuckucksjunge, die von fremder Hand in mein Nest plaziert worden sind.

Alona hat keinen Beinamen. Namen, Schmutzflecken und Klatsch bleiben nicht an ihr hängen, und auch »Schrammen« – so nennt Ajelet das, was die Seele ihres Vaters peinigt – hat sie nicht. Aber »zum Ausgleich« – auch das ist ein Ausdruck, den wir viel verwenden: »Großvater ist schwer von Begriff, aber zum Ausgleich hat er eine schwache Phantasie« –, zum Ausgleich hat sie wache Sinne und einen guten Verstand. Und so, vor Jahren, als auch den Begriffsunwilligen klar war, daß unser Dorf – trotz romantischer Restbestände an Orangenhainen, Gemüsebeeten und einigen Hühnern, die noch Repräsentativfunktion versehen – zusehends städtisch wird, gab Alona ihren Arbeitsplatz in der Kreisverwaltung auf und eröffnete eine kleine Gärtnerei. Gan Jaffé, »Schöner Garten«, nannte sie den Betrieb und errichtete ein großes Hinweisschild an der Kreuzung, auf der Hauptstraße:

SCHÖNER GARTEN
GARTENGEWÄCHSE GERÄTE BEWÄSSERUNG
FERTIGRASEN GARTENBEDARF

[20] »Wieso denn plötzlich ›Jaffe‹ mit a?« fragte ich.

»Weil das zur Abwechslung mal ein Eigenschaftswort und kein Familienname ist und weil sich nicht alles auf der Welt um euch dreht, sondern nur ein bißchen was!« So entgegnete sie, »und jetzt steh auf, Michael, an die Arbeit! Genug im Bett rumgestänkert und blöde Fragen gestellt.«

Ich lachte. Alona hatte alle Ausdrücke der Joffes gelernt und übernommen. Ich stand auf und fing an zu arbeiten. Ich habe einen alten Ford Transit, vollgepackt mit Rohren und Setzlingen, einen Arbeiter, den der Bräutigam mir besorgt hat, und es ist mir schon gelungen, einen kleinen, abhängigen Kundenkreis um mich zu scharen: neue Einwohner, diese Gartenfreaks, die seit neuestem in der ganzen Umgebung Häuser erwerben.

Wie die meisten Joffes habe auch ich einen Beinamen. Aber der ist geheim, ein Liebesname. Eine Frau, die weder meine Ehefrau Alona noch meine Kusine Adelaide und natürlich auch nicht meine Mutter Hanna ist, mir aber lieber als sie alle drei, hat ihn mir gegeben, und nur sie hat ihn benutzt und auch das nur, wenn wir allein waren, damit niemand ihn hörte.

Fontanelle – das ist mein Name im Mund meiner Geliebten. So nannte sie mich damals, wenn ich mich zu ihr nach Hause stahl, und so nennt sie mich noch heute, wenn sie sich in meine Erinnerung stiehlt. »Fontanelle« heißt kleiner Springbrunnen, aber in vielen Sprachen bezeichnet das Wort auch die Knochennaht, die »Weichstelle« – jene furchterregende Lücke auf dem Scheitelpunkt des Schädels von Neugeborenen. Bei allen Menschen schließt sich diese Lücke schon im Alter von einem Jahr, doch ich, fünfundfünfzig Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Kinder, der blöde Fragen stellt, bin der einzige Mensch auf der Welt, dessen Fontanelle immer noch offen ist.

Dem Anschein nach ist es eine Schwachstelle, die Besorgnis erregen müßte. Aber durch meine Fontanelle spüre ich Wärme und Kälte, unterscheide zwischen Licht und Dunkelheit, siebe [21] Tatsachen und Erinnerungen, und wie ein Hund höre ich dadurch tiefe und hohe Töne, die das menschliche Ohr nicht wahrzunehmen vermag. Hier und da kann ich mit ihrer Hilfe auch prophezeien: das Geschlecht ungeborener Kinder, Wahlergebnisse, und die ziemlich präzise, Wetter- und Liebesschwankungen, wer leben und wer sterben wird, und was solch einfacher Vorhersagen weiter sind, die Alona zunächst belustigen – »warum schaffst du das nicht auch beim Lotto?« –, sich dann jedoch, trotz ihres Spotts und Zweifels, bewahrheiten.

Ich habe auch eine Angewohnheit: Wenn Alona nicht hinguckt, berühre ich meine Fontanelle mit den Fingerspitzen, drükke sanft und erinnere mich dann an die bewußte Frau, die mir das Leben rettete und mir meinen Namen gab. Wie eine winzige, erstickte Trommel vibriert sie unter meinem Haar, und wenn ich sie berühre, erinnere ich mich an ihre haltende Hand, ihre rennenden Beine, das brennende Weizenfeld, spüre erneut das kühle Wasser im Wadi, in das sie meinen Leib tauchte.

Ihre Finger betasten mein versengtes Haar. Brennende Anemonen auf ihrem Kleiderstoff, ihre Lippen sagen: »Deine Fontanelle ist noch offen.« Dann fällt mir auch ihr Flüstern ein: »Das ist ein Zeichen, daß Gott dich liebt.« Und ihr Lachen: »Und wenn Gott, dann auch ich.« Und ihre Umarmung: Sie zieht mich heran, hält mich fern, guckt und drückt mich erneut an die Brust. Sie war eine junge Frau, einundzwanzig Jahre alt, ich ein kleiner Junge von genau fünf Jahren, und die langsam fließenden Wasser der Zeit haben mich aufwachsen und reifen und sie altern und sterben lassen.

Ich werde also zusammenfassen, zusammenfassen und zur Ruhe kommen: Ich heiße Michael Joffe. Meine Großeltern, David und Mirjam Joffe, gebaren die schöne Pnina und meine Mutter Hanna, ihre Zwillingsschwester, sowie Batja, genannt »Über-alles«, und Tante Rachel, die mir Geschichten erzählt und nicht allein schlafen will. Pnina gebar Gabriel im siebten Monat ihrer [22] Schwangerschaft, übergab ihn ihrem Vater, heiratete Aaron und schloß sich im Haus ein. Batja wurde mit ihrem deutschen Mann nach Australien verbannt und gebar ihm einige Kinder, darunter Adelaide, die in einigen Liebeswochen mein Herz beschäftigte und meinen Leib zermürbte. Hanna, die Vegetarierin wurde, heiratete Mordechai Joffe, der sie mit all seinen Zatzkes betrog, einmal aber wohl auch mit ihr geschlafen hat, denn sie gebar ja mich. Ich wiederum bin verheiratet mit Alona, und wir haben Zwillinge, Uri und Ajelet, und eine Gärtnerei.

Und noch eine Anmerkung habe ich zu machen oder vielleicht eine Warnung anzubringen: So einige der Joffes, Frauen und Männer, leiden an einem besonderen Defekt: Stillen, Samenerguß und Blutverlust machen uns vergeßlich. [*Milch, Blut und Sperma müssen in der Folge als Essenz der Seele und des Lebens dargestellt werden.] Und tatsächlich, während ich verblute oder am Ende des »Liebesakts« – diesen schrecklichen Ausdruck verwendet meine Mutter, und Alona hat ihn zu meinem Abscheu und Entsetzen auch übernommen – vergesse ich Ereignisse, Gesichtszüge, Telefonnummern, sogar Worte. Der kluge Leser wird das leicht bemerken, und was den unklugen Leser betrifft, so werde ich weder meine Worte noch meinen Samen auf ihn verschwenden.

Jetzt, da all diese Dinge geklärt sind, kann ich meine Geschichte erzählen. Derjenige Leser nun, der sich in dem Wald verläuft, den ich um ihn wachsen lassen und durch den ich ihn führen werde, tut gut daran, gelegentlich zu diesem Kapitel zurückzukehren, seinen Standort zu identifizieren, seinen Kompaß zu justieren und den Pfad wiederaufzunehmen. Hat er jedoch keine Lust, zurückzukehren, möge er mich abweisen und eine andere Geschichte zur Hand nehmen, die bequemer und besser ist als meine. Ja, vielleicht täte er gut daran, gar nicht zu lesen, sondern seine Geliebte zu streicheln. Und falls der Leser weiblichen Geschlechts ist – so lege sie mein Buch nieder und umarme ihren Mann.

[23] An diesem Punkt mag sich die Frage stellen: Was sollen diejenigen Leser tun, deren Betten eines Mannes oder einer Frau ermangeln? Darauf antworte ich mit einer Gegenfrage: Mangelt es im Bett an einem Partner oder einer Partnerin? Oder ist es wie mein Bett – es liegt noch ein Körper darin, aber es ermangelt der Liebe.

»Herr Hamster hat einen guten Schlaf,

Erwachte, glättete den Pelz schön brav.

Alle feiern hoch erfreut –

Denn sein Geburtstag, der ist heut.«

So deklamierte Amuma damals, an jenem Geburtstag, an dem ich fünf Jahre alt wurde und der Schlange ins Weizenfeld nachflitzte, und so deklamiert Alona jetzt, an diesem Geburtstag, an dem ich fünfundfünfzig geworden bin und ruhig dasitze.

Die Zeit füllt sich, nach Art der Joffes, mit Zufriedenheit: Anda – so familiär nannte meine Großmutter die Dichterin Anda Amir-Pinkerfeld, die das Gedicht vom Hamster geschrieben hat – ist schon tot. Auch Amuma ist bereits gestorben, aber Alona lebt noch, und auch meine Mutter lebt, denn sie ist Vegetarierin und gesund, und wenn sie mal stirbt, weiß ich nicht, welches der vielen Worte, die den hebräischen Tod bezeichnen, für ihren am besten passen wird. Sie wird nicht nach dem himmlischen Kollegium berufen werden, denn dort ißt man Wildochsen, und sie wird nicht mit ihren Vätern schlafen, denn selbst mit ihrem Mann hat sie es kaum je getan. Das passendste Wort für den Tod eines Vegetariers ist »Überraschung« und bei meiner Mutter auch »Untreue«, falls das Unmögliche passieren und sie an einer Krankheit sterben sollte.

Die Dinge ändern sich: Aus dem Dorf ist eine Stadt geworden, und trotz der natürlichen Sehnsucht nach der guten alten Zeit – »alle kannten sich, man schloß die Türen nicht ab, und man half [24] sich gegenseitig«, wie der Bräutigam immer wieder nostalgisch aus den Annalen berichtet, worauf wir alle lächeln – muß ich gestehen, daß es als Stadt besser ist als zuvor. Apupa, den die Jahre klein wie ein Baby und kalt wie einen Leichnam gemacht haben, liegt in dem alten Inkubator meines Vetters Gabriel. Und Gabriel selbst, der sein Leben als Frühchen begann, ist groß und stark geworden und sitzt jetzt auf dem Rasen mit dem Geiger Hirsch Landau und der »Geliebtenmannschaft«, seinen Freunden aus den Zeiten, in denen wir alle gemeinsam in derselben Militäreinheit dienten.

Die Zeit freut sich: Fünfzig Jahre sind vergangen, und wir alle, außer ihr und meiner Mutter, haben uns verändert. Die Zeit ist immer noch weit und langsam, meine Mutter ist immer noch schlank und gesund, und beide haben immer recht. Mein Vater streitet nicht mehr mit ihr, denn er ist nicht mehr da. Vor seiner Zeit ist er gestorben, vor meiner Zeit ist er von dannen gegangen.

Abseits sitzen meine Zwillinge, Uri und Ajelet, tuscheln und kichern, und ihre Mutter faucht sie an, ruhig zu sein. Als ich sah, daß sie mich nicht beobachtete (ein kurzer und seltener Moment, den es auszunützen gilt) und die Gäste, die sie zu meinem Geburtstag eingeladen hatte (die dreihundert Schmeichler, die unter den Tausenden, die sie liebt, und unter den Abertausenden, die sie kennt, ausgewählt wurden), miteinander beschäftigt waren, legte ich schnell den Finger auf meine offene Fontanelle und drückte ein bißchen, denn das ist meine zweite Methode, um zu vergessen und Ruhe zu finden.

»Hör auf damit, Michael! Das ist gefährlich, hörst du?!«

Argusaugen hat sie. Nichts entgeht ihrem Blick. Einst war ich ihr Geliebter, aber im Lauf der Jahre ließen ihre Augen das Verschleiern und ihre Finger das Streicheln und fingen an, zu mustern und zu prüfen. Ihre Lust verwandelte sich in Sorge, ihre Umarmungen wurden zu Mauern und Verboten. Ihre Lippen – seinerzeit küssend, vergessen machend, Samen und Speichel [25] saugend – fauchen jetzt Anordnungen und Rügen. Ihre neue Schelte gilt der – durchaus bedauerlichen – Tatsache, daß ich meine Kleidung mehr als üblich bekleckere: »Egal, was du tust, arbeiten, essen, lesen, mich betrügen, einfach im Bett ausruhen – sauber bleibst du nicht dabei.« Und wenn ich ihr vorschlage, Ajelet und Uri anzuspornen, schnell zu heiraten und ihr Enkel zu verschaffen, damit sie ihre pädagogischen Gelüste an ihnen befriedigen könnte, lacht sie: »Ich brauche keine Enkelkinder. Ich habe ja dich.«

Ihr Blick mustert mein Äußeres, ihre Hände befummeln meine Haut, ihr Scharfsinn dringt in meine Gedächtniszellen ein: Namen, Daten, Zahlen, Orte. Wenn ich etwas vergessen habe, ist das ein Zeichen, daß ich Blut oder – was wahrscheinlicher und schlimmer ist – Samen vergossen habe. Und da ich beides nicht oft in ihrer Anwesenheit tue, läßt sie mich auf einem Stuhl Platz nehmen, stellt sich hinter mich und unterzieht mich einem Verdachtstest:

»Wie lautet die Telefonnummer deiner Tochter?«

»Dann erinnerst du dich vielleicht wenigstens an ihren Namen?«

Und da ich mich auf mein Aussageverweigerungsrecht berufe, gehen wir zum nächsten Stadium, dem Treuetest, über: »Bei wem bist du denn schon gewesen, Michael?«

»Welche Frau hat dir die Erinnerung ausgesaugt?«

Angeekelt stehe ich auf, möchte weggehen, ehe ich auch noch den widerlichen Ausdruck von ihr und meiner Mutter zu hören bekomme: »Liebesakt«. Aber Alona tritt vor mich hin und faucht: »Wie dein Vater, so einer bist du. Ein Treuloser! Gehst zum Versteck!«

»Du irrst«, sage ich laut und ärgerlich, aber wie die Schlange – im Herzen: »Du irrst, Alona, ich bin nicht wie mein Vater. Ich habe, zu meiner Freude, zwei Arme, einen mehr, als er hatte. Ich habe zwei Kinder, eines mehr als er. Mir fehlt, zu meinem [26] Bedauern, sein Sinn für Humor. Und trotz deiner Verdächtigungen gehe ich zu keinem Versteck und zu keiner Zatzke und zu keiner Nachbarin. Ich habe dich nie betrogen. Im Gegenteil, Alona, wenn ich mit dir bin, betrüge ich jene Frau [die Erinnerung an meine Geliebte].«

Ich könnte ihr das sagen, was Ajelet mir vorgeschlagen hat: »Sag ihr, du hättest Blut gespendet und deswegen vergessen.« Aber wozu? Statt dessen lege ich wieder den Finger auf meine offene Fontanelle, streiche über ihre Ränder, und da ist sie, in voller Kraft und Schönheit – die Frau, die mich aus dem Feuer errettete, mich im Wasser des Wadis untertauchte, mir Namen und Leben schenkte, mich zu ewiger Sehnsucht, ständiger Erinnerung und bitterem Verlangen verdammte. Meine Hand erinnert sich an ihre Hand, meine Sehnsucht an ihr Lächeln, mein Finger folgt ihrem Finger, der damals, zum ersten Mal, meinen Brunnen umkreiste, ich erinnere mich an den Geruch von Rauch und Feuer, an ihren Fingernagel, der sanft auf die zarte Deckhaut trommelte, an ihre Worte: »Deine Fontanelle ist noch offen…« Wie ein Hund kann ich diese Töne hören, die dem menschlichen Ohr verborgen bleiben – die tiefen Klänge meiner Erinnerung, die hohen Klänge ihrer Liebe.

»Was soll bloß am Ende aus dir werden?« Jetzt schreit Alona schon. »Sag mir das selbst mal!…«

»Warum wauwau?« erwidere ich ihr, das heißt, warum bellst du eigentlich? Und da die Joffes unter den Gästen meine Erwiderung und die übrigen ihren Aufschrei verstehen, blicken alle auf und lecken sich erwartungsvoll die Lippen. Aber ich schweige. Trotz meiner Prophetengabe beantworte ich keine Fragen mehr, die mit »Was soll werden?« anfangen, und erst recht nicht, wenn meine Frau diese Fragen stellt und sie sich mit mir befassen. Überhaupt – je mehr Zeit sich auf meine Schultern häuft, desto weniger werden meine Prophezeiungen, und an ihrer Stelle kommen die Erinnerungen. So ist es bequem für mich. Abgesehen von der [27] umgekehrten Blickrichtung besteht ja kein großer Unterschied zwischen Prophetie und Erinnerung. Beide entstammen einem inneren Drang, einem lodernden Feuer, das keine Ruhe gibt. Beide sind – weiß der Teufel, warum – bereit, die lächerlichen, überflüssigen Beweistests durchzustehen. Beide wollen Geschehen zu anderen Zeiten wissen, und beiden gelingt das nicht immer. Ja wozu um den heißen Brei herumreden? Beide kämpfen mit der großen, uralten Versuchung, die an ihrer Schwelle lauert – zu trügen, zu tarnen, zu erdichten. Tatsache: Nicht nur Lügenpropheten, auch Lügenerinnerer leben unter uns. In jedem Haus, in jeder Familie, aber vor allem in meiner, und die Joffes lassen nicht ab, Versionen zu vergleichen: Was ist wirklich geschehen? Was genau wird geschehen? Wer hat, wie immer, Schuld? Wer hat es wem, wie immer, vorausgesagt? Und am wichtigsten: Wer hat, wie immer recht behalten? Und wer wird niemals zugeben, daß er sich geirrt hat?

Jede Familie stößt ihre eigenen Laute aus: schallendes Gelächter, Topfbrodeln, ersticktes Schluchzen, »sch…« und »pst…« oder »na… na, ist ja gut…« und rhythmisches Bettknarren, nächtliche Schritte, Zornrufe, Liebesgeflüster und Einberufungsparolen. Unsere Laute, die der Joffes, sind Prosteste von wegen: »So war’s nicht!« Rufe von wegen: »Ich hab’s euch ja gesagt, daß es so kommen würde!« Und das Fauchen der Personalpronomen, des »er« und des »sie« und des »sie allesamt« und des »ich« und des »du«.

Wer es hört, der weiß: Die Joffes kommen. Die große und »bis zum Beweis des Gegenteils glückliche« Joffe-Familie – es flitzen, fliegen, Berge, Felsen, da eine Kuh, da ein Vogel [*»ein einsamer Vogel auf dem Dach«, so bezeichnete Amuma sich selbst], Rä-derrattern, Eisenbahntuten, Rotlichtsignal an Straße und Kreuzung…

»Schalom…« winken wir vom Fenster den Feldern, den Häusern, den namenlosen Autofahrern, »Schalom…« den [28] versammelten Gesichtern, bleichen Flecken hinter den Schranken, »und es pfeift die Bahn, und Ajelet fährt mit winkender Hand weit, weit weg in ein unbekanntes Land«, und die Prophezeiungen fliegen, wie die Strommasten, an uns vorbei, weichen zurück, vom Ende der Zeiten, das da kommen wird, bis zu diesen Tagen, und während wir sie noch bestaunen, bewahrheiten sie sich: Starker Wind, Berge zerschmetternd, schlägt ins Gesicht, und schon entfernen sie sich, verschwinden, und ehe du es begreifst, Michael, werden sie zu Erinnerungen, füllen sich mit der schweren Freude der Bewahrheitung und versinken.

So in Erinnerung behalten, Michael, genau und der Reihe nach: Erst den Geruch, seidenfein kommt er näher und näher, verdichtet sich, hüllt ein wie ein Sack. Danach die Laute, sie dringen mit sanftem Säuseln ein: das Fiepen erschrockener Mäuse, das Schuppenrasseln flüchtender Eidechsen, das verzweifelte Rufen der Lerchenjungen. Und dann, über alles hinaus, das zunehmende, sich ausdehnende Knistern, das Wispern des brennenden Weizens, das ich nicht vergessen werde. Es begann mit einem sanften, fernen Säuseln, ging weiter mit einzelnen rätselhaften Knallern, immer lauter und klarer, dann von ihrem gemeinsamen Prasseln verschluckt – Feuersbrunst.

Und dann der furchtbare Schrei: »Papa!« – Er drang aus meinem Mund, der erwachte und erstickte. Auf meinem Geburtstagshemd landeten heiße Ascheflöckchen. Rotrandige Löcher entstanden bereits im zurückweichenden Weiß des Stoffes.

»Papa!…«

Ich reckte mich. Eine grau-rote Feuer- und Rauchsäule stürmte im gelben Rund des Weizens auf mich zu. Ich stürzte zu Boden, erinnere ich mich, gekrümmt wie ein Fötus, die Hände über den Schädel gelegt. In Sekundenschnelle erfaßten die Flammen die gesamte Breite des Feldes, und das Feuer rückte nach Osten vor.

[29] »Michael…«, bellte Apupas alter Hund, sprang wie verrückt am Rain des brennenden Feldes. Er wollte zeigen, daß er noch zu was nütze war, aber zu mir vorzudringen, traute er sich nicht.

»Michael…«, riefen ferne Stimmen, vom Wind getragen, der Eltern und Verwandten. Sie, die empfangen und geboren, aufgepäppelt und erzogen, Kränze gewunden und Glückwünsche gesagt hatten, jetzt aber blind und hilflos waren, riefen von weit her.

»Michael…«, schrie Apupas mächtige Stimme, so nutzlos wie seine starken Hände, so dumm wie seine genagelten Schuhe, so überflüssig wie die Peitsche, die ihm im Gürtel steckte »für jede Not, die nicht kommen möge« – was nützte ihm all das angesichts der Flammen?

»Michael…«, flüsterte die Kletternatter, von irgendwoher zu meinen versteinerten Füßen zurückgekehrt. Sie, die mich hergelockt hatte, war nun wieder da, mich zu retten.

Ich wollte aufspringen und ihr nachlaufen, aber ein Windstoß fegte die rechte Flanke des Feuers über mich hinweg. Ich machte kehrt, stürzte, kam wieder hoch, erstickt und gefangen, umzingelt von den orangerot hochschlagenden Flammen. Fünf Jahre war ich alt: zu jung, um zu begreifen, zu schwach, um zu fliehen, aber zu klein, um die Hoffnung zu verlieren. Erst Jahre später erfaßte ich, daß mein Geburtstag mein Todestag zu werden drohte. Der Tod, so nahe er auch gekommen war, wirkte damals fern, unerreichbar, aber ich spürte sehr wohl Schmerz, Grauen und Erstickungsangst. So gut, daß allein schon die Erinnerung daran genügt, mich jetzt, viele Jahre später, nach meinem Freund seit damals greifen zu lassen – dem Ventolin in der Schublade.

[30] Dunkelheit überkam mich, und ich schwamm darin. Als ich wieder »Papa!« schrie, erschien aus dem Feuer eine Frau.