Margot Berger

Verhängnisvoller
Verdacht

Eine wahre Pferdegeschichte

image

In der Reihe Wahre Pferdegeschichten von der Autorin im Arena-Taschenbuch:

Blindes Vertrauen
Auf der Suche nach Calido
Letzte Chance für Jana
Schwere Zeiten für Julia
Entscheidung fürs Leben
Freundschaftsprobe

 

 

 

 

 

 

 

 

Margot Berger
begann ihre Journalistenlaufbahn als Redakteurin bei großen
Tageszeitungen und Frauenzeitschriften. Die begeisterte Reiterin
und Pferdeexpertin lebte und arbeitete als selbstständige
Journalistin und Buchautorin in Hamburg.

 

 

 

Erzählt nach einer wahren Geschichte.
Die Namen von Personen und Orten
wurden geändert
.

image

1. Auflage als Arena-Taschenbuch 2017
© 2009 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung
eines Fotos von www.slawik.com
Umschlagtypografie: KCS GmbH · Verlagsservice & Medien produktion,
Stelle/Hamburg
ISSN 0518-4002
ISBN 978-3-401-80650-1

Besuche uns unter:
www.arena-verlag.de
www.twitter.com/arenaverlag
www.facebook.com/arenaverlagfans

image

1.

Eisige Zugluft biss Lilly ins Gesicht, als sie dem Ausgang der U-Bahn zustrebte. Endstation.

Am Fuß der Treppe packte sie ihr Fahrrad beim Rahmen und trug es nach oben. Zwei Jungs in schwarzen Kapuzenshirts und Cargohosen liefen mit Skateboards unterm Arm die Stufen hinauf und rammten ihr im Vorbeidrängeln die Bretter in die Rippen. Empört wich Lilly aus.

»Spinnt ihr?«, rief sie ihnen nach.

Die Kapuzen drehten sich nicht einmal um. Ziemlich unfreundlich, der Empfang in ihrer neuen Heimat Hamburg.

Heftiger Nordost fegte Lilly entgegen und trieb ihr die Tränen in die Augen, als sie ihr Rad oben an der Straße absetzte. Schon seit dem frühen Morgen blies starker Wind über Norddeutschland. In Hamburg war das Wetter in diesen ersten Tagen des neuen Jahres genauso ungemütlich wie an der östlichen Seite der Elbe, in Sachsen-Anhalt, wo Lilly vor fünf Stunden in die Bahn gestiegen war.

Mit Grummeln im Bauch dachte sie an ihr altes Zuhause. Himmel, war ihr der Abschied heute Morgen schwergefallen. Durch stürmische Dunkelheit hatte Lilly sich früh um sieben mit dem Rad zu Theo Bülows Reitstall vorgekämpft. Zu dieser Zeit saß ihre Mutter bereits im gemieteten Möbelwagen und lenkte ihn Richtung Hamburg. Die Zwillinge Tim und Felix, Lillys achtjährige Brüder, fuhren im Transporter mit, der vom Auto zweier Nachbarn begleitet wurde, die beim Möbelschleppen helfen wollten.

Lilly war froh, dass sie es geschafft hatte, ihrer Mutter ein Bahnticket nach Hamburg abzuschmusen. Sie wollte die letzten Stunden allein mit den Pferden verbringen.

Ihr ganzes Leben lang – vierzehn Jahre – hatte Lilly auf dem Land zwischen Havel und Elbe gewohnt, in dem dünn besiedelten Gebiet zwischen Magdeburg und Stendal. Wie würde sie mit dem Umzug von Mallwitz in die unbekannte Großstadt klarkommen?

»Hamburg ist eine richtige Pferdestadt«, hatte Stallbesitzer Theo Bülow sie getröstet, als Lilly heute Morgen mit feuchten Augen jeden einzelnen Vierbeiner umarmte. »Was glaubst du, wie viele Reitvereine und Turniere es dort gibt. Und Pferdemessen. Rennbahnen. Ich beneide dich, Lilly. Bin selber nie bis Hamburg gekommen. Leider. Garantiert findest du schnell einen neuen Reitstall.«

Dann hatte ihr Reitlehrer gezögert, aber schließlich noch etwas hinzugefügt, das er bisher für sich behalten hatte, die gesamten vier Jahre, in denen Lilly zum Reiten gekommen war. »Du hast ein besonderes Gespür für Pferde, Lilly, für ihre Stimmungen. Musst nur die Chance bekommen, das zu zeigen . . .«

Da war Lilly mit großem Vertrauen auf das neue Leben in Hamburg in den Zug gestiegen.

Die Jungs aus der U-Bahn knallten ihre Skateboards auf den Gehsteig und kurvten im Slalom um eine Gruppe vermummter Frauen herum.

Lilly musste wieder an die Schulpferde denken. Theo Bülow hatte anklingen lassen, dass er seinen kleinen Stall vielleicht schließen musste, weil aus Geldmangel immer weniger Reiter kämen. Hätte sie doch wenigstens ihre besonderen Lieblinge mitnehmen können! Palando, den verschmusten Mecklenburger zum Beispiel. Und Dorio, den sensiblen Trakehner, der bei der kleinsten Aufregung eine Kolik bekam und dem sie vor jedem Reiterfest gut zureden musste. An die süßen Lewitzer Schecken durfte Lilly erst gar nicht denken. Auf den schwarzweißen Ponys hatte sie reiten gelernt.

Lilly stützte ihre Hüfte an den Fahrradsattel und entfaltete mit verfrorenen Fingern die Kopie einer Stadtplanseite. Sie studierte das Straßenschild an der Kreuzung. Mittlerweile ging das winterliche Tageslicht in diffuse Abenddämmerung über. Mit einiger Mühe entzifferte Lilly die Aufschrift: »Beifußweg«.

»Das ist er ja schon«, murmelte sie überrascht. »So nahe an der U-Bahn-Station wohnen wir!«

Mit der Bahn kam sie sicher schnell zu den Reiterhöfen . . .

Unter soeben aufflammenden Peitschenleuchten schob Lilly ihr Fahrrad zum Hochhaus mit der Leuchtnummer 5. Ihre neue Adresse. Irgendwo in der Nähe hörte sie Skateboardrollen auf Asphalt aufschlagen. In einer Reihe entlaubter Straßenbäume zauste der Januarwind, bog die kahlen Zweige nach oben und unten. Ein scheußlicher Tag.

Vom Bürgersteig aus konnte Lilly durch die gläserne Haustür in den Flur von Beifußweg Nr. 5 sehen. Vor dem Lift steckten ein paar Jugendliche mit Strickmützen die Köpfe zusammen. Handy-Displays leuchteten auf. Feixend stießen sich die Jungs in die Seiten.

Unschlüssig verharrte Lilly neben ihrem Rad auf der Straße.

Wer weiß, was die sich runtergeladen haben. Irgendeinen wüsten Schweinefilm bestimmt. Oder was mit Gewalt.

Jungs, die in Gruppen herumhingen, gab es auch in Mallwitz. Bloß hatten die sich dort in Bushäuschen zusammengerottet und nicht in Hauseingängen. Und sie hatte jeden mit Namen gekannt.

Lilly schwante, dass in Zukunft vieles anders werden würde. Zu Hause konnte sie die Jugendlichen einschätzen, hier nicht.

Der Wind riss an Lillys Jacke. Obwohl sie sonst nicht ängstlich war, traute sie sich nicht weiter. Was, wenn die Jungs sich zu ihr in den Aufzug quetschten und sie anmachten? Und herausfinden wollten, wo sie wohnte?

In diesem Moment fiel Lilly ein, dass sie selber nicht wusste, in welchem Stockwerk ihre neue Wohnung lag.

»Super geplant«, murmelte sie und zog ihr Handy aus der Jackentasche.

Lilly rief die Nummer ihrer Mutter auf und hielt das kalte Gehäuse ans Ohr. Sie legte den Kopf in den Nacken und zählte die Stockwerke.

Wenn Mama nicht rangeht, kann ich bis Mitternacht durch sämtliche Etagen laufen und an jeder Tür klingeln.

Zwölf Stockwerke. Von ganz oben hatte man sicher einen Wahnsinnsblick über Hamburg. Vielleicht bis zur Elbe und den Hafen mit seinen Kreuzfahrtschiffen, auf jeden Fall aber bis zum Stadtrand. Mit etwas Glück entdeckte sie die eine oder andere Weide. Mit noch mehr Glück sogar Pferde.

Eine Wohnung im Zwölften – das wäre der Hammer. Die Leute in Bülows Stall würden Augen machen, wenn sie denen ein Foto mit grandiosem Rundumblick über Hamburg schickte. Dafür müsste sie sich allerdings beeilen, denn aus ihrer alten Heimat zog eine Familie nach der anderen weg. Bald würde Mallwitz ein Geisterdorf sein.

Lillys Augen wanderten über die Platten-Fassade des Hochhauses. Zum fünften oder sechsten Mal ging das Telefonsignal hinaus.

Sie wollte hier unbedingt schnell einen Reitstall finden, denn ohne Pferde war ihr Leben ziemlich trist, fand Lilly. Zu Hause hing vieles an ihr. Lilly musste ordentlich mit anpacken. Für ihre alleinerziehende Mutter war es unmöglich, sich selber um alles zu kümmern. Obwohl Lilly insgeheim stolz auf ihre starke, taffe Mutter war, gingen ihr die zahlreichen Anweisungen auch oft auf den Geist. Seit sie elf war, hing im Flur eine Liste mit sogenannten »Lilly-Pflichten«.

Pausenbrote streichen

Turnbeutel kontrollieren

Essen aufwärmen

Hausaufgaben nachsehen

Fernsehkonsum beaufsichtigen

T-Shirts bügeln

Waschbecken putzen

Staub saugen

Betten beziehen

Müll raustragen

Die Zeit in Bülows Reitstall war Lilly jedes Mal wie eine ehrlich verdiente Belohnung vorgekommen.

Sie musste in Hamburg unbedingt eine vergleichbare Anlage wie in Mallwitz finden. Einen Stall, wo sie kostenlos reiten durfte. Als Gegenleistung für Stallarbeit, so wie sie es bisher gemacht hatte. Reitbeteiligung oder Reitkarten waren im Haushaltsgeld nicht drin. Da brauchte sie sich gar keine Illusionen zu machen.

Ob sie wohl bald ein neues Lieblingspferd finden würde? Und wo? Wie würde es aussehen? Ein Brauner? Ein Schimmel? Oder ein Gescheckter so wie die Lewitzer?

Endlich ein Knacken im Handy!

»Lilly, du bist es!«

»Meine schlaue Mama! Ja, ich stehe vor unserem Haus. Ohne Schlüssel.«

Sie hörte ihre Mutter aufatmen.

»Gut, dass du da bist. Hab mir schon Sorgen gemacht.«

Der Öffner surrte.

Lilly beugte sich über den Lenker und spähte durch die Glastür nach drinnen. Die Handyjungs waren verschwunden. Mit einer Hand hob sie das Vorderrad über die Eingangsstufe und studierte im Vorbeigehen das Klingelbrett. Fast ausnahmslos türkische, arabische, russische, afrikanische Namen. Dazwischen stand tatsächlich »Beier«. Aber zweiter Stock – und nicht wie erhofft zwölfter.

»Wohnen wir etwa im zweiten Stock?«, fragte Lilly ins Telefon.

»Genau, den kurzen Gang durch, dann rechts.«

»Zweiter Stock, wie blöd«, knurrte Lilly enttäuscht. Mit dem grandiosen Rundblick wurde es nichts.

Zwei Stunden später saß die ganze Familie beim ersten Abendessen im Wohnzimmer. Zwar noch umringt von Kartons, aber die Möbel standen an ihrem Platz. Die alten Nachbarn hatten ordentlich zugepackt, geschraubt, aufgebaut und waren nun auf dem Rückweg nach Mallwitz.

Tim und Felix verschwanden sofort nach dem Essen in ihr Zimmer. Lilly hörte sie ständig kichern und Spielsachen aus Umzugskartons auf den Boden werfen.

»Komm, trink noch einen heißen Kakao.« Anne Beier füllte den Keramikbecher erneut und strich Lilly über den Kopf. »Sahst ja total verfroren aus, als du hier ankamst. Bist sowieso nur eine Handvoll.« Besorgt musterte sie ihre Tochter.

Lilly verzog das Gesicht. »Von wem ich das wohl habe?«

Ihre Mutter hatte dieselbe schmale Figur wie sie, ebensolche lebhaften blauen Augen und glatte blonde Haare, die sie genau wie Lilly zu einem Pferdeschwanz band.

Lilly umschloss den Kakaobecher mit beiden Händen und genoss den warmen Dampf im Gesicht. Allmählich taute sie auf. Es tat gut, vertraute Dinge aus ihrem kleinen Häuschen in Mallwitz um sich zu haben. Das rote Sofa, auf dem sie sich abends ausstreckte und Bücher las, wenn die Zwillinge im Bett lagen. Den bunt gewebten Teppich, das schwarze DVD-Regal, die lackierten Zebras, alles, was gestern Abend im Transporter verschwunden war.

»Schön groß die Wohnung«, sagte Lilly. »Denkt man von außen gar nicht. Aber warum hast du bloß den doofen zweiten Stock genommen, Mama? Ich dachte, wir zögen nach oben. Das wäre der Knaller. Da hat man doch einen ganz anderen Ausblick. Vielleicht sogar auf Pferdeweiden . . .«

Lillys Mutter stand auf und machte sich an einem Stapel Kartons zu schafften.

»Ganz oben wäre bestimmt schön gewesen. Aber von hier aus habe ich Tim und Felix beim Spielen besser im Auge. Räumst du deine Sachen allein ein, Lilly?«

»Hm.«

Lilly überquerte den Flur zu ihrem halb eingerichteten Zimmer. Ihr kleiner Schreibtisch stand unterm Fenster, das zur Straße hinausging. Unter ihr lag der Beifußweg in künstliches weißes Licht getaucht, das ungefiltert ins Zimmer drang. Die Rollos fehlten noch.

Lilly drückte ihre Nase an die kalte Scheibe und schaute nach draußen. Unter ihr der Hauseingang, dahinter die Straße, kahle Bäume, ein Stück Rasen. Das nächste Hochhaus stoppte die Sicht.

»Alles in Ordnung?«

Mit einem Arm voller Kinderhosen steckte ihre Mutter den Kopf durch die Tür.

Frustriert drehte Lilly sich um.

»Zweiter Stock ist echt totaler Mist. Man guckt nur gegen Hochhauswände.«

»Die wirst du ja selten sehen, Lilly. Wie ich dich kenne, verbringst du wieder jede freie Minute auf einem Pferdehof.«

»Wenn ich doch erst einen gefunden hätte, Mama.«

»Das kommt schon. Hast das ganze Wochenende Zeit, Reitställe anzusehen. Schule geht ja erst Montag los.«

Die Zwillinge quetschten sich neben ihrer Mutter vorbei ins Zimmer. »Dürfen wir Aufzug fahren?«, fragte Felix gespannt. Seine Wangen glühten vor Vorfreude.

»Meinetwegen, aber nicht ohne Lilly«, gab ihre Mutter schmunzelnd zurück. »Und nur ausnahmsweise, weil heute der erste Tag ist. Wenn der Lift ewig blockiert ist, steigen uns sonst die Nachbarn aufs Dach.«

Tim und Felix stießen ein triumphierendes Indianergeheul aus und schmusten sich mit gekonntem Wimpernaufschlag an Lilly heran.

»Machst du mit? Komm Lilly, sei kein Frosch.«

Lilly musste lachen. Ihre Brüder wussten genau, wie sie sie rumkriegten.

»Okay, aber erst packe ich noch eine Kiste aus. Raus mit euch, dann geht es schneller.«

Als Tim und Felix auf dem Flur verschwunden waren, zog Lilly ihren wichtigsten Umzugskarton näher heran. Den wollte sie ohne Zuschauer ausräumen.

»Schatzkiste Lilly«, hatte sie mit Edding auf den Deckel geschrieben. Was ihr heilig war, lag in diesem Karton. Fotos von ihren vierbeinigen Lieblingen, Reithose, Kappe, Gummistiefel, Pferdebücher.

Lilly zog die blaue Reithose hervor und drückte sie an sich. Obwohl die Hose frisch gewaschen war, verströmte sie noch den schwachen Duft von Fell und Wärme.

Wie gern sie jetzt eine Minute in die Zukunft schauen würde!

Auf welchem Pferd ich da wohl sitze?

Lilly bückte sich nach einer Klarsichthülle und schüttelte einige kleine, leicht angeknickte Fotos auf die Matratze. Pferdeköpfe. Palando, Dorio, die Schecken – waren ihre Freunde nicht ideal für die weiß gestrichene Wand über ihrem Bett?

Eigentlich bin ich zu alt dafür.

Andererseits war ihr das egal. Sie würde sowieso so schnell keinen Besuch bekommen, der sich über die Fotos lustig machen konnte. Außerdem hängte sie ja keine kitschigen Kleinkindposter auf, sondern ihre ganz persönlichen Pferdefreunde.

Entschlossen erhob sich Lilly und pinnte ihre alten Lieblinge an die neue Wand.

2.

Obwohl noch eine Menge voller Umzugskartons im Flur standen, brannte es Lilly am nächsten Morgen auf den Nägeln, nach einem Reitstall zu suchen. Während sie eilig und konzentriert auspackte, hatte nur ein Gedanke Platz in ihrem Kopf: Wenn ich doch schon ein Pflegepferd hätte!

Als sich mittags lediglich noch vier volle Kisten an den Wänden stapelten, durfte Lilly endlich los. Sie wollte einfach ins Blaue fahren, dorthin, wo sie nach dem Stadtplan die ländliche Umgebung vermutete. Das Internet war noch nicht eingerichtet, ein Telefonbuch besaßen sie bisher nicht und die »Gelben Seiten« in der Telefonzelle an der U-Bahn waren aus der Halterung gerissen.

Ihre Mutter schob eine Isoflasche mit heißem Tee und zwei Käsebrötchen in den Rucksack, als Lilly aufbrach.

»Ich drücke ganz fest die Daumen, dass du einen schönen Stall entdeckst. Aber bei Dämmerung kommst du nach Hause, hörst du?«

»Mama, ich bin vierzehn! Dann müsste ich ja schon um halb fünf zurück sein, dann ist die Sonne weg.«

»Weiß ich. Aber ich will nicht, dass du im Dunkeln in dieser fremden Gegend herumfährst.«

Lilly schulterte den Rucksack und gab ihrer Mutter einen flüchtigen Kuss.

»Wovor hast du Angst?«

»Na ja – unsere Hochhaus-Siedlung ist groß und unübersichtlich. Zwanzigtausend Menschen leben hier auf engstem Raum. Und da . . .«

Ihre Mutter zögerte und fuhr dann fort: »Bei dieser Ansammlung von Menschen sind sicher auch einige dazwischen, die Streit suchen. Und Jungs, die penetrant hinter Mädchen her sind.«

Lilly verdrehte die Augen. »Hab gestern schon ein paar komische Typen gesehen«, gab sie dann aber zu.

Lillys Mutter seufzte.

»Siehst du. Ich hätte mir gern eine andere Gegend in Hamburg ausgesucht. Aber dafür reicht das Geld nicht. Im Moment zumindest. Diese Wohnung ist für uns bezahlbar. Und die UBahn liegt vor der Tür. Das ist doch was.«

»Kannst cool bleiben, Mama, ich bin vorsichtig.«

Lilly fuhr ins Erdgeschoss, schob ihr Rad aus dem Fahrradraum neben dem Lift und entschloss sich, vor der Stalltour eine schnelle Runde durch das neue Viertel zu drehen, um bei Tageslicht zu sehen, wo sie gelandet war. Willkommen in Hamburg. Mallwitz war gestern. Großstadt, das hatte etwas Aufregendes, Prickelndes.

Aber als Lilly dann losfuhr, traf sie fast der Schlag.

Gestern, in der Abenddämmerung, waren ihr nur einige Hochhäuser in der Nähe aufgefallen. Erst jetzt sah sie die Ausmaße der Großsiedlung. Der Beifußweg war eingekesselt von gigantischen Wohnblocks. Beton, wohin sie blickte.

Tausend gleiche Fenster nebeneinander, übereinander, untereinander. Satellitenschüsseln ausgerichtet auf Hunderten Balkonen. Im Schatten der Wohnsilos duckten sich kleine Geschäfte, die einzigen Farbtupfer. Sonnenstudios, Wettannahmen, Videotheken, Türken- und Russenläden.

Ansonsten sah Lilly nur Grau. Grau in allen Schattierungen. Zementgrau, Schiefergrau, Bleigrau, Mausgrau, Steingrau, Aschgrau.

Wo war das schöne bunte Hamburg, das sie von Bildern kannte? Die grüne Stadt mit Parks und Kanälen? Mit Elbe und Alster, mit Kreuzfahrtschiffen, Einkaufspassagen, roten Backsteinhäusern und weißen Jugendstil-Villen? Und wo versteckten sich die Pferde, die Rennbahnen, die Dressurplätze?

Am Beifußweg parkten einige Autos, in denen vorn und hinten halbwüchsige Jungs auf den Sitzen hingen, die ihre Wagen offenbar als Treffpunkt nutzten.

In weitem Bogen fuhr Lilly an den Autos vorbei. Anlagen wummerten. Trotz der Kälte hatten die Jungs ihre Scheiben heruntergelassen und die Ellenbogen aus dem Fenster gestreckt.

»Hey, stopp mal«, rief einer hinter Lilly her. Gleich darauf startete ein wildes Hupkonzert und Gejohle.

Lilly machte einen Schlenker und verschwand in einer Schleuse aus Müllcontainern, die sich zwischen den Hochhäusern erstreckte. Dass sie hier nicht im Dornröschenschloss gelandet war, brauchte ihr niemand zu sagen.

Warum macht Mamas dämlicher Betrieb bloß dicht und sie verschleppt mich in diese Betonwüste?

Lilly schlug wütend auf ihren Lenker ein. Es war so ungerecht!

Nirgendwo schienen Pferde weiter weg zu sein als am Beifußweg.

Sie lenkte ihr Rad aus der Großsiedlung hinaus und fuhr nach Südosten, wo die Umgebung allmählich ländlicher wurde.

Die Kälte, die der Fahrtwind Lilly ins Gesicht drückte, betäubte ihren Frust über das Betongetto.

Nicht mal meckern kann ich, dachte sie und hauchte sich die Finger warm, Mama ist so happy, dass sie in Hamburg einen neuen Job gefunden hat.

Als das einzige Werk in ihrer alten Heimat geschlossen wurde, hatte ihre Mutter sofort eine neue Stelle gesucht. Viele von Lillys Schulfreundinnen waren schon letztes Jahr weggezogen, versprengt in alle Richtungen, nach Berlin, Düsseldorf, Köln.

Der gepflasterte Radweg neben der stark befahrenen Hauptstraße lief aus. Lilly bog in einen gefrorenen Sandweg ein, der durch abgeerntete Felder führte.

Welch ein Unterschied zu ihrer Betonsiedlung! Lillys Augen wanderten über die weite Landschaft. Allmählich wich ihre gedrückte Stimmung. Sie fühlte sich zurückversetzt in die sanft gewellte Gegend rund um Mallwitz. Am Weg stapelten sich aufgeschichtete Baumstämme. In der Luft lag der Duft von frisch gesägtem Holz. In der fahlen Wintersonne funkelten weiß gefrorene Büsche.

Am Horizont zeichneten sich große Dächer ab. Das konnten nur die Dächer von Reithallen sein.

Lilly trat ordentlich in die Pedale. Der kalte Fahrtwind machte ihr nichts mehr aus, so sehr freute sie sich auf das, was sie erwartete.

Doch die angesteuerten Häuser entpuppten sich als riesige Möbeldiscounter. Also ging die Suche weiter.

Stundenlang kurvte Lilly über Feldwege und fuhr entlang von Autostraßen von Ort zu Ort. Die ganze Zeit über sah sie kein Pferd, geschweige denn einen Reitstall.

Enttäuscht schlug Lilly nachmittags den Heimweg ein. Der Raureif war unter der Januarsonne geschmolzen, die sich zunehmend verschleierte und einen bleichen, kühlen Wintertag zurückließ.

So schnell gab Lilly nicht auf. Sie würde die Suche jetzt anders anpacken. Und sie wusste auch schon, wie: Vom Dach ihres Hochhauses aus wollte sie sich einen Überblick über die grünen Gebiete rund um Hamburg verschaffen. Mit Glück erkannte man anhand von Wiesen und Paddocks sogar, wo Reiterhöfe liegen könnten.

Am Beifußweg angelangt, verstaute Lilly das Rad im Abstellraum und fuhr ohne in ihrer Wohnung haltzumachen mit dem Aufzug ins oberste Stockwerk. Die Idee mit dem Dach war ihr gestern Abend gekommen, als sie mit den Zwillingen ein paar Mal vom Keller bis zum zwölften Stock gefahren war. Aus der Kabine simste sie eine Beruhigungs-SMS an ihre Mutter.

Bin gleich zu Hause. Lilly

Sie wollte die letzten hellen Minuten ausnutzen, zumal die Nachmittagssonne sich noch einmal durch den fahlen Dunst gekämpft hatte.

Als Lilly oben ausstieg, stand sie jedoch vor einem massiven Stahlgitter mit einem Warnschild.

»Das Betreten der Dachanlage ist strengstens untersagt. Eltern haften für ihre Kinder.«

Das Verbotsschild hätten sie sich sparen können, dachte Lilly, durch das Gitter kommt sowieso niemand.

Sie sah sich um. Es musste doch eine Möglichkeit geben . . . Auf dem Treppenabsatz an der gegenüberliegenden Wand entdeckte sie eine weitere Tür. Ob es dahinter auch nach oben ging?

Langsam drückte Lilly die Klinke herunter. Die schwere Metalltür ließ sich öffnen. Nach rechts und links sichernd betrat Lilly einen handtuchschmalen Flur, an dessen Ende in Brusthöhe zwei Fenster eingelassen waren.

Vielleicht kann ich durchs Fenster . . .

Sie tastete die Rahmen ab. Merkwürdig, nirgends ein Fenstergriff, nur kleine vierkantige Vertiefungen.

»Neu hier?«

Ein heftiger Schreck fuhr Lilly in die Glieder. Sie schoss herum. Hinter ihr stand ein groß gewachsener Junge mit breiten Schultern. Helles Haar, an den Seiten hochgeschoren. Bomberjacke aus schwarzem Leder.

Wie verrückt begann ihr Herz zu pochen. Sechzehn oder siebzehn mochte er sein. Seine weit auseinanderstehenden wasserblauen Augen musterten Lilly abschätzend.

Was wollte der Typ von ihr? Lilly bekam es mit der Angst zu tun.

Habe ich sie noch alle, allein im Hochhaus herumzugeistern? Bloß, um nach Pferdeweiden Ausschau zu halten? Mama hat mich extra gewarnt.

»Neu hier?«, wiederholte der Junge.

Unmerklich spähte Lilly zur Fluchttür am Ende des Gangs. Würde sie es im Sprint bis dahin schaffen, wenn er ihr dumm käme?

»Gestern eingezogen.«

»Vitali«, sagte er. »Und du?«

»Lilly. Vitali klingt gut. Echt.«