Jessica Love

Du und ich
und
die Liebe in Echtzeit

Aus dem amerikanischen Englisch
von Anne Markus

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Jessica Love
arbeitet als Englischlehrerin und absolviert gerade ihren Master im kreativen Schreiben an der Spalding University. Sie gibt ihr Geld am liebsten für Konzertkarten aus und ist beinahe ununterbrochen online. Sie lebt mit ihrer Familie und zwei winzigen Hunden in Kalifornien.

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1. Auflage 2017
Copyright © 2016 by Jessica Love
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
In Real Life bei St. Martin’s Press/Thomas Dunne, New York.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem amerikanischen Englisch von Anne Markus
Umschlaggestaltung: Milena Schlosser © Arena Verlag,
unter Verwendung von Bildern von 123rf.com: © welcomia,
© Watchara Khamphonsaeng, © Jakkapan Jabjainai, © andreka,
© subbotina, © Andrii IURLOV; sowie von getty images: © wundervisuals
ISBN 978-3-401-80659-4

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1. Kapitel

Freitag

Mein bester Freund und ich haben uns noch nie getroffen.

Wir telefonieren oder chatten jeden Tag und er weiß mehr über mich als irgendjemand sonst. Alles, was mich wirklich ausmacht. Aber im echten Leben haben wir uns noch nie gesehen.

Manchmal, wenn ich mit Nick spreche, frage ich mich, wie diese seltsame, komplizierte Freundschaft eigentlich entstehen konnte. Auf den ersten Blick wirkt sie vielleicht gar nicht so anders. Wie gerade jetzt. Es ist Freitagnachmittag, der Startschuss für den Spring Break im Abschlussjahr. Ich liege neben dem Pool auf dem Rücken, lasse meine Füße im kühlen Wasser baumeln und telefoniere mit ihm. Das machen wir fast jeden Freitag zwischen halb vier und kurz vor halb fünf, bevor er zur Bandprobe muss und ich entweder in Sachen Schule oder Familie unterwegs bin. Klingt eigentlich ganz normal.

Das Problem ist nur, dass Nick in einem anderen Bundesstaat lebt, 274 Meilen von mir entfernt. Ja, ich hab’s nachgeguckt.

»Ghost«, sagt er, denn er nennt mich nie Hannah, »du weißt doch, dass ich für meine beste Freundin alles tue, und das hier ist keine Ausnahme. Ich lasse dieses Mädchen aus dem Weg räumen. Kein Problem. Gib mir vierundzwanzig Stunden.«

Ich lache und ziehe meine Füße durchs Wasser. »Kein Grund, zum Mörder zu werden. Es ist nur eine blöde Konferenz. Nächste Woche bin ich drüber weg.«

Obwohl es schon ziemlich verlockend ist, Aditi Singhs vorzeitiges Ableben zu planen. Denn der einzige Grund, warum sie sich überhaupt für dieses College-Vorbereitungswochenende beworben hat – auch wenn eigentlich klar ist, dass die Reise der Jahrgangssprecherin (also mir) zusteht – ist der, dass ich an der University of California in Los Angeles angenommen wurde und sie nicht. Zeigen wir ihr also den Stinkefinger. Blöd nur, dass sie ihn nicht sehen kann, denn sie verbringt ihre Ferien in Washington, D. C., und ich hocke wie der letzte Versager zu Hause.

»Sag Bescheid, wenn du es dir anders überlegst«, sagt Nick. »Das Codewort ist ›Schnabeltier‹. Du brauchst es nur zu sagen und – zack – lasse ich sie verschwinden. So viel bedeutet mir unsere Freundschaft.«

Ich strecke mich, ziehe meine Füße aus dem Pool und setze mich in den Schneidersitz. »Und wie willst du das anstellen?«

»Hey, ich wohne in Vegas. Ich hab Verbindungen zur Mafia. Haben wir hier alle.«

»Du gehst auf die Highschool und wohnst in einer spießigen Siedlung in Henderson. Nicht gerade Al Pacino.«

»Weißt du doch nicht. Alles, was ich dir in den letzten vier Jahren erzählt habe, könnte Fassade sein. Ich brauche ja eine Tarnung. Und wer verdächtigt schon einen unscheinbaren weißen Jungen?«

»Du hast recht. Es gibt viele Dinge, die ich nicht über dich weiß. Ich meine, du könntest jede Menge Geheimnisse vor mir haben.« Das stimmt natürlich nicht. Ich sage das bloß, um mitzuspielen, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass ich alles weiß, was es über Nick Cooper zu wissen gibt.

Ich weiß, dass meine Schwester und sein Bruder sich vor vier Jahren auf einem Konzert kennengelernt haben und fanden, wir beide sollten mal chatten, und dass er anfangs dachte, ich wäre einer der Freunde seines Bruders, der ihn reinlegen wollte, bis ich ihm ein Foto von mir mailte. Ich weiß, dass er sich irgendwann in der Elften seinen Kopf kahl rasiert hat, als sein Lieblingsenglischlehrer zur Chemotherapie musste. Ich kenne das raue Kratzen in seiner Stimme, wenn ich ihn mitten in der Nacht mit einem meiner spontanen Mir-ist-langweilig-Anrufe aus dem Schlaf reiße. Ich weiß, dass im Ärmel seines Rage-Against-The-Machine-Glücks-T-Shirts, das er von seinem Bruder Alex geerbt hat, ein Loch ist, weil ich es auf zahllosen Fotos gesehen habe. Ich kenne seinen zweiten Vornamen (Anthony), Datum und Uhrzeit seiner Geburt (24. September um 3.58 Uhr morgens) und seine Lieblingsfarbe (Grau). Und er weiß mehr als jeder andere über mich, sogar die oberpeinlichsten Dinge. Wir haben gechattet, gesimst, uns Millionen Fotos gemailt, uns Päckchen geschickt, geskypt und telefoniert.

Wir sind bloß noch nie zum selben Zeitpunkt am gleichen Ort gewesen.

Ich finde nicht, dass es seltsam ist, jemandem so nahe zu sein, den man noch nie getroffen hat. Klar, er wohnt in Nevada und ich in Südkalifornien, aber ich spreche öfter mit ihm als mit den Leuten, die ich schon seit dem Kindergarten kenne. Ich wünschte, wir könnten zusammen ins Kino oder irgendetwas Normales machen, aber wir sehen uns gleichzeitig dieselben Filme an und verreißen sie in Videochats, was mehr oder weniger das Gleiche ist.

Am anderen Ende der Leitung bricht sein Lachen abrupt ab und seine Stimme ändert sich. »Geheimnisse? Was für Geheimnisse sollte ich haben?«

»Wer weiß!« Ich bemühe mich, schockiert zu klingen und dabei nicht loszuprusten, schaffe es aber nicht ganz, das Lachen zu unterdrücken. »Immerhin weiß ich jetzt, dass du insgeheim ein Mafioso bist. Hast du einen Gangsternamen, mit dem ich dich ansprechen soll?«

Seine Stimme hellt sich wieder auf, als ihm klar wird, dass ich Spaß mache. »Na klar. Nick the Knife. Oder … nein. Warte. Nick the Click.«

»Was soll das denn heißen?«

»Keine Ahnung. Es reimt sich. Reimen sich solche Namen nicht immer?«

»Mit Mafianamen kenne ich mich nicht aus, Nick the Click. Gereimt klingen sie aber nicht so gefährlich.«

Ich höre Schritte, ein Plumpsen und Quietschen auf der anderen Seite der Leitung und stelle mir vor, wie er sich rücklings auf sein Bett fallen lässt. »Mich ärgert, dass du dich über die Sache mit der Reise so ärgerst.«

»Ich ärgere mich ja gar nicht, es ist nur … Ich hab mich an die Regeln gehalten, Nick, ich hab genau das getan, was verlangt war. Vier Jahre als Jahrgangssprecherin bedeutet, dass ich fahren darf und nicht Aditi Singh. Jemand, der ein einziges Mal stellvertretende Jahrgangssprecherin gewesen ist, darf nicht fahren! Das hier ist mein Jahr! Sie hat sich nicht an die Regeln gehalten, aber gewonnen. Wie kann es sein, dass man gegen die Regeln verstößt und trotzdem alles bekommt, was man will? Das ist nicht fair.«

»Na ja, du kennst bestimmt das Sprichwort –«

»Das Leben ist nicht fair?«

»Klar, das auch. Aber ich dachte an was anderes: Regeln sind dazu da, um gebrochen zu werden.«

Stimmt, das ist ein Sprichwort. Das allerdings nicht mit meiner Brave-Koreanerin-DNA konform geht. Gesetze sind dazu da, um befolgt zu werden. Das jedenfalls wurde mir von Kindesbeinen an von meinen Eltern eingetrichtert, die nicht wirklich dem Klischee der koreanischen Drill-Eltern entsprechen, aber trotzdem ganz schön streng sind. Und ich habe mich an jede Regel gehalten, genau das gemacht, was man mir gesagt hat, und es hat immer geklappt.

Bis jetzt, wo ich mich im Spring Break zu Hause wiederfinde und mich frage, wie man eine Aditi-Singh-Voodoopuppe bastelt.

Ich hasse Regeln.

Eine Tür irgendwo in Vegas knallt und das Geräusch dringt durch mein Telefon. »Mist«, sagt Nick. »Ich muss Schluss machen, Ghost. Die Jungs sind hier.«

»Generalprobe für das Konzert? Seid ihr aufgeregt?« Nicks Band Automatic Friday hat morgen einen großen Gig als Vorband einer angesagten Vegas-Band, weil die Jungs im Februar einen Band-Wettbewerb an der University of Nevada gewonnen haben. Ich wusste schon immer, dass sie großartig sind, mal abgesehen von ihrem einfallslosen Namen – die ganze elfte Klasse hab ich versucht, Nick dazu zu bringen, ihn zu ändern –, und ich finde super, dass sich endlich auch andere von ihnen überzeugen können.

»Hm, mal sehen. Statt der üblichen Geburtstags-Gartenpartys ist Automatic Friday Vorband für Moxie Patrol im verdammten House of Blues auf dem Las Vegas Strip! Wahrscheinlich ist das unsere einzige Chance, jemals wie eine echte Band in einem echten Club aufzutreten. Sagen wir mal, der Begriff ›aufgeregt‹ trifft nicht ganz die helle Panik, die hier herrscht.«

»Übrigens, ich komme zu eurem Konzert«, sage ich. »Ich werde in der ersten Reihe stehen. Mit einem Ichliebe-Nick-Schild. Wirfst du dein Plektrum nach mir?«

»Nee«, sagt er, »ich werfe meine Gitarre nach dir.«

»Hallo? Gehirnerschütterung!« Wir prusten beide los. »Aber ich wünschte, ich könnte wirklich dabei sein.«

Er schweigt, denn uns beiden ist klar, dass die Wahrscheinlichkeit, Automatic Friday jemals live zu hören, für mich genauso hoch ist wie die, mir ein Körperteil piercen zu lassen, in das keine Löcher gehören.

»Das ärgert mich jetzt tatsächlich«, sage ich. »Okay, ich lege auf. Grüß Oscar von mir.«

»Mach ich. Hast du unser Päckchen bekommen?«

»Oh, ja! Das T-Shirt ist super. Ich hab’s heute in der Schule angehabt.« Genau, nachdem ich die letzte Nacht darin geschlafen habe. Das schwarze T-Shirt mit ihrem Bandnamen in Knallrosa auf dem Schlagzeug, wobei das A und das F aus Drumsticks bestehen, ist das beste Geschenk, das er mir je geschickt hat. Ich schätze, die Schokokugeln in Form meines Katers Bruce Lee, die ich letzte Woche geschickt habe, sind gut angekommen.

»Das T-Shirt-Design ist von Oscar. Er wollte, dass du auch eins bekommst.«

»Sag ihm Danke von mir.« Ich schaue lächelnd an meinem T-Shirt herunter und streiche es glatt. »Jetzt muss ich mir was besonders Kreatives einfallen lassen.«

»Ich warte am Briefkasten. Bis später, Ghost.«

»Schreib mir, wenn ihr mit der Probe fertig seid.«

Wenn wir uns verabschieden, habe ich nie das Gefühl, unser Gespräch sei zu Ende. Mir fallen immer hundert andere Sachen ein, die ich noch sagen wollte, sobald wir aufgelegt haben, aber das hebe ich mir alles für später auf, denn bei uns gibt’s immer ein Später.

Ich schleppe mich auf den Rasen zurück, strecke mich aus und lasse mein Gesicht von der Nachmittagssonne wärmen, während ich wie jeden Freitag zwischen 16.26 Uhr und 16.45 Uhr in einem Tagtraum versinke. Nach unseren Gesprächen fange ich an zu fantasieren und stelle mir vor, wie es wäre, mit Nick im wirklichen Leben etwas zu unternehmen, ihn in echt zu erleben, anstatt nur virtuell befreundet zu sein. Heute male ich mir sogar aus, wie ich auf einem ihrer Konzerte bin: Er an der Gitarre, ich jubele und tanze wie eine Verrückte im Publikum und …

»Was träumst du gerade, Freaky? Du grinst von einem Ohr zum anderen. Sieht gruselig aus.«

Die Schiebetür knallt zu, ein Zeichen, dass in ein paar Sekunden Lo, meine beste Freundin aus dem wirklichen Leben, neben mir stehen wird. Sie wohnt während des Spring Breaks bei uns, genau wie meine Schwester Grace, die im vierten Jahr an der UCLA studiert, während meine Eltern irgendwo in Mexiko ihren fünfundzwanzigsten Hochzeitstag mit einer Kreuzfahrt feiern. Mom und Dad wollten, dass Grace ein Auge auf Lo und mich hat, aber wie ich meine Schwester kenne, wird es genau umgekehrt sein.

»Ach, du weißt schon«, sage ich beim Aufstehen. Während ich mir das Gras von der Jeans klopfe, bemühe ich mich, Nicks Bild aus meinem Kopf zu bekommen. »Hab nur darüber nachgedacht, einen Mafiaboss anzuheuern, um Aditi Singh aus dem Weg zu räumen. Nichts weiter.«

Lo hat sich umgezogen und ihre Schulklamotten – Jeans und Kapuzenjacke – gegen ein kurzes geblümtes Kleid getauscht. Darunter trägt sie ihren Bikini und ihre langen, lockigen schwarzen Haare, die sie normalerweise im Pferdschwanz trägt, fallen ihr über die Schultern. Sie mustert mich von oben bis unten und schüttelt den Kopf. »Du hast eben mit Nick telefoniert, stimmt’s?«

Ich zucke mit den Schultern. Als beste Freundin im echten Leben weiß Lo alles über Nick. Na ja, nicht alles – wenn es um meine Freundschaft mit Nick geht, bin ich selbstsüchtig und behalte eine ganze Menge für mich. Aber auch so ist Lo schon seit Jahren davon überzeugt, dass ich heimlich in ihn verliebt bin. In letzter Zeit zickt sie rum, wenn ich von ihm spreche. Keine Ahnung, vielleicht ist sie eifersüchtig. Lo steht nicht gern an zweiter Stelle.

Sie lässt ihre Reisetasche auf den Rasen fallen und setzt sich drauf.

»Hannah, du kennst meine Meinung. Es wird höchste Zeit, dass du da mal etwas unternimmst. Genau darüber haben Grace und ich eben in der Küche gesprochen.« Sie streckt sich auf dem Rasen aus und ruft nach meiner Schwester, die sich gerade über den Kühlschrank hergemacht hat, als ich nach draußen gegangen bin, um mit Nick zu telefonieren. »Grace! Komm raus! Kriegsrat!«

Ich stöhne. »Es ist wirklich nicht nötig, dass du Grace da mit reinziehst.«

Aber es ist zu spät, ein paar Sekunden später ist Grace bei uns. Sie trägt ihre übliche Uniform: schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt mit dem Logo irgendeiner unbekannten Punk-Band mit merkwürdigem Namen, fetten Eyeliner um die Augen. Sie wirft sich auf eine der Liegen am Poolrand, ein Puten-Sandwich klemmt in ihrem Mund.

»Worum geht’s?«, fragt sie und beißt von ihrem Brot ab.

»Wir müssen das mit Hannah und Nick noch einmal durchsprechen«, sagt Lo. »Hannah, wo liegt das Problem? Wieso habt ihr beiden euch immer noch nicht getroffen? Du chattest mit ihm seit, na, was … vier Jahren? Das ist eine verdammt lange Zeit. Bist du sicher, dass er echt ist?«

Ich schüttele den Kopf, als könnte ich damit die lästigen Fragen verscheuchen. »Er wohnt in Las Vegas, Lo. Er geht nicht nur einfach auf eine andere Schule. Und natürlich ist er echt. Du kannst Grace fragen, durch sie habe ich ihn kennengelernt.«

Grace nimmt die Arme hoch und wedelt mit ihrem Sandwich. »Oh nein. Mich lässt du aus dem Spiel. Ich hab seinen Bruder ein einziges Mal auf einem Konzert getroffen und eine Minute mit ihm gesprochen, wenn’s hochkommt. Das war noch auf der Highschool. Ich weiß überhaupt nichts über diesen Typen.«

»Aber du weißt, dass Alex echt ist. Und Nick und Alex sehen sich total ähnlich, also ist dir auch klar, dass er kein Internet-Troll oder so was ist.« Ich habe Grace Fotos von Nick gezeigt. Wir sind einer Meinung, dass er mit seinen verwuschelten braunen Haaren, der schwarzen dick gerahmten Brille und seinem breiten, offenen Lächeln wie ein Doppelgänger seines Bruders aussieht, der Grace vor so vielen Jahren auf einem Konzert aufgefallen ist. Auf den ersten Blick ist der komplett tätowierte Arm von Alex das einzige Merkmal, das die Cooper-Brüder unterscheidet.

Grace zuckt mit den Schultern und macht sich wieder über ihr Sandwich her. »Wie auch immer.«

Ich streiche meine Haare zurück und drehe sie in einem Knoten zusammen. »Ich meine, Las Vegas ist vier Stunden weg und dazwischen ist eine Staatsgrenze. Moms und Dads Meinung dazu kennst du ja.«

Lo steht auf und geht am Rand des Pools auf und ab. »Überleg mal, Hannah. Du bist so gut wie volljährig. Du hast ein Auto. Ich geh mal davon aus, er kann fahren. Wenn ihr wolltet, könntet ihr euch treffen. So wahnsinnig weit ist das doch gar nicht.«

»Wir haben’s einmal versucht«, werfe ich ein. »Es ist nichts draus geworden und –«

»Und was?« Grace hat ihr Sandwich gegessen und klaubt sich die Krümel von ihrer schwarzen Jeans, als suche sie einen Schatz. »Klar, dieses eine Mal ging total daneben und hauptsächlich war es meine Schuld. Ich fühle mich übrigens immer noch schlecht deswegen. Aber warum habt ihr es nie wieder probiert?«

Lo beendet ihr Herumgerenne und stellt sich neben meine Schwester, Schulter an Schulter, eine Front. »Hannah, das ist Jahre her. Seit diesem Tag hat sich einiges geändert.«

Dieser Tag gehört zu meinen bittersten Enttäuschungen. Zuerst war ich fast ein bisschen erleichtert, als unser Plan ins Wasser fiel. Aber dann habe ich mir doch gewünscht, ich könnte die Zeit zurückdrehen und noch einmal von vorne anfangen.

Lo weiß, wie meine Eltern sind. Mom hat mir verboten, hinzufahren und mich mit Nick zu treffen. Und wenn Mom irgendetwas verbietet, kann ich nicht einfach losziehen und es trotzdem machen. Ich meine, ich bin ja nicht Grace. Nicht mal ansatzweise.

Grace und Lo starren mich weiter an. So unter Druck, wenn jemand versucht, mich aus meiner sicheren Ecke zu drängen, reagiere ich nie gut. Das Bedürfnis, ihren Fragen zu entkommen, ist heftig. Anstatt also zu antworten, benehme ich mich total reif und verdrehe die Augen. Dann mache ich mich möglichst ungezwungen auf in Richtung Haus, dem sicheren Zufluchtsort vor ihrem Psychoterror. »Ich muss aufs Klo«, rufe ich ihnen über die Schulter zu.

Ich muss natürlich überhaupt nicht und gehe stattdessen nach oben in mein Zimmer. Ich brauch einfach eine Pause, also lasse ich mich auf mein Bett fallen und klicke mich durch meinen iPod, bis ich Ghost in the Machine gefunden habe, eine der Playlists, die Nick für mich zusammengestellt hat. Es ist ein Mix aus Songs von Automatic Friday und anderen Indie-Bands mit ähnlichen langsamen Stücken.

Auf diese Playlist ist hundertprozentig Verlass, lauter Songs über unerwiderte Liebe, wie ich sie schon immer am liebsten höre. Ich starte die Musik und muss lächeln, als die ersten vertrauten Töne und die rauchige Stimme des Sängers den Raum erfüllen.

Ich kann nicht zählen, wie oft ich zu diesen Songs eingeschlafen bin, wie oft ich damit im Auto durch die Gegend gefahren bin, mit aufgedrehten Lautsprechern, bis sie meine Gedanken ganz erfüllten und keinen Raum mehr für etwas anderes ließen. Und es hat Momente gegeben, ganz besonders in letzter Zeit, in denen mich ein Liedtext so berührt hat, dass ich wünschte, Nick hätte ihn geschrieben, nur für mich. Ein absurder Gedanke, denn so ist das nicht zwischen uns, da läuft nichts. Überhaupt nichts. Aber diese Musik hat etwas an sich, das mich in andere Welten versetzt.

Ich hab Nick nach dem Sänger gefragt, Jordy Mac-Donald, und ob die Leidenschaft in seinen Liedern aus Liebeskummer entstanden ist oder ob seine Freundin ihn dazu inspiriert hat. Nick meinte, dass Jordy ein echter Player sei, und mir war klar, dass damit kein Instrument gemeint war. Er erzählte, Jordy hätte jedes Wochenende eine Neue und dass die anderen Bandmitglieder sich nicht einmal mehr die Mühe machten, sich ihre Namen zu merken. Ich wurde wütend, weil Nick wie ein Obermacho klang, aber er schwor mir, er hätte nur Spaß gemacht und zählte aus dem Stegreif die Namen der letzten zwölf Mädchen auf, die Jordy abgeschleppt hatte, mit Vor- und Nachnamen. Er beschrieb mir ihr Aussehen plus die abfälligen Bemerkungen, die Jordy am nächsten Tag über sie gemacht hatte. Ich gab es auf, an Jordys empfindsame Seite zu glauben und irgendeine Bedeutung in den Texten zu suchen. Aber der Wunsch danach ist geblieben.

Weil ich gerade an Nick denke, ziehe ich mein Handy aus der Tasche und schicke ihm eine Nachricht, auch wenn ich bezweifle, dass er mir antwortet, denn er hat Bandprobe.

Ich hoffe, ihr spielt morgen meine Lieblingssongs.

Ich bitte ihn immer darum, mir bei unseren Videochats meine Lieblingssongs wenigstens auf der Gitarre vorzuspielen, aber das ist ihm zu peinlich. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als mir vorzustellen, wie er sie auf Konzerten spielt.

Mein Handy piept. Er hat mir fast sofort geantwortet. Seltsam.

Machen wir doch immer, Ghost.

Ich schaue aus dem Fenster. Lo hat sich bis auf den Bikini ausgezogen und ist in den Pool gesprungen. Sie lässt sich auf meiner Delfin-Luftmatratze treiben und unterhält sich mit Grace, die es sich auf dem Liegestuhl bequem gemacht hat. Los Nicken nach zu urteilen, kaut Grace zum hunderttausendsten Mal die Trennung von ihrem langjährigen Freund Gabe durch, mit dem sie bis vor Kurzem zusammengewohnt hat. Im Moment scheint sie von nichts anderem reden zu können. Wenigstens weint sie nicht mehr. Was schon mal eine positive Entwicklung ist.

Und das, Freunde, ist mein total verrücktes, wildes Leben. Es ist der letzte Spring Break meines Schullebens und ich verbringe ihn mit Lo und Grace am Pool. Wie an all den anderen Wochenenden, seit Grace Schluss gemacht hat, werden wir schwimmen und zusammen rumhängen. Meine Eltern sind im Urlaub, wir stehen kurz vorm College und eigentlich sollte ich irgendetwas Aufregendes machen. Stattdessen drohen die langweiligsten, vorhersehbarsten Frühlingsferien aller Zeiten, mich umzubringen. Aditi Singh hat sich meinen Platz auf der College-Konferenz unter den Nagel gerissen und mein bester Freund ist unter die Rockstars gegangen und spielt mit seiner Band im, Trommelwirbel bitte, verdammten House of Blues in Las Vegas.

Dass ich mich die letzten siebzehn Jahre an die Regeln gehalten habe, hat mich schlichtweg nirgendwohin gebracht. So darf das auf keinen Fall weitergehen.

2. Kapitel

Sommerferien nach der zehnten Klasse

Den Tag, an dem Nick und ich uns beinahe getroffen hätten, werde ich nie vergessen.

Unser Beinahe-Treffen nahm seinen Anfang und sein jähes Ende in den Sommerferien nach der zehnten Klasse. Die Nachricht, die alles in Gang setzte, bekam ich, als ich ausgestreckt auf meinem Bett lag und wie alle Streber versuchte, die Ferienlektüre für meinen Zusatzkurs in Englisch gleich hinter mich zu bringen.

Ruf mich an, wenn du eine Sekunde hast, Ghost. Ich habe eine verrückte Frage.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Grace war von der UCLA auf dem Weg nach Hause, wir hatten uns mit Mom zum Mittagessen verabredet. Aber wie üblich war sie spät dran, denn Grace-Zeit hat mit echter Zeit nichts zu tun. Ich drückte auf die Kurzwahltaste mit Nicks Nummer.

»Wolltest du nicht mit deiner Schwester essen gehen?«

»Nicht einmal ein Hallo?«

»Entschuldige. Hi, Ghost. Ich dachte, du wärst beim Mittagessen.«

»Ach, du kennst doch Grace. Sie ist noch gar nicht hier. Und wenn sie aufkreuzt, will sie bestimmt erst einmal ihre Wäsche waschen. Bei ihrem Tempo wird ein Abendessen draus.« Ich lachte. »Was gibt’s?«

»Sitzt du?«

»Ja?«

»Ich wollte dir einen total verrückten Vorschlag machen.«

»Nein. Ich werde keine Bank mit dir ausrauben.«

»So verrückt ist er nun auch wieder nicht. Aber fast.«

Ich markierte mir die Seite in Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug, griff hinter mich, um mein Kissen zurechtzurücken, und setzte mich auf. »Ich höre.«

»Okay, jetzt, wo wir beide unseren Führerschein haben, finde ich, wir sollten uns treffen. Ich meine, in echt treffen.«

Ich schnellte in die Höhe. In echt? Ich und Nick? Was? Das ging nicht. Das wäre viel zu merkwürdig. Was würden wir denn sagen? Es wäre furchtbar peinlich. Und falsch. Und die Welt könnte untergehen. Und … nein.

Nein.

»Ghost? Bist du noch dran?«

»Äh, ja, ich bin bloß überrascht. Das kommt völlig unerwartet.« Hallo, Untertreibung des Jahrhunderts.

»Ich hab schon alles geplant. Du sollst natürlich nicht den ganzen Weg hierherfahren und ich hab keine Ahnung, ob mein schrottreifer Pick-up es ganz bis zu dir schafft, aber wir können uns in Barstow treffen. Das ist ungefähr in der Mitte und total am Ende der Welt, aber es gibt da einen coolen McDonald’s in einem alten Eisenbahnwaggon. Und ein kleines Outlet-Center. Bestimmt gibt es auch ein Kino oder so. Wir werden uns schon nicht langweilen. Nicht, dass wir uns langweilen könnten. Nicht, wenn wir zusammen sind.«

Er ratterte sämtliche Pläne herunter, die er sich für unser Treffen in Barstow überlegt hatte, aber ich hing immer noch an der Tatsache, dass er mich überhaupt treffen wollte. Seit zwei Jahren hatten wir Kontakt – meist online, aber seit Neuestem auch direkt am Telefon oder per SMS –, doch irgendwie war er für mich, warum auch immer, nie eine echte Person gewesen. Sich im echten Leben zu treffen, war mir ganz ehrlich noch nie in den Sinn gekommen.

Und dann bestand ja die Möglichkeit, dass wir uns trafen und gar nicht mochten. Was, wenn wir nicht miteinander klarkämen? Was, wenn die Unterschiede zwischen uns, die am Telefon witzig und spannend klangen, im wahren Leben einfach zu groß wären? Mit einem Treffen setzten wir unsere Freundschaft und das, was wir hatten, aufs Spiel und ich war mir nicht sicher, ob ich dieses Risiko eingehen wollte.

»Du sagst ja gar nichts, Ghost. Was hältst du davon?« Seine Stimme war höher als sonst, so schnell sprach er. »Komm, lass uns das machen.«

»Okay«, sagte ich, aber nicht sehr überzeugt. Das hier war einer dieser kritischen Momente in einer Freundschaft, fuhr es mir durch den Kopf, die einen entweder zusammenschweißten oder alles zerstörten. Ich wollte das zwischen uns nicht kaputt machen und ich wollte nicht, dass er merkte, wie unsicher ich war. Nicht, dass er glaubte, mein Zögern würde damit zusammenhängen, dass ich uns infrage stellte. Das tat ich nicht. Ich konnte mir einfach nur nicht vorstellen, wie unsere virtuelle Freundschaft im wahren Leben aussehen würde.

»Okay? Super.« Ich konnte sein Lächeln praktisch hören. »Dann müssen wir uns nur noch auf einen Tag einigen und entscheiden, wo wir uns treffen und so weiter.«

»Und ich muss meine Eltern fragen, ob sie mir überhaupt erlauben, so eine weite Strecke zu fahren.« Sobald ich das gesagt hatte, wurde mir klar, dass ich immer noch meine Eltern als Ausrede benutzen konnte, wenn ich mich gegen den Plan entschied. Manchmal können meine Eltern cool sein, sehr viel cooler als die Eltern einiger anderer Asiatinnen, mit denen ich befreundet bin, meistens sind sie allerdings ziemlich streng. Aber mal ganz ehrlich, selbst antiautoritäre Eltern hätten ein Problem damit, ihre sechzehnjährige Tochter ans Ende der Welt fahren zu lassen, um sich mit irgendeinem wildfremden Typen zu treffen, den sie aus dem Internet kennt, oder?

Welche Sechzehnjährige hofft eigentlich darauf, dass ihre Eltern so einen verrückten Wunsch ablehnen? Lo würde die Krise kriegen.

Natürlich nur, wenn ich ihr davon erzählte.

»Wenn sie dir nicht erlauben, alleine zu fahren, nimm doch Lo mit. Ich würde mich freuen, sie kennenzulernen.«

Verdammt, das wäre ja noch schlimmer. Lo wusste zwar, dass es Nick gab, aber viel mehr auch nicht. Ich hatte so gar keine Lust, ihr die Einzelheiten zu erklären. Lieber würde ich alleine fahren und riskieren, als Opfer eines anonymen Internet-Axtmörders zu enden, nur damit ich alles für mich behalten konnte.

»Also, ich weiß ja nicht, wie das in Nevada ist, aber laut kalifornischem Gesetz darf ich keine Minderjährige mitnehmen, und mit Grace oder meinen Eltern fahre ich nicht.«

»Dann nur wir beide, Ghost.«

»Wenn wir uns im echten Leben treffen, kannst du mich nicht mehr Ghost nennen. Dann bin ich kein Geist mehr, sondern real.«

Nick hatte mir diesen Spitznamen nach ungefähr einem Jahr gegeben, während einer unserer spätabendlichen Unterhaltungen, die mit dem Verriss eines schrecklichen Films begann, den wir beide am Abend zuvor zufällig gesehen hatten, und in einer ungewöhnlich ernsthaften Diskussion unserer seltsamen Freundschaft endete.

Er hatte mir gestanden, dass er glaubte, ich wäre zu gut, um wahr zu sein. Dass er manchmal das Gefühl hätte, ich könnte gar nicht echt sein. Er hatte mich gefragt, warum ich mich eigentlich noch mit ihm unterhielt, wo wir doch so weit voneinander entfernt wohnten. Ich wiederum gestand ihm, dass ich so jemanden wie ihn in meinem echten Leben noch nie kennengelernt hätte, was ich absolut positiv meinte. Unsere Unterhaltungen wären der Höhepunkt meines Tages. Er stimmte mir zu und meinte, ich würde ihn den ganzen Tag begleiten, selbst wenn er mich nicht sehen könnte, wie ein Geist. Ich war froh, dass wir nur chatteten, denn bei dieser Beschreibung wurde ich so rot, dass ich dachte, mein Gesicht würde diese Farbe für den Rest meines Lebens behalten.

Das war der Abend, an dem Ghost aus der Taufe gehoben wurde, und seitdem nannte er mich so.

Ich hatte nie einen Spitznamen für ihn gefunden, der eine ähnliche Bedeutung hatte.

»Keine Sorge«, sagte er. »Du bleibst Ghost, was auch immer passiert.«

Ich war überrascht, wie erleichtert ich war. Vielleicht würde sich gar nichts ändern, wenn wir uns trafen.

»Ich muss dir allerdings etwas gestehen. Vermutlich wird’s blöd klingen – also bitte nicht lachen, okay?« Er hüstelte und ich hörte ihn auf und ab gehen. »Weißt du, irgendwie hab ich Angst, dass du mich nicht magst. Im echten Leben bin ich nämlich eine Niete. Ich kann nicht reden und so. Ich bin total peinlich. Ich sag immer das Falsche und vermassele alles.«

Ich schüttelte meinen Kopf, auch wenn ich wusste, dass er mich nicht sehen konnte. »Ich glaub dir kein Wort. Wir unterhalten uns fast jeden Tag und du hast noch nie etwas vermasselt.«

Er senkte seine Stimme und flüsterte ins Telefon: »Weil ich mich nicht verstecken muss. Das hier ist nicht echt und deshalb bist du der einzige Mensch, mit dem ich mich wirklich unterhalten kann, Ghost. Du bist der einzige Mensch, mit dem ich jemals wirklich gesprochen habe.«

Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er im wahren Leben so viel anders war als jetzt, wusste aber auch, dass es leichterfiel, ganz man selbst zu sein, wenn man keine Rolle spielen musste. Ohne ältere Geschwister, ohne Band oder Musterschüler-Fassade. »Na gut, dann sei einfach nur du, so wie jetzt, und ich verspreche dir, dass ich dich nicht seltsam finden werde.«

Wir redeten, bis Grace irgendwann auftauchte, und verabredeten uns für den folgenden Donnerstagmittag. Wir würden uns in Barstow beim Eisenbahnwaggon-McDonald’s treffen und dann weitersehen. Wir würden allein kommen und wieder nach Hause fahren, bevor es dunkel wurde. Wir mussten nur noch unsere Eltern fragen. Na ja, er nicht wirklich. Sein Dad, der seit dem Tod von Nicks und Alex’ Mom – Nick war damals acht gewesen – in seiner eigenen Welt lebte, bekam kaum mit, was Nick tat.

Sein Bruder dagegen hatte ihn schon immer damit aufgezogen, dass wir uns nie trafen. Tatsächlich hatte ich sogar den Verdacht, dass Alex’ ständige Sticheleien der Auslöser dafür waren, dass Nick mir den Vorschlag gemacht hatte.

Meiner Mum den Plan zu verkaufen, würde nur mit einem Wunder klappen, aber vielleicht hätte ich bessere Chancen mit Grace im Rücken. Schließlich hatte sie mir Nick ja sozusagen vorgestellt, nachdem sie Alex auf dem Konzert kennengelernt hatte. Alex war vier Stunden gefahren, um seine Lieblingsband, Strung Out, auf einem nicht öffentlichen Konzert bei uns in der Nähe spielen zu hören. Danach hatte Grace noch ein paar Wochen mit ihm gechattet, bis ihr langweilig wurde und sie sich etwas Neuem zuwendete. Das war typisch Grace. Sie war das Teufelchen auf meiner Schulter, das mich ständig zu irgendwelchen Dummheiten anstachelte.

Zwei Stunden später passte ich beim Mittagessen einen günstigen Moment ab, um das Thema anzuschneiden. Zu meinem Glück gab mir Grace das perfekte Stichwort.

»Na, wie geht’s Nick?«

»Welcher ist Nick noch mal?« Mom nippte in unserer Restaurantnische an ihrem Kaffee und warf mir einen vielsagenden Blick zu, als würde ich ihr eine pikante Einzelheit verschweigen. Ich wollte sie gerade beruhigen, doch Grace kam mir zuvor.

»Du weißt schon, Hannahs Internet-Freund.«

Ich verdrehte die Augen.

»Ach so, der, dem wir die Unmengen von Nachrichten rund um die Uhr zu verdanken haben. Gott sei Dank müssen wir nicht mehr für jede einzelne Nachricht Gebühren zahlen wie damals, als Grace in deinem Alter war.«

»Die guten alten Zeiten«, sagte Grace und nahm einen großen Bissen von ihrem Panini mit Hackfleischbällchen.

»Nick ist nicht mein Freund. Nicht im Entferntesten. Und ihm geht’s gut«, sagte ich. »Er hat mit seinen Freunden eine Band gegründet.«

»Tritt wohl in die Fußstapfen seines Bruders.« Grace wischte sich die Tomatensoße vom Mund. »Wie lange willst du diese Online-Beziehung eigentlich noch fortsetzen? Oder hast du vor, ihn für den Rest deines Lebens von Weitem anzuhimmeln?«

»Wir sind bloß befreundet, okay?«, fauchte ich. »Nichts von wegen Beziehung. Und anhimmeln tue ich ihn auch nicht.«

»Wer’s glaubt, wird selig«, sagte Grace. »Ihr unterhaltet euch zu allen Tages- und Nachtzeiten. Das ist mehr als Freundschaft. Nicht mal mit Lo sprichst du so viel.«

»Lo sehe ich jeden Tag in der Schule. Ich unterhalte mich mit ihr zehnmal so oft, das bekommst du bloß nicht mit.« Ich stieß Grace unter dem Tisch gegen das Schienbein. Auch wenn ich mir nicht hundertprozentig sicher war, ob ich Nick überhaupt treffen wollte, sollte sie nicht alles ruinieren, bevor ich Mom überhaupt gefragt hatte. »Und übrigens wollte ich sowieso was mit Mom besprechen.« Ich drehte mich zu Mom. »Ich, äh, ich hab überlegt, ob ich mich vielleicht, also, ob wir uns treffen können. Nächsten Donnerstag.«

Sie kniff ihren Mund zusammen. »Wo wohnt er?«

»In Las Vegas«, sagte Grace mit dem Mund voller Kartoffelchips.

Mom machte das grimmigste Natürlich-nicht-Gesicht, das ich je bei ihr gesehen hatte. Okay, gegenüber Grace benutzte sie es regelmäßig, aber was mich betraf, war es ein Erstauftritt. Wieso beherrschen Mütter diesen Blick so gut?

»Aber ich will nicht den ganzen Weg bis nach Vegas fahren«, sagte ich und gab Grace noch einen Tritt. »Das wäre ja Wahnsinn, oder? Wir wollen uns auf halbem Weg treffen. In Barstow.«

Moms Gesicht entspannte sich etwas, genug, um mich hoffen zu lassen. Sie schien viel eher bereit, mir zuzuhören, wenn es nur um Kalifornien ging. »Barstow ist zwei Stunden entfernt, Hannah. Ich halte das für keine gute Idee.«

»Ich bringe den Wagen vorher noch zum Ölwechsel, prüfe den Reifendruck und achte darauf, dass ich alles dabeihabe. Und ich melde mich jede Stunde bei dir.« Ich setzte mein süßes Unschuldsgesicht auf. Grace hatte es mir in den Sommerferien vor der sechsten Klasse beigebracht und über die Jahre hatte es mir gute Dienste erwiesen. »Bitte, bitte, Mom? Wir chatten und telefonieren schon seit Ewigkeiten. Wir sind befreundet. Wir wollen uns sehen.«

Bis jetzt war mir selbst noch nicht so klar gewesen, wie ich zu dem Treffen stand, aber als ich Mom erklärt hatte, wie wichtig es mir war, wusste ich, dass es stimmte.

Ich wollte ihn sehen.

Im echten Leben.

Mom runzelte die Stirn. »Aber allein darfst du nicht fahren, sonst brauchen wir gar nicht weiter darüber zu diskutieren. Kann Lo nicht mitkommen?«

»Das wäre toll, aber ich darf sie nicht im Auto mitnehmen.«

»Ich komme mit«, sagte Grace. Ich verengte meine Augen und warf ihr einen Blick über den Tisch zu, den sie mit einem teuflischen Grinsen erwiderte. »Keine Sorge, ich werde dich schon nicht blamieren. Ich sorge nur dafür, dass ihr euch anständig benehmt.«

»Grace! Ich hab dir doch gesagt, dass wir nur befreundet sind. Und musst du Donnerstag nicht an der Uni sein oder so?«

»Nee. Mein Sommerkurs war schon voll. Und ich hab doch nur Spaß gemacht. Ich misch mich nicht ein. Komm wieder runter.« Sie lachte. »Und vergiss nicht, so brauchst du deinen Freundinnen nichts von ihm zu sagen. Bei mir ist dein Geheimnis gut aufgehoben.«

»Wieso weiß Lo nichts von diesem Jungen?« Mom beugte sich zu mir, als ob ich sie gleich in etwas total Verbotenes einweihen würde. Pah! Wenn dem so wäre, würde ich ihr bestimmt nichts davon erzählen.

»Lo weiß, wer Nick ist.« Ich lehnte mich in meiner Ecke zurück. »Sie weiß nur nicht so viel von ihm.«

Mom tippte mir auf die Schulter, damit ich mich wieder gerade hinsetzte, was ich tat.

»Vor deinen Freunden solltest du keine Geheimnisse haben, Hannah.« Grace konnte Moms tadelnde Stimme perfekt nachmachen. Mom und ich starrten sie mit vernichtenden Blicken an.

»Es reicht, Grace.« Mom legte die Hände um ihre Kaffeetasse und wandte sich wieder mir zu. »Also gut, von mir aus kannst du fahren, aber nur unter der Bedingung, dass Grace mitkommt. Und ich muss erst noch mit eurem Vater sprechen.«

Ich grinste. Ich hatte so gut wie gewonnen. Dad war zwar ein Topanwalt und superstreng, was Zensuren und Hobbys betraf, aber wenn es um seine Frau und seine Töchter ging, wurde er weich wie ein Teddybär. »Danke, Mom.« Ich legte meinen Kopf auf Moms Schulter und sie strich mir über mein Haar.

In der Nacht vor unserem Treffen konnte ich kaum schlafen. Doch schon beim Aufstehen wusste ich, dass alles schiefgehen würde. Ich konnte es förmlich in der Luft spüren. Unheil. Überall.

Mit Grace fing es an.

Ich sprang aus dem Bett, ohne dass mein Wecker mich wecken musste, und wollte ins Badezimmer, um zu duschen, aber die Tür war abgeschlossen. Auf der anderen Seite hörte ich ein ekelhaftes Würgegeräusch.

Ich hämmerte gegen die Tür. »Was ist los, Grace? Lebst du noch?«

Die Antwort brauchte ich gar nicht erst abzuwarten. Ich wusste, was passiert war. Sie hatte die Nacht nicht mehr in ihrem Zimmer in L.A. verbracht, sondern war gestern schon nach Hause gekommen, um ihre Wäsche zu waschen und ein paar anständige Mahlzeiten abzugreifen, bevor wir losfuhren. Mom und Dad hatte sie gesagt, sie sei mit ihrer Freundin Priya verabredet, um ins Kino zu gehen. In Wirklichkeit hatte sie sich aus dem Haus geschlichen, um sich mit ihren Exfreund Patrick zu treffen – Mom und Dad nannten ihn immer »Der, dessen Name hier nicht genannt wird« –, was bedeutete, dass sie zu irgendeiner Party gegangen war und sich hatte volllaufen lassen. Und deswegen hing sie über der Toilette. Grace hatte einen üblen, üblen Kater.

»Bitte sag mir, dass du nicht Auto gefahren bist«, rief ich durch den Türspalt.

»Patricks Freund hat das Auto nach Hause gefahren«, stöhnte sie.

Sobald ich mich davon überzeugt hatte, dass Grace weder im Sterben lag noch umgebracht werden musste, weil sie betrunken Auto gefahren war, arbeitete ich an Plan B: Mom davon überzeugen, dass ich die Fahrt auch alleine schaffen konnte.

Doch als ich mit unserem Kater Bruce Lee als Schutzschild auf meinem Arm die Treppe hinunterkam, stand Mom tropfnass in der Küche, ihre Kleidung klebte ihr am Leib.

»Was ist denn mit dir passiert?«

Wenn Blicke töten könnten, hätte Mom einen Atomkrieg auslösen können. »Deine Schwester«, sagte sie, »hat gestern Abend mein Auto genommen, weil ihr Tank leer war. Und sie hat die Fenster offen gelassen.«

»Und es regnet?« Ich hatte noch gar nicht nach draußen geschaut, aber jetzt konnte ich den Regen gegen das Erkerfenster in der Küche trommeln hören und stöhnte.

»Heftiges Sommergewitter«, sagte Mom. Das Wasser tropfte aus ihren Haaren und lief an ihrem Gesicht herunter. »Das Auto ist komplett durchgeweicht.«

Patricks blöder Freund hatte die blöden Autofenster offen gelassen. Unglaublich. Ich machte den Mund auf, ohne wirklich zu wissen, was ich sagen wollte, doch Mom unterbrach mich.

»Heute fährst du nirgends mehr hin.«

»Aber Mom …«

Bruce Lee, der auf Spannungen genauso allergisch reagierte wie ich, wand sich aus meinem Arm und hinterließ ein paar ordentliche Kratzer, als er an mir herunterkletterte.

Verräter-Katze.

»Deine Schwester hat eine Lebensmittelvergiftung und übergibt sich in einer Tour. Ich lasse meine sechzehnjährige Tochter doch nicht allein durch die Wüste fahren, damit sie sich mit einem Jungen treffen kann, den sie nur aus dem Internet kennt.«

»Aber –«

»Und schon gar nicht, wenn es in Strömen gießt. Du hast deinen Führerschein erst ein paar Monate, Hannah, und noch keine Fahrpraxis bei diesem Wetter. Du weißt doch, die Kalifornier können bei Regen einfach nicht fahren. Tut mir leid, aber daraus wird nichts. Versuch gar nicht erst, mich zu überreden.«

Tränen brannten in meinen Augen. Mom tropfte immer noch, aber sie kam auf mich zu und versuchte, mich in den Arm zu nehmen. Das war das Letzte, was ich jetzt brauchte. Ich drehte mich um, stürmte in mein Zimmer und sank auf meinen Schreibtischstuhl. Den Blick starr auf den Laptop gerichtet, fragte ich mich, wie ich das Nick beibringen sollte.

Wenn unser Treffpunkt näher gewesen wäre oder wenn es nicht geregnet hätte oder wenn Grace, wie vereinbart, einfach nur ins Kino gegangen wäre oder wenn irgendjemand die bekloppten Fenster zugemacht hätte oder tausend andere Sachen, wäre es mir vielleicht gelungen, Mom zu überreden. Aber anscheinend hatte sich das gesamte Universum gegen mich verschworen.

Ich überlegte kurz, Mom zu erzählen, dass ich mit Lo wegfahren würde, und stattdessen heimlich nach Barstow aufzubrechen, egal wie nass die Sitze waren. Die Vorstellung, mich mal nicht an Regeln zu halten und mich über ein striktes Verbot hinwegzusetzen, war aufregend. Aber noch während ich mit dem Gedanken spielte, kamen schon die Was-wäre-Wenns. Ich könnte eine Reifenpanne haben. Ich könnte mich verfahren. Nick könnte sich als Entführer-Mörder-Vergewaltiger herausstellen und niemand wüsste, wo man nach meiner zerstückelten Leiche suchen sollte.

Ich nahm die Andenkenmünze in die Hand, die Nick mir letzten Monat mit der Post geschickt hatte – das erste Geschenk, das er mir je gemacht hatte. Die Münze stammte aus dem Circus Circus Hotel & Casino in Vegas und klebte auf der Rückseite einer Las-Vegas-Stripbei-Nacht-Postkarte. Ich hatte mich mit einer Andenkenmünze bedankt, die ich mir vor ein paar Jahren in Disneyland gekauft hatte. Sie zeigte die drei trampenden Geister aus der Geistervilla.

Ich strich mit meinem Zeigefinger über das Clownsgesicht, das auf die Münze geprägt war. Wie albern von mir zu denken, ich könnte gegen die Regeln verstoßen. Das war Grace’ Spezialgebiet, nicht meins.

Und außerdem, wieso wollte ich überhaupt hinfahren? Was brachte das? Ich war mit Nick befreundet, aber mehr auch nicht. Es war nicht nötig, dass wir uns persönlich trafen.

Ich konnte mir nicht erklären, warum, aber irgendwie war ich erleichtert, dass dieser ganze Mist passiert war. Vielleicht gab es einen guten Grund, warum alles schiefgelaufen war.

Hannah: Schlechte Nachrichten.

Nick: bitte nicht

Hannah: Es regnet.

Hannah: Ehrlich gesagt schüttet es. Ganz plötzlich.

Nick: neinnnnnnnnnnnn

Hannah: Und Grace ist krank. Sie hat sich gestern volllaufen lassen und kotzt die ganze Zeit.

Nick: neinnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn

Hannah: Und sie hat das Auto ruiniert.

Hannah: Als ob das Universum entschieden hat, heute alles an mir auszulassen.

Nick: du kommst also nicht?

Hannah: Ich kann nicht.

Hannah: Tut mir leid.

Hannah: Bist du noch da?

Nick: ja

Nick: bin bloß enttäuscht

Nick: ich hatte mich so gefreut

Nick: wir verschieben es auf ein andermal, ja?

Nick: ja?

3. Kapitel

Freitag

Vielleicht liegt es am neuen Song von Automatic Friday, den ich auf Dauerschleife gestellt habe; dieses Lied, bei dem Jordys kratzige Stimme so echt klingt, als würde er neben mir auf meinem weißrosa getupften Bettüberwurf sitzen und für mich singen. Vielleicht liegt es daran, dass die Band morgen auf einem richtigen Konzert in einem richtigen Club spielt und dass ich nicht dabei sein werde. Vielleicht liegt es an der Erinnerung an diesen verdammten Tag, an dem Nick und ich uns treffen wollten, und dieser seltsamen Mischung aus Bedauern und Erleichterung, dass alles schiefgelaufen war, eine Mischung, die mich bis heute, fast zwei Jahre später, verfolgt. Vielleicht liegt es an meiner Wut auf Aditi Singh, wenn ich an ihre geschürzten Lippen denke, als Mrs Marx ihr sagte, sie wäre die erste stellvertretende Jahrgangssprecherin in der gesamten Geschichte unserer Schule, die nach Washington fahren durfte. Oder vielleicht liegt es am Anblick der Clown-Münze, die leicht angestaubt auf meiner Kommode liegt.

Keine Ahnung, was genau es ist, vermutlich alles zusammen, das mich dazu bringt, mir die Münze zu schnappen und in den Garten zu rennen, bevor ich überhaupt merke, dass meine Beine sich in Bewegung gesetzt haben. Lo lässt sich immer noch im Pool treiben und Grace, die im College vermutlich nie isst, futtert sich gerade durch eine Dose Pringles.

»Was haltet ihr von der Idee, nach Vegas zu fahren?«, platze ich heraus, während ich noch die Schiebetür hinter mir zuziehe.

»Waaas?« Grace verschluckt sich und spuckt ein paar Chipsstückchen aus.

»Grace, igitt!«

»Tut mir leid«, entschuldigt sie sich und wischt sich mit ihrem Ärmel die Krümel aus dem Gesicht. »Ich glaub, ich sitze im falschen Garten. Was hast du gesagt?«

Diesmal atme ich tief ein und langsam wieder aus und lasse mir jedes einzelne Wort durch den Kopf gehen, bevor ich es ausspreche: »Wir drei. Spring Break. Lasst uns morgen nach Las Vegas fahren und zu Nicks Konzert gehen. Es ist wirklich wichtig und ich möchte da sein.«

Ich kann buchstäblich sehen, wie sich die Räder in ihrem Kopf drehen, als Grace verarbeitet, was ich eben gesagt habe. Grace, die ihre Teenie-Jahre damit verbracht hat, aus dem Fenster zu klettern, um unter der Woche auf Punkrock-Konzerte zu gehen. Grace, die ständig versucht, mich dazu zu bringen, etwas anzustellen, irgendetwas, was nicht von mir erwartet wird. Dass ich mal gegen eine Regel verstoße, egal wie belanglos sie ist.

Ihr Lächeln nimmt fast ihr ganzes Gesicht ein.

»Hast du wirklich das gesagt, was ich meine, gehört zu haben?« Lo hüpft aus dem Pool, schnappt sich ein Handtuch von Grace’ Liege und wickelt sich darin ein, alles in einer gefühlten halben Sekunde. Sie baut sich direkt vor mir auf und das Wasser tropft aus ihren langen Haaren auf meine Füße. »Hast du, Hannah Cho, mustergültige Schülerin, Tochter und Bürgerin, eben allen Ernstes vorgeschlagen, dass wir heimlich nach Las Vegas fahren, in die Stadt der Sünde, um diesen Typen zu besuchen, den du nie persönlich kennengelernt hast, ohne vorher unsere Eltern zu fragen?«