Jerry Kennet

Die Grünbarts

Wir feiern die Katastrophen,
wie sie kommen

Aus dem amerikanischen Englisch
von Petra Koob-Pawis

Bilder von Der Anton

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Jerry Kennets
Familie stammt zwar nicht aus unterschiedlichen
Epochen, aber wenn Jerry es sich aussuchen könnte, würde
er am liebsten zur Zeit der englischen Renaissance leben –
als Hofnarr, natürlich. Er hat leider keine geniale Zeitreisemaschine
erfunden, sondern nur Politikwissenschaft
studiert. Jerry lebt mit seiner Familie in Washington und
arbeitet als Journalist. Die Grünbarts ist seine
erste Reihe für Kinder.

Außerdem von Jerry Kennet im Arena Verlag erschienen:
Die Grünbarts. Auf Zeitreisen ist nicht gut Pizza essen
Die Grünbarts. Zusammen klebt man besser als allein

Die Grünbarts. Ein Hamster dreht am Rad

Die gleichnamigen Hörbücher sind bei Arena Audio
erschienen.

Der Anton
lebt in Köln, wo er alles bemalt, was halbwegs stillhält:
Zimmerwände, Klassenarbeiten, Autos … Seit 1989 arbeitet
er freiberuflich als Illustrator, Designer und Regisseur
für verschiedene Fernsehsender, Verlage, Produktionsfirmen
und Design-Agenturen. 1999 gründete er mit
Freunden die FEEDMEE Design GmbH und heimste
allerhand Preise ein.

 

Mit besonderem Dank
an Jan Gangsei

 

 

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1. Auflage 2017
© 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2016 by Working Partners Limited
Series created by Working Partners Limited
Aus dem amerikanischen Englisch von Petra Koob-Pawis
Covergestaltung und Innenillustrationen: Der Anton
Die Illustrationen in diesem Werk wurden vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Vorsatz- und Nachsatzhintergrund: © RomanYa/Shutterstock
ISBN 978-3-401-80663-1

www.arena-verlag.de

Die Grünbarts

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Jack Grover-Grünbart: Pirat aus dem 18. Jahrhundert, besegelte die sieben Weltmeere (ist leider seekrank, daher im vorzeitigen Ruhestand im 21. Jahrhundert) und surft heutzutage gerne im Internet

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Emily Grover-Grünbart: geboren vor ca. 162 Jahren im viktorianischen London, geniale Erfinderin u. a. des Schrumpfinators, Schmutzinhalierers und eines Zeitreise-Wohnmobils

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Fussel: unser Haustier, ein Mini-T-Rex … frag lieber nicht, wie der bei uns gelandet ist!

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Hojo: 11 Jahre alt, japanische Samurai-Schülerin aus dem 14. Jahrhundert, liebt Waffen und alle Tiere, aber vor allem die mit spitzen Zähnen

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Grog: 17 Jahre alt, stammt aus dem alten Rom, besitzt übermäßigen Appetit auf Mammutfleisch und hat schlechte Tischmanieren (kurz: benimmt sich wie ein Höhlenmensch)

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Zack: Das bin ich: 10 Jahre alt, ein hundertprozentiges Produkt des 21. Jahrhunderts – und der einzig Normale in einer komplett verrückten Familie

Kapitel 1

Gibt es etwas Schöneres als einen Freitagnachmittag? Dieses herrliche Gefühl, wenn nach der letzten Unterrichtsstunde die Schulglocke schrillt und du endlich frei bist und alles hinter dir lassen kannst – die unangekündigten Tests, die dauerquatschenden Lehrer und das Schulessen, dessen Bestandteile ein Geheimnis sind, das du besser nicht lüften solltest. Das Wochenende liegt vor dir wie ein großes weißes Blatt Papier, das nur darauf wartet, vollgeschrieben zu werden.

Nur heute nicht – heute war alles anders.

Schon als ich in den Schulbus einstieg, spürte ich, wie mein Magen sich verknotete und dieser Knoten mit jeder Sekunde größer wurde. Und das lag nicht etwa daran, dass Sam und Craig wie immer mit gezückten Schleudern auf ihren Plätzen in der hintersten Reihe saßen. In letzter Zeit ignorierten sie mich so ziemlich. Ungefähr zwei Monate war es her (plus drei Tage, sechzehn Stunden und zweiundvierzig Minuten – nicht dass ich mitzähle), seit einer der beiden zum letzten Mal versucht hatte, meinen Kopf in die Schultoilette zu versenken oder mich in meinen Spind zu sperren. Kein »Blödbart«-Gegröle mehr (und natürlich auch keine »Superbart«-Gesänge wie in der kurzen Zeit, als die beiden – kein Witz – mit mir befreundet sein wollten).

Es klingt vielleicht komisch, aber irgendwie fehlten mir die beiden sogar ein bisschen.

Quatsch, was rede ich da? Lieber würde ich mich mit einer wütenden Aztekenhorde herumschlagen, als den Tag mit Sam und Craig zu verbringen.

Ich setzte mich auf den leeren Platz neben meinem neuen Freund Dave, der zur Musik auf seinem iPhone mitwippte. Er nahm den Kopfhörer ab. »Jo«, begrüßte er mich.

»Jo«, grüßte ich zurück.

»Das war heute der Hammer«, meinte er. »Du hast es allen gezeigt. Macks Welt rockt! Wie Mack die beiden Rambos fertigmacht, einfach legendär.«

»Danke.« Meine Ohren fingen an zu glühen und der Knoten in meinem Bauch wurde noch etwas fester. Heute hatte ich den »Picasso-Preis für Nachwuchskünstler« unserer Schule gewonnen. Wirklich eine super Sache. Das ist die größte Bestätigung, die man sich vorstellen kann, oder etwa nicht? Ich bin sicher, der echte Picasso würde mir zustimmen – zumal er Menschen ja irgendwann nur noch als große Würfel mit schiefen Augen gemalt hat. Jede Wette, dass er sich deswegen so einiges anhören musste. Wo ich so darüber nachdenke, vielleicht sollte ich ihn mal fragen …

Leider hatte der Preis einen Haken und beim Gedanken daran wurde mir flau im Magen wie einem Grünbartpiraten bei hohem Wellengang: Ich musste nächste Woche die sogenannte Preisträgerrede halten.

Vor der versammelten Schule.

Ganze zehn Minuten lang …

Und alle Klassen würden zuhören.

Das klitzekleine Problem daran war: Ich hasse es, öffentlich zu reden. Ansprachen sind einfach nicht mein Ding. Allein bei dem Gedanken an mein Referat vom ersten Halbjahr überläuft es mich immer noch kalt. Damals hatte ich im Unterricht den Roman Die rote Tapferkeitsmedaille vorgestellt. Hey, so was nennt man wohl Ironie! Meine schweißnassen Handflächen hatten Abdrücke auf dem Papier hinterlassen und meine Zunge war so trocken gewesen, dass sie an meinem Gaumen geklebt hatte. Ich muss wohl nicht betonen, wie schwer es ist, mit festgeklebter Zunge einen mündlichen Vortrag zu halten? Am Ende war mein Gesicht röter als jede Tapferkeitsmedaille. Es könnte sogar sein, dass ich den Großteil meines Mittagessens in der zweiten Kabine von rechts in den Toiletten neben der Turnhalle von mir gegeben habe. Aber das weißt du nicht von mir, okay?

Ach ja, und als wäre das noch nicht schlimm genug, waren Sam und Craig mir den Rest des Tages nicht von der Pelle gerückt. Sie hatten ohne Unterbrechung Ta-ta-tapfer, tapfi-tapfi-tapf! gerufen und mich mit Papierkügelchen beworfen.

Jep, ich als Redner vor der ganzen Schule: Das würde ein Spektakel werden!

Seufzend zog ich meinen Schreibblock hervor und blätterte zu der Seite, auf der ich mir während der Hausaufgabenstunde am Nachmittag erste Notizen für meine Rede gemacht hatte. Wenn ich schon mit Pauken und Trompeten untergehen würde, dann wenigstens mit einer gut vorbereiteten Rede. Ich räusperte mich und murmelte dann halblaut vor mich hin:

»Liebe Lehrer, lieber Rektor Weatherspoon, liebe Schulkameraden …« Ich brach ab und schnaufte zur Beruhigung erst einmal durch. »Es ist mir eine große Ehre, in diesem würdevollen Rahmen geehrt zu werden.« Ich atmete tief ein und wieder aus. »›Großes Leid bringt große Kunst hervor.‹ Diese bedeutsamen Worte sagte Michelangelo, als er sein großartiges Meisterwerk in der Sixtinischen Kapelle vollendet hatte. Dann fügte er noch hinzu: ›Von all der Schinderei habe ich einen Kropf bekommen!‹«

Ich wusste nicht so genau, was ein Kropf war, aber es hörte sich ziemlich krass an. Ich nahm meinen Stift und schrieb weiter: »Und so wollen wir, die wir uns heute an diesem Ort versammelt haben, an die klugen Worte Wolfgang Amadeus Mozarts denken, von dem die folgende Weisheit überliefert ist …«

Mit dem Stift in der Hand hielt ich inne und versuchte mich zu erinnern, was Mozart gesagt hatte. Na ja, mal abgesehen von: »Gleich knallt’s, dann geh ich in die Luft und schick dich in die Gruft.« Damals waren wir ins Österreich des 18. Jahrhunderts gereist. Bei unserem Besuch hatten wir beinahe Mozarts Flügel geschrottet und seinen kleinen Köter ziemlich auf die Palme gebracht.

Vielleicht irgendetwas über Flöten? Ich nahm mein Handy und rief den Browser auf.

Dave spähte über meine Schulter. »Was machst du da, Kumpel?«

»Ich bastle an meiner Rede für die Schulversammlung nächste Woche«, antwortete ich. »Ist total schwierig.«

»Und wieso starrst du dabei auf dein Handy?«

»Ich bin auf Ideensuche.« Und auf der Suche nach Füllworten. Ich brauchte ausreichend Textmasse für zehn. Lange. Minuten. Und notfalls einen Fluchtplan. Ich könnte zum Beispiel ein paar Zaubertricks vorführen. Am besten einen Verschwinde-Zauber, mit dem man sich in Luft auflöste.

»Hm«, murmelte Dave. »Keine Sorge, du machst das bestimmt supergut. Sprich einfach über das, was dich inspiriert!«

Ich hörte, wie Sam und Craig hinten im Bus laut das Alphabet furzten. »Aaa. Bee. Cee. Dee … Boah, der hat nach Käse gerochen!« Schnaub, kicher, haha.

Na klar, alles ganz einfach. Ich spreche über das, was mich inspiriert. Pech nur, dass die Hauptfiguren in Macks Welt zwei Fieslinge namens »Steve« und »Chris« sind, die eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Sam und Craig haben. Sie sind dümmer als zwei Felsbrocken in Sporttrikots – ach ja, und sie werden von einem liebenswerten, leicht verrückten Helden namens »Mack« ausgetrickst. Vielleicht wäre es keine so gute Idee, über die Quelle meiner Inspiration zu sprechen – in meinem eigenen Interesse und so.

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Am besten, ich beschränkte mich auf Worte berühmter Menschen, die bereits tot waren – damit mir nicht dasselbe Schicksal blühte. Ich warf einen kurzen Blick auf mein Handy und schrieb: »Wie sagte Mozart einst so klug: ›Was ist schlimmer als eine Flöte? Zwei Flöten!‹«

Okay, okay. Naserümpfend radierte ich die Sätze weg. Das war ziemlicher Blödsinn. Ich brauchte passendere Zitate, so viel stand fest. Während ich auf dem Handy-Display herumtippte, wünschte ich mir einen Moment lang, ich hätte diesen verflixten Preis nicht gewonnen. Dann startete ich eine neue Suche in meinem Browser: künstlerische Inspiration. Oh – na also! Ein Zitat von Moms liebstem Freund »Leo« (er konnte also auch noch etwas anderes sagen als: »Raus hier!«).

»Und wie stellte der weise Leonardo da Vinci einst fest: ›Du kannst keine größere und keine kleinere Herrschaft haben als über dich selbst.‹«

Nachdenklich kratzte ich mich am Kopf. Ich war mir nicht sicher, was das bedeutete, aber es klang sehr bedeutungsvoll. Grob geschätzt würde der Satz, langsam ausgesprochen, etwa siebenundzwanzig Sekunden in Anspruch nehmen. Blieben also nur noch ungefähr 359000 Sekunden. 359000 Sekunden, in denen ich vor einem Hundertmillionen-Publikum stand. (Okay, das ist leicht übertrieben. Dreihundertfünfzig Zuhörer trifft es wohl eher. Aber glaub mir, sie werden mir wie hundert Millionen vorkommen.)

»Puh«, ächzte ich.

Wie zur Antwort darauf ächzte plötzlich auch der Bus und kam an einer Haltestelle zum Stehen.

Dave tippte mir an den Arm. »Hey, Kumpel«, sagte er und deutete zur Tür. »Musst du nicht aussteigen?«

Ich blickte auf und stellte überrascht fest, dass der Bus an der Schönen Allee angehalten hatte. Ich war so mit meiner Rede beschäftigt gewesen, dass ich fast meine Haltestelle verpasst hätte.

»Ja, du hast recht«, rief ich. »Ich muss los!«

Rasch sammelte ich meine Sachen zusammen. Heute durfte ich auf keinen Fall zu spät nach Hause kommen, sonst würde ich Dads Start in den »kolossalen Tag« verpassen. Er hatte alles seit Wochen geplant. (Vielleicht sollte ich noch anmerken, dass Dad mit »kolossal« einfach nur »groß« meint. Vor Kurzem hat er das Synonymwörterbuch auf seinem Computer entdeckt und seither benutzt er es ständig. Gestern gab es beispielsweise »pikante« Tacos zum Abendessen, danach spielten wir »emsig« Mau-Mau und machten schließlich »einträchtig« einen Spaziergang durch unser Viertel.)

Außerdem sollte ich vielleicht noch hinzufügen, dass allein schon der Gedanke an meine Familie und unsere Zeitreisen zusammen mit einem Wort, das etwas »Großes« andeutet, mich normalerweise nervös machen würde. Es ist ja nicht so, als hätten wir in dieser Hinsicht große Erfolge vorzuweisen. Heute war ich allerdings froh über die Ablenkung. So konnte ich zumindest für ein paar Stunden alle Gedanken an Dankesreden vor der versammelten Schule aus meinem Kopf verbannen.

»Bis bald, Dave«, sagte ich und eilte den Gang entlang Richtung Tür.

»Ja, bis heute Abend!«, rief Dave mir nach.

Heute Abend? Auf dem Gehsteig drehte ich mich noch einmal um, weil ich Dave fragen wollte, was er mit seiner Bemerkung gemeint hatte. Aber noch bevor ich den Mund aufmachen konnte, glitt die Tür vor meiner Nase zu und der Bus fuhr, eine Abgaswolke hinter sich her pustend, davon.

Egal. Ich musste schleunigst nach Hause, wo eine kolossale Veranstaltung auf mich wartete …

Kapitel 2

Eine Stunde später versammelten Dad, Hojo, Grog und ich uns im Wohnzimmer. Wir hatten uns schick gemacht: Ich trug einen grauen Anzug, bei dem die Hosenbeine fünf Zentimeter zu lang waren, Grog hatte sich in einen etwas zu engen blauen Smoking gezwängt, den er vermutlich in der 70er-Jahre-Abteilung der Kostümkleiderstange in unserem Winnebago gefunden hatte. Hojo trug ein schwarzes Seidenkleid und dazu pinkfarbene Converse mit Glitzer, ein Geschenk unserer Superstar-Freundin Poppy. Dad trug eine zweireihige marineblaue Jacke mit Goldsaum und eine Pluderhose mit hellroter Schärpe. Vor dem Spiegel in der Diele blieb er kurz stehen und rückte seine Augenklappe zurecht.

»Wie sehe ich aus, Matrosen?«, fragte er und strich sich über das Piratentuch, das er sich um den Kopf gebunden hatte.

»Du siehst toll aus, Dad«, versicherte ich ihm.

»Tatsächlich?«, fragte er. »Sind meine Stiefel auch wirklich blitzblank?«

»Sie glänzen wie ein poliertes Samurai-Schwert«, beruhigte ihn Hojo.

»Du brauchst nicht nervös zu sein, Dad«, mischte Grog sich ein. »Es ist alles okay.«

»Aye«, seufzte Dad und holte tief Luft. »Für eure Mutter soll eben alles perfekt sein!« Als er sich vornüberbeugte, um seine Schuhe ein letztes Mal zu polieren, machte es plötzlich Ratsch!. Dad richtete sich hastig wieder auf und blickte auf sein Hinterteil in der bauschigen Hose. »Aargh!«

Draußen wurde eine Autotür zugeschlagen. Dad zog die langen Rockschöße seiner Jacke etwas tiefer. »Macht nichts, macht nichts. Sie kommt! Nehmt eure Plätze ein!« Er fuchtelte aufgeregt mit den Armen.

Grog, Hojo und ich schnappten uns das von Dad gemalte Banner und versteckten uns hinter der Couch, wobei wir höllisch aufpassen mussten, weder die ägyptische Wasserpfeife noch die Glasvitrine mit Blackbeards Schwert umzustoßen.

Dad marschierte nervös auf und ab und murmelte dabei vor sich hin. »Und heute nehme ich dich, das schönste Geschöpf aller sieben Weltmeere … aye, nein. Heute will ich mit dir, holdes Fräulein, dem frohlockenden Horizont entgegensegeln.«

Hojo schnaubte leise. »Ich vermute, er meint verlockend, nicht frohlockend!«

Grog schniefte ein bisschen und wischte sich übers linke Auge. »Ja, ich weiß. Ist es nicht wundervoll?«

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. »Pst!«, raunte ich und knuffte meinen Bruder und meine Schwester in die Seite. »Sie kommt!«

»Aye!«, wisperte Dad. »Der Countdown läuft!«

Eins, zwei

Die Tür schwang auf.

Drei!

Hojo und ich sprangen aus unserem Versteck hervor und hielten das Banner in die Höhe. Moms Reaktion war so, wie man sie von jemandem erwartet, dessen Kinder völlig unerwartet hinter Möbeln hervorspringen: Sie machte vor Schreck einen Satz und ließ die Einkäufe fallen. Ein Dose Thunfisch rollte über den Boden und fiel sofort unserem Haustier Fussel zum Opfer. Mit einem Happs verschlang unser Miniatur-Dinosaurier die Dose samt Inhalt.

»Was ist denn hier los?«, fragte Mom atemlos. »Ihr habt mich vielleicht erschreckt!«

»Ta-da!« Dad wedelte schwungvoll mit seiner Rechten und deutete auf uns.

Nun sprang auch der Spätzünder Grog hinter der Couch hervor und hielt das Banner in der Mitte hoch, sodass Mom endlich lesen konnte, was darauf geschrieben stand.

Heirate mich, Emily G-GB!

»Ich soll heiraten?«, fragte Mom erstaunt. »Ich verstehe nicht ganz. Warum haben sich die Kinder mit einem Heiratemich-Schild hinter der Couch versteckt?«

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»Keine Angst, mein Schatz!« Dad zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Jackentasche und schüttelte es auseinander. »Ich habe dir ein Lied geschrieben, in dem ich alles genau erkläre«, verkündete er. »Ich weiß ja, wie sehr dir hübsche Worte gefallen.«

Dad räusperte sich kurz, dann stellte er sich aufrecht hin und fing an zu singen.

»Ich segelte einst durch die wogende Brandung,

schipperte furchtlos übers weite Meer,

da kam – plumps! – mit voller Bruchlandung,

ein Fräulein aus dem Nichts daher.

Die holde Maid war so schön und so klug,

von ihrem Lächeln bekam ich gar nicht genug.

Von da an wusste ich ganz genau:

Sie ist meine Piratenfrau!«

Dad sank auf sein Knie und streckte die Hand aus. »Na, was sagst du?«, fragte er. »Willst du meine anmutige Braut sein?«

»Natürlich will ich das«, antwortete Mom gerührt, wenn auch ein wenig verwirrt. »Die Sache ist nur die …« Sie beugte sich zu Dad und flüsterte laut: »Wir sind bereits verheiratet.«

»Aye«, stimmte Dad ihr unbeeindruckt zu. »Wir werden unser Ehegelöbnis erneuern. Und weil wir damals so holterdiepolter durchgebrannt sind, werde ich dir jetzt den wundervollen Hochzeitstag schenken, den wir damals nicht haben konnten.«

Mom verzog entzückt den Mund und legte ihre Hand auf die Brust. »Wirklich?«

Dad nickte eifrig.

»Vielen Dank, mein Schatz. Das ist eine wundervolle Idee«, meinte sie. »Aber da gibt es so viel vorzubereiten … Lass mich zuerst die Einkäufe verstauen, dann machen wir uns sofort an die Arbeit.«

»Aye«, erwiderte Dad. »Das brauchst du nicht. Wir stechen noch heute in See.«

»Heute?«, wiederholte Mom mit hochgezogenen Augenbrauen. »Wie soll das gehen?«

»Keine Sorge, meine Schöne. Ich habe alles schon seit Wochen geplant«, erklärte Dad.

»Seit Wochen?«, fragte Mom. »Und du hast kein Sterbenswörtchen gesagt?«

»Aye!«, bestätigte Dad stolz. »Ich wollte dich überraschen!«

Mom nickte nur. Sie schien beeindruckt zu sein. Offen gestanden war ich ebenfalls beeindruckt. Dad war nämlich nicht gerade dafür bekannt, dass er Geheimnisse gut für sich behalten konnte. An Moms letztem Geburtstag hatte er ihr sein Geburtstagsgeschenk mit den Worten überreicht: »Vielleicht ist das die hübsche Haarspange, die dir so gut gefallen hat.« Und kaum hatte er damals erfahren, dass Mom mit mir schwanger war, hatte er allen Leuten im Supermarkt lautstark verkündet, dass »es bald einen klitzekleinen Piraten« geben werde.

»Einverstanden. Aber eine Frage hätte ich noch …«, sagte Mom. »Warum ausgerechnet heute?«

»Heute ist unser zwanzigster Jahrestag.«

»Liebling«, flötete Mom. »Falls du es vergessen hast: Unser Hochzeitstag ist erst in drei Wochen.«

»Aye!«, erwiderte Dad. »Aber heute vor zwanzig Jahren habe ich mir meine allererste Überraschung für dich ausgedacht. Damals habe ich dir einen Besuch bei meiner Piratenfamilie beschert. Und du hast mich trotzdem geheiratet. Das war der schönste Tag meines Lebens. Außerdem …«, fuhr Dad fort, »halte ich es keine drei Wochen mehr aus, bis ich ein zweites Mal ›Ja, ich will‹ zu dir sagen kann. Zerbrich dir nicht den Kopf, ich habe alles vorbereitet, damit es eine wunderschöne Zeremonie wird … Wobei, natürlich kann sie nicht so wunderschön sein wie du!«

Mom errötete.

»Und unsere reizenden Kinder werden das Gelöbnis bezeugen«, fügte Dad hinzu.

In Moms Augenwinkeln glitzerten Tränen der Freude.

»Und jetzt kommt das Allerbeste …«, redete Dad weiter. »Wir werden unsere Familien abholen, damit alle gemeinsam mit uns feiern können!«

Moms Mundwinkel sackten abrupt nach unten. Sie holte tief Luft, schluckte und versuchte gequält zu lächeln, womit sie ungefähr so erfolgreich war wie Grog, wenn er versuchte, mit einem vornehmen englischen Akzent zu sprechen, sich jedoch wie ein Australier anhörte, der einen Schlag zu viel auf den Kopf abbekommen hatte.

»Oh, das ist ja reizend, mein Liebster«, säuselte sie. »Unsere beiden Familien, sagst du? Gemeinsam?«

»Aye!«, bestätigte Dad. »Das wird ein Fest!«

Mom schluckte wieder. »Hältst du das für eine gute Idee?«

»Aye, es ist sogar die allerbeste Idee.«

»Aber Schatz«, wandte Mom so diplomatisch wie möglich ein. »Ich frage mich, ob unsere Familien es einen ganzen Tag lang miteinander aushalten. Weißt du noch, als wir sie einander vorgestellt haben? Urgroßmutter Grover hat sich im Laderaum des Schiffs nicht sehr wohlgefühlt. Und dein Vater war auch nicht gerade begeistert zu hören, dass seine Augenklappe unhygienisch wäre …«

»Keine Sorge«, beruhigte sie Dad. »Zeit ist der größte Weichmacher, das sagst du doch selbst immer.«

»Gleichmacher«, verbesserte ihn Hojo. »Bestimmt meinst du Gleichmacher, Dad.«

»Aye, sag ich doch«, erwiderte Dad. »Also, was meinst du, Emily Grover-Grünbart?«

Mom blinzelte mehrmals. »Du weißt aber schon noch, warum wir damals durchgebrannt sind, oder?«, flüsterte sie wieder laut. »Weil meine Familie versuchte, mich mit diesem Langweiler Basil Hamsworth zu verheiraten.«

»Basil«, grunzte Grog. »Du solltest einen Typen heiraten, der wie ein Gemüse heißt?«