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Jürgen Kaizik

Musils Mörder

JÜRGEN KAIZIK

Musils
Mörder

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Eine Art Prolog

Garsten

Wien

Von Garsten Nach Wien

Vogtland

München

Schwarzwald

Jura

Genf

Postskript

Widmen möchte ich diese fantastisch reale Erzählung dem Andenken meiner „Doktormutter“

Prof. Dr. Marie-Louise Roth (1926–2014).

Mit Unerstützung des damaligen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky gründete sie 1970 die Robert-Musil-Forschungsstelle am Germanistischen Institut in Saarbrücken. Ihre Musil-Privatissima in der Pizzeria La Gondola wurden für uns junge Musilianer bald zur Legende. Lange Zeit war sie Präsidentin, Kopf und Herz der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft. Eine unermüdliche, begeisternde Kämpferin für das Werk Robert Musils und dessen Verständnis bei nachwachsenden Generationen.

Die Tatsachen sind überdies immer austauschbar. Mich interessiert das geistig Typische, ich möchte sagen, das Gespenstische des Geschehens.

Robert Musil im Gespräch
mit O. M. Fontana am 30. April 1926

EINE ART PROLOG

Oben lauert das Chaos. Die Schöpfung ist ein gieriges Monster, jederzeit bereit uns zu verschlingen. Das weiß ich schon lange. Zuletzt werden wir alle verschlungen sein, alle miteinander. Auf der Milchstraße geht es stetig bergab mitten ins Schwarze. Von den anderslautenden Prophezeiungen der Juristen glaube ich kein Wort mehr. Sie haben mich im verregneten Herbst anno 13 in Wien wegen Mordes an einer Frauenperson verurteilt und wenig später am Halse aufgehängt. Zwei Männer zogen an meinen Beinen bis der Tod eintrat. Laut einer anderen Version meines Schicksals wurde ich in eine Irrenanstalt gesperrt, aus der mich ein verrücktes Weibsbild in Gemeinschaft mit einem ebenso verrückten Mathematiker befreite. Das ist alles ein heilloses Durcheinander, ein höllisches Durcheinandergehämmere, in dem man seine eigenen Gedanken nicht versteht. Haben sie mich denn als Toten oder als unheilbaren Idioten zu lebenslangem Zuchthaus begnadigt? Keiner hat es mir erzählt. Zwanzig Jahre danach wurde ich entlassen. Auf Bewährung, in ein neues Dasein, das ich noch weniger verstand als mein altes. Niemals habe ich ein eigenes Leben gelebt. Alle haben sie wie wild an dem Strick gezerrt, der mir vom Halse weghing. Fremde Worte wurden mir vorgekaut, die ich nachkauen sollte. Weiber kamen, die sich lustig machten über mich oder sich an mich hängten, um mich zu verderben. So oder so. Da ist kein Unterschied. Männer wie Frauen. Frauen wie Männer. Sie reden, wie alle reden, und verstehen nicht, was sie sagen. Dafür haben sie das Jus. Das Jus ist immer auf ihrer Seite. Zur rechten Hand Gottes. Weil ich nicht rede wie sie, habe ich kein Jus. Hocke links, bei den stinkenden Böcken. Allein meine eigenen Worte gehören mir, die ihren spucke ich ihnen ins Gesicht, wie verpisstes Bier. Zum Beispiel sagen sie alle „Eichhörnchen“ zu diesen Springmäusen, die rotbraun mit buschigen Schwänzen durch die Bäume jagen, mörderisch wie die Katzen von Ast zu Ast. Aber wenn ich rufe: „Dort springt der Baumfuchs!“, dann grinsen sie. Über solche Gemeinheiten könnte ich viel erzählen, aber niemand hört mir zu. Wie alles angefangen hat, wann und warum, weiß ich nicht. Kann mich nicht erinnern. Für mich war es von Beginn an so, wie es ist. Ohne zu wissen weshalb, muss ich. Muss, weil ich da bin. Nur die anderen, alle, die wissen Bescheid und haben recht. Er auch. Er ganz besonders! Er! Er ist ein Bescheidwisser, ein Alleswisser, ein Besserwisser. Mehr noch, die Stimmen in meinem Kopf, die hörte auch er. Er war bei mir, als ich mich allein wähnte. Er schaute von oben in meinen offenen Schädel hinein und löffelte mein Leben heraus, wie man ein Ei auslöffelt. Hat alles verraten, was ihn nichts anging. Geliebt hat er mich trotzdem nicht, obwohl er doch alles von mir wusste. Hat mich nicht erlöst, sondern hat mich tiefer hineingeritten in meine Dunkelheiten. Für wen ist der Erlöser denn gekommen, wenn nicht für solche wie mich? Aber ich werde ihm keine Ruhe geben, bis ich ihn vor mir habe. Ich erhebe laute Anklage gegen alles Unrecht, das mir durch ihn widerfahren ist, und wenn er schuldig ist, werde ich ihn zwischen meinen Fäusten zerdrücken wie eine faule Kartoffel.

GARSTEN

In einer geheizten Zelle auf den Tod zu warten, war nicht das Schlimmste für jemanden wie mich. Ich habe ganz andere Sachen erlebt. Endlich führte man mich hinaus, und ich dachte, jetzt ist es so weit, jetzt trittst du ab. Gut so. Aber statt auf die Falltür wurde ich zum Direktor geschleppt. Aus seinen Augen lief die Gleichgültigkeit zu mir herüber und durch mich hindurch. Er las mir lange Sätze aus einem gesiegelten Stück Papier vor. Las wie Juristen lesen. Jedes Wort ein Stich. Jeder Absatz ein Schlag. Die Gnade des Kaisers, die mir den Strang ersparte, stülpte sich über mich wie ein Sack. Unbarmherzig wurde er zugezogen, bis mir die Luft wegblieb. Blind schlug ich um mich, tobte, brüllte, Hundert prügelnde Arme vermochten mich kaum zu bändigen. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der Pritsche. Schwarze Blutkrusten auf dem grauen Zwillich und im Gesicht. Rundum war es Nacht, nur das eine Auge in der Tür blinkte blechern auf und zu. Ich hielt still, dann schlief auch das Auge ein. Wie lange noch, dachte ich. Wie lange?

Zwei Jahrzehnte im Zuchthaus, die leben sich wie zweihundert Jahre auf dem Meeresgrund. Oder wie ein einziges. Wie eine Woche. Die Zeit dehnt und streckt sich, zieht sich wieder zusammen.

Bei Tageslicht las ich die Bibel. Der Anstaltsgeistliche hatte sie mir zu einem meiner Geburtstage geschenkt.

„Hier mein Sohn. Nimm hin und lies.“

Ich wollte aber nicht sein Sohn sein. Er sah mich nicht an, als ich widersprach. Auch die Hand reichte er mir nicht. Wann immer er kam, zeichnete er Kreuze in die Luft, als wollte er Fliegen verscheuchen. Trotzdem übte ich mich im Lesen der Bibel, auch wenn mir manche Worte in einzelne Buchstaben zerfielen, die undeutlich durcheinandersummten, bis ich einschlief. In jenen Nächten kam das Mädchen zurück. Ihre gelbe Bluse klaffte auf, als sie sich bückte, um die Erdbeeren zu pflücken. Ihr Mund roch nach roter Süße, und als ich näher kroch, da war auch ihr Hals eine rote Frucht. Von ihrem Schrei erwachte ich. So gingen ungezählte Tage dahin. Später träumte ich von leeren Wiesen, nur in der blassblauen Ferne wandelten Prozessionen von Frauen in endloser Reihe. Hinterher lag ich lange wach und wartete, lauschte auf das Brausen, das aus den Mauern kam.

Einmal sprach eine Stimme zu mir. Eine gute Stimme. Ich glaubte, dass es die Stimme meines Vaters war, den ich nie gesehen oder gehört hatte. Vielleicht war er ein Zimmermann wie ich. Mutter hatte so etwas angedeutet. Seine Stimme kam von weit oben, von dort, wo auf dem höchsten Punkt ein mit Bändern geschmücktes Bäumchen die Dachgleiche ankündigte und endlich alle sich ins Wirtshaus trollten. Dort wurde getanzt, und der Meister verteilte Münzen, jedem nach seinem Verdienst. Hinterher brauste es wieder nur in den Mauern, lange und laut, die gute Stimme blieb stumm. Als Letztes schwiegen auch die Mauern. So senkte sich eine große Ruhe auf mich nieder, als wäre ich längst gestorben und hätte es bloß nicht bemerkt. Auf diese Weise wurde ich Herr über die Zeit. Sie kuschte wie ein Hund. „Kusch!“, befahl ich nach dem Aufwachen. Stumm kauerte sie sich vor das Bett und verharrte dort, bis der Wärter das Abendbrot brachte. Anschließend schlich sie dem Wärter hinterher und blieb unsichtbar bis zum nächsten Morgen.

Was draußen an Großem geschah, in der Welt, blieb fern, funkelte nur, wie die kleinen Wellen auf einer unerreichbaren Oberfläche funkeln, wenn der Wind sein Spiel treibt und die Sonne Funken schlägt. Einmal, da war der alte Kaiser tot. Das weiß ich noch, denn es gab dann einen Fasttag für alle. Oder der große Krieg wurde verloren, das ganze Reich war in Stücke zerbrochen. Später trugen die Wärter neue Uniformen und noch einmal später traf man plötzlich bei der Essensausgabe andere Gefangene. Solche, die sich nicht mehr duckten wie wir. Solche, die viel redeten und Sprüche hersagten, von Freiheit und gleichem Recht für alle. Um den Hals trugen sie rote Tücher. Sie ballten die Fäuste und sangen Lieder. „Gerechtigkeit“, sangen sie, und: „Völker hört die Signale!“ Und die Wärter sahen zu und schwiegen, senkten ihre Augen zum schwarz geölten Fußboden und wussten nicht mehr so recht, was tun. Früher hätten sie zugeschlagen und ausgespuckt vor den Krakeelern und nicht feige zu Boden geblickt. Sie waren sich ihrer Sache nicht mehr sicher. Ich aber schrie, dass es schaurig von den Wänden hallte: „Haltet doch alle zusammen euer Maul!“

Da lachten die mit dem roten Halstuch und klopften mir auf die Schultern.

„Bist trotzdem einer von uns!“, riefen sie mir zu. Ich schüttelte sie ab. Wollte keiner von denen sein. Wollte kein rotes Tuch um den Hals tragen.

„Auf zum letzten Gefecht“, sangen sie und lachten noch lauter.

„Was unten war, muss hinauf! Und du bist einer von ganz unten! Wirst schon noch sehen, wie schön es ganz oben sein kann.“

Einer von ihnen teilte sein Brot mit mir. Da wusste ich mir keinen Rat, weil noch niemand irgendetwas mit mir geteilt hatte. Ich schwieg, aber sein Brot aß ich doch. Später wurde es wieder ruhiger. Die Roten verschwanden. Als sie dann wiederkehrten, waren sie älter geworden und mager, ihre roten Tücher hatte man ihnen genommen. Statt zu singen, flüsterten sie und die Fäuste ballten sie versteckt in den Taschen. Mit gesenkten Köpfen, wie Puppen, denen man die Stäbe aus dem Körper gezogen hatte, lauerten sie, und wussten nicht mehr worauf. Niemand teilte mit ihnen sein Brot, und die Wärter blickten wie früher über sie hinweg. Gesungen wurde nur noch am Tag des Herrn. Neue Geistliche gaben den Ton an, die alle auf die gleiche Art ihr Kreuz in die Luft pinselten. Es war mir egal. Ich war nahe daran, mich zu vergessen, mich und den, der ich einmal gewesen war. Alt war ich noch nicht, noch keine sechzig, mein Körper fühlte sich an wie eh und je, und doch schien ein fauler Friede meinen Leib zu betäuben, er machte ihn müde und weich, als hätte ich meine Kraft, meinen gewaltigen Zorn irgendwo liegen gelassen auf dem langen Weg, der hinter mir lag. Es war eine Täuschung, es war kein Friede, was in mir hochkroch, nicht einmal ein fauler, es war eine Lähmung. Verführerisch wuchs die Lust, ihr nachzugeben, verlockte mich, immer öfter länger auf der Pritsche zu liegen und meine Gedanken einzulullen in dem Gefühl des Unabänderlichen. Das Zuchthaus siegte. Meine Knochen wurden mürb und mein Wille welkte dahin.

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Vor einigen Tagen hatte man einen Gefängnisgeistlichen zu mir geschickt. Das war natürlich von vornherein kein gutes Zeichen gewesen, das wurde mir sofort klar. Er hatte den widerborstigen Trotz in meiner Haltung gespürt, denn knapp neben der Tür war er abrupt stehen geblieben, und das kleine runde Auge in ihr blieb weit offen stehen.

„Ich bringe dir eine frohe Botschaft, mein Sohn.“

Ich sagte: „Die kannst du dir behalten, deine Botschaft. Sie ist mir bekannt, hat mir bisher nichts genützt und froh ist sie schon gar nicht.“ Dazu schaute ich aus dem Fenster und zeigte ihm den Rücken. Er aber ließ nicht locker.

„Doch“, sagte er, „der Herr ist barmherzig und die irdische Gerechtigkeit ahmt ihn auf ihre Weise nach. So ist es gut und recht.“

Und dann verkündete er, dass man mich auf Bewährung entlassen würde. In drei Wochen. Die Tür ging auf und wieder zu, er war verschwunden, und mir wurde an diesem Tag die Abendmahlzeit gestrichen. Wegen schlechten Betragens gegen die Obrigkeit, obwohl ich gerade an diesem Tag brennenden Hunger hatte.

So war das also. Die Juristen hatten mich zum Tod verurteilt, der Kaiser hatte mich begnadigt, und jetzt entließ mich die neue Republik. Eine fremde Zukunft zerrte mich aus dem Zuchthaus. Was konnte sie von mir wollen? Irgendwo musste es da einen verborgenen Zusammenhang geben. Ich bemühte mich, ihn zu durchschauen, aber so sehr ich mich auch anstrengte, es blieb vergebens.

Ein paar Tage später kam ein Mann mit fahlem Gesicht und stechenden Augen hinter seiner kleinen runden Brille. Er hatte ein graues Heft bei sich, aus diesem wollte er mich unterrichten. Ich sei jetzt eine Hoffnung, teilte er mir mit. Ein kleiner Teil einer großen Hoffnung für die Zukunft unseres Landes, und ich sollte mich bemühen, diese Hoffnung nicht zu zertreten wie eine frische Pflanze, bevor sie aufblüht. Die Hoffnung hatte einen Namen: Resozialisierung. Man würde mich resozialisieren. Einordnen als nützliches Mitglied ins Volksganze.

„Haben Sie mich verstanden?“

Wenigstens sagte er nicht „Du“ zu mir. Das war schon etwas. Dann erklärte er mir die neuen Worte, die ich zu lernen hatte, um mich zurechtzufinden. Volksstaat. Pflicht. Einordnung. Christlichsozial. Nationalsozial. Ordnungsmacht. Arbeitsdienst. Zukunft.

Lange hatte ich nicht mehr an ein Morgen gedacht. Morgen und Gestern, das waren nur die zwei Seiten eines faden Heute. Mit einem Mal bekam das Wort wieder einen Klang wie ein dumpfer, ferner Paukenwirbel. Als hätte die Welt dort draußen sich bereits unbemerkt erneuert oder stand kurz davor, eine neue zu werden. Bisher war das Recht immer gegen solche wie mich gewesen, so sagte er, und von der Seite der Stärkeren ausgegangen. Jetzt gehörte es uns, dem Volk, und wir gehörten ihm.

Aus den runden Augengläsern blitzte es scharf.

Ich wusste nicht, wo es hingehen sollte, hatte keine Namen für dieses Neue. Eine dunkle Sehnsucht machte mich neugierig auf die Zukunft und ließ mich zugleich vor ihr erschaudern. Was hätte ich ihm antworten sollen? Das Leben war mir noch mehr als eine Entschädigung schuldig. Ich war bereit. „Ja“, sagte ich, „ja“.

Auch der Mann nickte mehrmals, dann verabschiedete er sich.

Das Erste, was mich erreichte, war eine kribbelnde Unruhe, vielgestaltig stieg sie von unten aus der Erde, als ob Armeen von Ameisen durch meine Füße hindurch langsam, aber unaufhaltsam nach oben und in meinen Kopf marschierten. Alles brachten sie durcheinander. Das Leben mit seinem Treiben war von allem Anfang an nichts als eine böse Störung unserer Ruhe. Genau wie dieser aufwärts wandernde Ameisenzug. Dagegen half im Grunde nur ein Mittel: der Tod. Deshalb schlagen die Menschen immer wieder aufeinander ein, ohne zu wissen weshalb. Vor dem Leben kann man sich nicht retten. Aber an dem Wort „Tod“ kauen sie alle wie an einer bitteren Wurzel. Eine bittere Medizin ist er, gegen all diese Lügen von Glück und Lust. Bitter und launisch. Mich hatte der Tod oft geflohen, genau wie damals, im letzten Moment, als ich auf die Falltür hoffte. Der Tod muss eine Frau sein. In manchen Sprachen heißt es „die Tod“. So etwas merke ich mir, es hat mir sofort gefallen. Die Tod! Man muss sie jagen, bis sie nachgibt. Erschöpft hockte ich zuletzt auf der Pritsche.

In mir wehrte sich eine anwachsende Angst vor der Freiheit dort draußen, von der ich nichts wusste, als dass sie mich und alles zerstören würde, was ich gewohnt war. Jahrzehntelang war ich jeden Tag zur gleichen Zeit aufgeweckt, gefüttert, zum Freigang geführt worden. Wie würde das in Zukunft sein? Nichts antwortete auf diese Fragen. Wie von selbst, empfindungslos, ballten sich mir die Fäuste. Bald standen meine Fingernägel im Blut, in kleinen Perlen tropfte es auf den grauen Zellenboden. Regungslos sah ich zu, wie sich die Lacke zu meinen Füßen ausbreitete. Es war wie der letzte, nutzlose Rest meines Lebens, der da hellrot und warm aus mir herausquoll.

WIEN

Hedwigs Vater besaß einen kleinen Laden, draußen in der Vorstadt, wo Läden dieser Art selten waren. Eingeklemmt zwischen einem Wirtshaus, vor dem sich an guten Tagen die Fuhrwerke der Zulieferer aus dem Umland stauten, und einem winzigen Geschäft, das ein Schuster aus dem ehemaligen Zarenreich gemietet hatte, verkaufte er Bücher. Weil er weit und breit der Einzige war, der solches tat, weil er fleißig war und jeden seiner Kunden samt deren Vorlieben persönlich beriet, kam er einigermaßen über die Runden. Nach dem frühen Tod seiner Frau, Hedwigs Mutter, verbrachte das Mädchen die Zeit zwischen Schule und Schlafengehen im Laden des Vaters und las. Der Geruch bedruckten Papiers, das trockene Rascheln der Seiten und die leisen Gespräche des Vaters mit seinen Kunden waren ihr Wald, ihre heimlichen Freunde, ihr Vogelgesang, ihre Heimat.

Als Hedwig heranwuchs, ein fahles Fräulein mit mattblonden Haaren, blieb sie immer öfter allein. Der Vater saß nun selbst in dem Wirtshaus nebenan, trank Bier und starrte in eines seiner Bücher. Als sie ihn einmal holen wollte, um den Laden zuzusperren, war sein Haupt auf die offenen Seiten gesunken, und als sie ihn zu wecken versuchte, war er tot. Sie begrub ihn, regelte die Erbschaft und war nun selbst Buchhändlerin. Etwas anderes war für sie nicht infrage gekommen.