Cover

Über Michael Rubens

© Gino DePinto

Michael Rubens hat jahrelang Produktionen für die populäre »Daily Show with Jon Stewart« geleitet, bevor er beschloss, richtig gute und richtig witzige Romane zu schreiben. Er lebt in Brooklyn und spielt Mandoline – oder versucht es zumindest …

 

 

Uwe-Michael Gutzschhahn, geboren 1952, studierte Anglistik und Germanisitk und schloss sein Studium mit der Promotion ab. Er war viele Jahre als programmverantwortlicher Verlagslektor in diversen Verlagen tätig und lebt heute als Autor, Übersetzer, Herausgeber und freier Lektor in München. Seine Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet.

Über das Buch

»Ich bin faul und ich bin ein Feigling, aber sobald ein Mädchen zuschaut, mache ich so gut wie alles.« Mit dieser Philosophie hat Austin Methune sechzehn Jahre lang sämtliche Klippen des Lebens umschifft – bis zu diesem Sommer: Austin lässt sich mit dem falschen Mädchen ein, wird von deren Freund einen halben Kopf kürzer gemacht und muss die teure Mandoline seines Stiefvaters, die dabei zu Bruch geht, in Form eines nervtötenden Jobs abbezahlen. Und seine Nachhilfelehrerin Josephine, deren nerdigen Charme Austin unerwartet reizvoll findet, cancelt gleich nach der ersten Stunde die Nachhilfe, die Austin dringend braucht, um nicht von der Schule zu fliegen.
Doch dann steht Austins bislang totgeglaubter unbekannter Vater vor der Tür – kein anderer als der bekannte Singer-Songwriter Shane Tyler. Austin pfeift auf Jobs, Nachhilfe usw. und beginnt, mit Shane Musik zu machen, und auf einmal geht es aufwärts in Austins Leben – scheinbar …

Impressum

Deutsche Erstausgabe

2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© Michael Rubens 2016

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
›The Bad Decisions Playlist‹,

2016 erschienen bei Clarion, an imprint of Houghton Mifflin
Harcourt Publishing Company, New York

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Katharina Netolitzky/dtv

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43171-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-74022-7

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423431712







Für meine Mutter,
die so großartig lachen konnte
(19442014)

Kapitel 1

I went looking for trouble / and trouble went looking for me / well me and trouble, we met in the middle / what a sight for the devil to see

 

 

Ich bin faul und ich bin ein Feigling, aber sobald ein Mädchen zuschaut, mach ich so gut wie alles.

Und im Moment schauen mal wieder etliche zu, echt gut aussehende Mädchen, vielleicht die best aussehenden Mädchen der ganzen Schule, jedenfalls nach Cheerleader-Blondinen-Maßstäben, und genau das sind sie – Alison Johnson, Kate Schwartz, Petty Nordstrom und Marcy Ueland –, und sie alle rufen meinen Namen, lachen und stacheln mich an.

Was wiederum der Grund ist, weshalb ich so etwas idiotisch Bescheuertes tue. Wie ein venezianischer Gondoliere in einem Kanu stehend, eiere ich über den Cedar Lake und paddle in schwankender Linie auf das Ufer zu, wo die vier ausgestreckt am Strand liegen wie träge Kätzchen in Bikinis.

»Haltet euch fest, Ladys!«, rufe ich ihnen entgegen. »Ich komme, um euch ein Ständchen zu bringen.« Und sie johlen und klatschen.

Boah. Was für ein schauriges Geeier plötzlich. In einem wahren Drahtseilakt schwanke ich und wirble mit den Armen, aber ich fange mich wieder, wobei ich nicht sicher bin, ob der Joint mir hilft oder die Sache noch schlimmer macht.

»Alles okay! Keine Sorge!«, verkünde ich und paddle weiter.

Wie doof kann man eigentlich sein? Ziemlich doof. Erstens liegen natürlich nicht bloß die heißen Cheerleader-Girls da, sondern die heißen Girls und vier finster blickende Schwerkaliber aus dem Hockey-Team unserer Schule, und selbst aus fünfzig Metern Entfernung sehe ich, dass sie weit weniger begeistert von meinem bevorstehenden Besuch sind als die Mädels. Ich erkenne einen aufgerissenen Karton Miller High Life und etliche leere, die im Sand herumliegen. Jeder der Hockeyspieler hat eine Dose in der Hand. Genau was die Typen brauchen, um ihre Aggression runterzufahren: Bier.

Als ich in das Kanu stieg und mich zum Aufbruch aus der kleinen, von Weiden geschützten Bucht bereit machte, wo Devon, Alex und ich das mieseste Haschisch der Welt geraucht hatten, sagte Devon: »Alter, da drüben ist Todd Malloy.«

Todd Malloy, legendärer Bully und größter Wichser der Edina Public School. Nicht annähernd der stärkste, aber mit Abstand der fieseste. So einer, der noch ein Kind mit schwerer spastischer Bewegungsstörung absichtlich umrempelt. Was er echt schon gebracht hat, hab’s selber gesehen. Und der danach noch einem Kid in die Fresse haut, das halbherzig einzugreifen versucht. Ja, das hat er getan, auch das hab ich selber gesehen. Sogar von ganz nah, weil der, der einzugreifen versuchte, war nämlich ich. Hab ein blaues Auge kassiert für meine Aktion, und dabei hat nicht mal ein Mädchen zugeschaut.

Unmittelbar bevor ich mit dem Kanu losfuhr, meinte Devon: »Was hast du vor? Willst du die Girls da drüben auf deine Playlist setzen?«

Sein Ausdruck, nicht meiner, für die Mädels, mit denen ich mal was hatte.

»Für das, was du vorhast«, meinte er, »fängst du dir voll einen Tritt in den Arsch ein.«

»Mann, wo bleibt dein Sinn für Romantik und Abenteuer?«, fragte ich ihn.

»Und wo bleibt dein Sinn für die Vermeidung von Arschtritten?«

»Lass ihn«, sagte Alex, von dem ich gedacht hatte, er würde schlafen; seine wild abstehende, blond gefärbte Punkrock-Frisur lag mitten im feuchten Sand. »Der schafft es doch gar nicht bis zu denen rüber.«

Was wahrscheinlich stimmt. Das ist Teil zwei meiner Doofheit. Jeder weiß, dass man sich in einem Kanu nicht hinstellen soll, schon gar nicht, wenn du ein kleines bisschen high bist, aber klar, so ein Kleines-bisschen-high-Sein lässt dich derartige Fakten gern mal vergessen. Ich bin kurz davor, Hals über Kopf im See zu landen, und ich bin echt kein toller Schwimmer, das heißt, die Chance ist groß, dass ich untergehe und von einem Karpfen verspeist werde.

Was vielleicht nicht mal so schlecht wäre, wenn man bedenkt, dass ich eine Mandoline über die Schulter geschlungen habe – Teil drei meiner Doofheit – und sie einen Sturz in das trübe graugrüne Wasser nicht besser überleben wird als ich. Noch dazu ist das gute Stück nicht irgendeine alte Mandoline. Es ist eine echt alte wunderschöne Vintage-Bluegrass-Mandoline. Ein echt antikes Teil.

Außerdem … gehört sie nicht wirklich mir.

Genau genommen gehört sie Rick, dem Anwalt, dem Lover meiner Mom. Er hat die Mandoline gekauft, um Mom zu zeigen, dass sie allmählich auf ihn abfärbt; dass er lernt, so zu sein wie sie: Lustig! Yeaaah! Eine Laborratte, die dankbar mit ihrem genialen Projekt weitermacht, das da heißt: wie man einen Stock aus Ricks Rektum entfernt.

»Los, Rick, lass uns Tanzstunden nehmen und Swing lernen!« – »Los, Rick, lass uns Spaß haben!« – »Los, lass uns in einem Heißluftballon fahren!« – »Komm schon, Rick, du brauchst unbedingt irgendein Hobby! Auf geht’s! Juchhu!«

Also hat er sie mit der Mandoline überrascht. Aber weißt du, wie oft er die spielt? NIE. Und weißt du auch, wie sie die wenigen Male klang, als er es doch getan hat? BESCHISSEN. Die Mandoline ist bloß ein weiteres Objekt in seiner Sammlung, so wie die teuerste Armbanduhr und der Audi TT und das Carbon-Rennrad, auf dem er, wenn’s hoch kommt, ein Mal gefahren ist. Oder der beschissene 72-Zoll-Flachbild-Fernseher aus seinem Apartment im Zentrum von Minneapolis. Das natürlich die Penthouse-Wohnung ist.

Die Mandoline hat er vor ungefähr einem halben Jahr zu einer »Übernachtung« mitgebracht – so nennt es meine Mom, wenn sie es mal wieder tun wollen –, und dann hat er sie dagelassen. Ich glaube, er wollte bloß protzen – »Schau mal, mein neues Spielzeug!« –, denn er weiß genau, wie gern ich Musik mache, Songs schreibe und so, aber außer einem schäbigen 25-Dollar-Keyboard und einer Ukulele vom Trödelmarkt besitze ich nur eine Scheißgitarre, die mein geheimnisvoller Dad mir bei seinem Tod hinterlassen hat, was vor meiner Geburt war.

Übernachtungen. Sagt doch gleich Sex. Ich bin sechzehn. Ich weiß, was läuft.

Früher hab ich Mom ständig nach meinem richtigen Dad gefragt: »Wer war er?« – »Was hat er gemacht?« – »Wie war er?« Sie hat jedes Mal abgelenkt, wieder und wieder, bis sie irgendwann beim Abendessen explodiert ist, die Gabel auf den Teller geknallt hat und schrie: »Er war ein Arschloch, okay?«

Da war ich sechs. Es war das letzte Mal, dass ich gefragt hab.

Egal. Also die Mandoline. Rick lässt sie bei meiner Mom, aber gleichzeitig sagt er mir, dass ich sie ja nicht anrühren soll. Als wenn er mich verhöhnen will. Genau genommen sagt er zu meiner Mom, sie soll es mir erklären: »Schätzchen, Richard wär’s lieber, wenn du die Mandoline nur in seiner Gegenwart anrührst, damit er ein Auge drauf haben kann.«

Ihr müsst wissen, dass diese Mandoline unglaublich schön klingt. Nicht einfach pling-pling und nervig, sondern voll und warm, wunderbar, wie Tabak und Honig unter den leuchtenden Sternen in einer Sommernacht.

Es war eine Schande, fand ich, so etwas Wunderbares stumm in einem Gitarrenkoffer gefangen zu halten, deshalb nahm ich die Mandoline immer wieder heraus, suchte im Netz nach Songs und übte, übte, übte, während meine Mom im Schönheitssalon für zwölf Dollar die Stunde den reichen Ladys von Edina ihre Nägel machte. Ich bin eigentlich eine totale Null, und zwar in, sagen wir … allem. Ganz allgemein. Das Einzige, was ich kann, ist singen. Und ein paar Instrumente spielen. Auf der Gitarre und der Ukulele bin ich echt gut, auch am Keyboard bin ich nicht allzu schlecht, und ich bin zwar kein Chris Thile, aber zumindest spiele ich diese wundervolle Mandoline.

Das heißt, vorhin, als Devon in seinem altersschwachen Subaru herübergeklappert kam und fragte, ob ich Lust hätte, mit an den See zu fahren und ein Kanu zu mieten, sagte ich: »Warte kurz, ich muss nur schnell noch was holen.«

Doofheit, nimm deinen Lauf.

 

Was ich sonst an bescheuerten Sachen für Mädchen gemacht habe?

In der Dritten bin ich auf dem Schulhof oben über das Klettergerüst balanciert, weil Martha Meinke geguckt hat. Ich hab sie erst mit einem kleinen Tanz unterhalten, den ich mitten auf dem Gerüst hinlegte, und danach mit meinem Sturz, bei dem ich mir den Arm brach.

Für Danica Morgan hab ich einen Zahn eingebüßt und mir eine Gehirnerschütterung eingehandelt bei etwas, das mit einem Steilhang, einem Schlitten, einem Sprung und einer Eiche zu tun hatte.

Kelly Harmon hab ich auf eine Spritztour um den Häuserblock mitgenommen, was zwar mit null Schäden für Fahrzeug und Insassen endete, mir aber trotzdem Ärger eintrug, weil ich damals gerade mal dreizehn war. Zwei Wochen Hausarrest, kein Fernsehen, keine gezuckerten Cornflakes, keine Comics, kein Internet, doch das war es wert für den Kuss, den ich ergatterte.

Später wurden die Sachen komplexer.

Für Samantha Wu fing ich mit dem Laufen an. Es hielt drei Tage und endete mit einer Runde Kotzen.

Ich wählte Spanisch, weil Annie Narcisse beiläufig erwähnte, sie würde gern wissen, was The Clash im Hintergrund von Should I Stay or Should I Go singen. Das Ganze dauerte ein halbes Jahr und endete mit einer 4-.

Es gab eine kurze und echt schaurige Episode, deren Details ich hier lieber nicht erwähne, bei der ich mich für Jennifer Vikmanis irgendeiner bibeltreuen Kirchensekte anschloss.

Für Gretchen Olson fing ich an zu rauchen, für Abby Winter versuchte ich, es mir wieder abzugewöhnen. Für Jessica Clift begann ich zu wandern, für Elizabeth Kovner machte ich einen auf Occupy, für Lara Denton einen auf Astronomie (lange Nächte und jede Menge unanständige Sachen unter dem Sternenhimmel). Am Unterarm habe ich immer noch einen unschönen Tintenklecks von einem nicht vollendeten selbst gemachten Tattoo für Erin Baltimore.

Sonst noch was?

Ja, richtig, das Einzige, wofür ich mich wirklich schäme: Für Hayley Benson hab ich mal mehrere Monate lang so getan, als würde ich auf House-Musik stehen.

Und nun das heutige Abenteuer.

»Sind die Damen bereit für etwas wahrhaft Großartiges?«

»Wir sind bereit!«

»Absolut!«

Weiteres Gejubel und Gejohle. Weitere finstere Blicke vom nicht-weiblichen Geschlecht. Ich bin inzwischen zwanzig Meter vom Ufer entfernt.

Hab ich erwähnt, dass ich, abgesehen von all meiner sonstigen Doofheit, eigentlich überhaupt nicht hier sein dürfte? Denn so ist es. Eigentlich sollte ich gerade mit meinem Sommerferienkurs beginnen. Mathe. Ich hab ziemliche Probleme mit Mathe, und die muss ich in den Griff kriegen, sonst kann ich die Elfte wiederholen. Das heißt, Montagmorgen ist für den Ferienkurs reserviert. Aber das Wetter ist heute Morgen so toll, und ich denk mir, ich kann genauso gut nächste Woche da aufkreuzen und carpe diem, yolo. Zehn Meter. Todd Malloy setzt sich jetzt auf und starrt mich an. Seine Irritation betont er durch den komplizierten Rhythmus, den er mit einer Hand auf seinen Schenkel und mit der andern auf Alisons unglaublichen Hintern trommelt. Unbegreiflich, dass einer wie Todd Malloy ein begabter Drummer ist. Besser gesagt, er war es. Früher hat er in der Schulband gespielt, und obwohl er erst dreizehn war, haben ihn die aus der Oberstufe bei Schulkonzerten immer die Drums spielen lassen. Du denkst, dann müssten wir doch verwandte Seelen sein? Von wegen. Irgendwann begab sich Todd auf die dunkle Seite und wurde Sportler. Und auf meiner Schule spielen Sportler kein Instrument, sondern verprügeln Leute, die eines spielen.

Meine Fahrt endet in unerwarteter Sicherheit. Ich springe in knietiefes Wasser und ziehe das Kanu auf den Sandstrand.

»Seid gegrüßt, Ladys!« Verbeugungen und verschnörkelte Handbewegungen wie ein französischer Aristokrat. Die Mädchen applaudieren. »Ich bin gekommen, um euch zu unterhalten! Und auch euch, meine Herren!«

Alison, die Schönste von allen, sagt: »Hi, Austin!«

Todd Malloy sagt: »Hey, du Arschloch, verpiss dich.«

»Todd«, sagt Alison und gibt ihm einen Klaps. »Mach schon, Austin, spiel uns was vor. Lass uns ein Lied hören!« Sie klatscht extralaut in die Hände.

»Ein Lied hören?«, sagt Todd. »Der rennt gleich weg und macht sich in die Hose.«

»Okay«, sage ich. »Nur um das klarzustellen: Ich hab mir nicht in die Hose gemacht. Irgendwelche Musikwünsche?«

»Ja, aber du hast dich wie ein Schlappschwanz verdrückt, stimmt’s?«

»Dafür gab es eindeutige Gründe.«

»Klar, zum Beispiel, dass du ein eindeutiger Schlappschwanz bist.«

Ich erklär den Dialog später, okay? Die Sache ist fürchterlich peinlich, und im Moment bin ich angenehm zugedröhnt und es sind Mädels da, also vertagen wir das einfach, in Ordnung? Danke.

»Nun ja, zu der Zeit hatte ich auch nicht so ein wunderbares Publikum«, antworte ich. Ehrlich, ich erklär es ganz bald. »Also, irgendwelche Musikwünsche?«

»Wie wär’s mit verpiss dich?«, schlägt Todd vor.

»Super Song, aber nicht für ein gemischtes Publikum!«, sage ich keck. Und dann mit schnulziger Barsänger-Stimme, den Blick direkt auf Alison gerichtet: »Wie wär’s mit einem speziellen Lied für eine spezielle Dame?« Sie lächelt zurück. »Zum Beispiel ein echter Oldie-but-Goodie von Elvis Costello. Kennt den einer von euch? Elvis Costello? Nein? Okay. Der Song heißt …« Theatralische Pause. Schlitzohriges Slo-Mo-Blinzeln zu Alison: »›Alison‹

»Ohhhhhhhh!«, rufen sämtliche Mädchen.

»Arschloch. Wenn du nicht sofort die Fliege machst, schlag ich dir deine scheiß Ukulele über deinen scheiß dämlichen Schädel«, sagt Todd.

»Nein, tust du nicht«, antworte ich im immer noch gleichen fröhlichen Tonfall. »Denn das ist keine Ukulele. Das ist eine Mandoline!« Die Mädchen kichern. Ich spiele einen Akkord. »Ist das nicht ein fantastischer Klang?«

Todd steht auf. Ich habe nicht das Gefühl, dass er die zarten Töne zu schätzen weiß, die diese Mandoline erzeugt.

»Ich warne dich«, sagt er.

Todd trägt ein T-Shirt mit dem Slogan »DRAUFHAUEN LÖST ALLE PROBLEME«.

»Todd!«, sagt Alison. »Fang an – spiel«, sagt sie zu mir.

»Danke.«

Ich fange an zu spielen und singe die erste Zeile.

»Ohhhh!«, sagen wieder sämtliche Mädchen.

GRRRK!!! Das ist das Geräusch, das die Mandoline macht, als Todd sich auf mich stürzt, eine Hand um den Hals des Instruments krallt und ihn stranguliert.

»Hey, hey, hey! Ich bin doch noch nicht mal beim Refrain, dem Teil, wo ich singe: ›Aaaaaaaalison …‹«

»Todd, hör auf damit!«, sagt Alison.

Todd zerrt gewaltsam an der Mandoline, reißt sie mir aus den Händen und der Gurt fliegt unten aus der Halterung. »Äh … könnte ich die bitte zurück haben?«

»Ich hab dich gewarnt!«, sagt Todd.

Schlau wäre es, an dieser Stelle mit Todesangst zu reagieren. Aber nein. Ich bin bekifft, ich bin sauer auf Todd, die ganzen Mädchen schauen zu und ich spüre, wie mein Puls steigt und ich anfange, wie irre zu grinsen.

»Ich sag dir was«, erkläre ich ihm. »Wenn du sie nicht sofort loslässt, sing ich den Song a cappella zu Ende.«

»Glaubst du, ich bluffe?«

»Oh, Aaaaaaaalisooo–«

WHÄÄÄKRKKKK!

Das wird eine sehr unangenehme Unterhaltung mit Rick.

Kapitel 2

I didn’t crash and burn / I was on fire before the impact / finished the third before the first act / made sure to lose the battle / before they attacked me

 

 

Ich habe all diese Musik im Kopf.

Ich höre sie meistens nachts. Es ist nicht so, dass ich sie aufschreibe oder bei vollem Bewusstsein höre. Ich liege da, höre sie begeistert, Töne und süße Klänge, die erfreuen und niemals schmerzen, die tausend schwirrenden Instrumente, die bei Shakespeare in Calibans Ohren summen, sodass er sich beim Aufwachen weinend wünscht, wieder zu träumen. Ich würde die Musik gern einfangen, doch sobald ich’s versuche, ist es, als würde ich eine Wolke umarmen.

Manchmal passiert es auch tagsüber. Als ich jünger war, erstarrte ich dann jedes Mal – den Blick ganz woanders und das Gesicht schlaff, während ich die Melodie hörte. Meine Mom schleppte mich zu allen möglichen Spezialisten, um feststellen zu lassen, ob ich vielleicht krankhafte Anfälle hätte, aber die Ärzte konnten nichts finden.

In meinem Kopf sind auch Worte.

Jede Menge Worte, Songtexte, die aus dem Nichts zu mir kommen, ein unendlicher Fluss an Worten, die aus mir herauspurzeln, die ich auf irgendwelche Zettel notiere oder schnell in mein Handy tippe. Und jeder neue Schnipsel eines Songtexts drängt sich in den Vordergrund, bevor ich die Chance habe, den vorigen fertig zu schreiben.

Devon nennt mich deswegen »Halbsong-Austin«.

»Vielleicht solltest du dich mal auf einen konzentrieren«, schlägt er mir vor.

»Oder montier einfach ein paar zusammen«, sagt Alex, »dann hast du, sagen wir, zehn super Songs, mit denen du auftreten kannst.«

»Auftreten?«, kontert Devon. »Austin schafft es doch noch nicht mal bis auf die Bühne.«

Wohl wahr.

Ich habe so eine Art geistige Blockade. Sobald mehr als, sagen wir, ein Dutzend Leute vor mir stehen, werden sie zu einem Publikum, und plötzlich geht gar nichts mehr. Ich schaff’s nicht. Es gibt einfach jedes Mal … ein Problem. Irgendetwas passiert. Irgendwie hab ich es jedes einzelne Mal geschafft, den Auftritt zu vermasseln oder ohnmächtig zu werden, sobald ich vor echtem Publikum spielen sollte:

»Waren alles ehrliche Fehler«, sag ich zu Devon.

»Na, dann«, antwortet er.

Ehrlich oder nicht, sie sind nichts im Vergleich zu meinem wahren Meisterstück. Was mich zu der Erklärung bringt, die ich vorhin versprochen habe.

Jennifer Donaldson sang im Chor und ich wollte sie beeindrucken. Würdest du auch wollen, wenn du sie sähest. Deshalb sang ich dort vor. Eine Woche später hab ich mich allerdings wieder vom Unterricht verabschiedet, weil … also ehrlich? Die Carmina Burana? Aber Mr Peterson, der Chorleiter, hat immer wieder versucht, mich zurückzuholen. »Unsere Tür steht jedem offen, Austin!«

Dann, vor ein paar Wochen: Es ist spätnachmittags am Tag des großen Konzerts zum Schuljahrsende. Der Junge, der das Solo von Leonard Cohens Hallelujah singen soll, kriegt eine Magengrippe. Panischer Anruf von Mr Peterson: »Austin! Wir haben ein Problem! Kennst du den Song? Echt?! Ich überschreite damit zwar die Regeln, denn du bist ja kein Chormitglied, aber …«

Ich lehne ab. Er kontert mit Versprechungen für eine Sonderzahlung. Meine Mutter mischt sich ein, macht Druck. Ich verzieh mich in mein Zimmer, um illegale Substanzen zu konsumieren. Einschätzung geändert, falsche Entscheidung getroffen.

Das Konzert fängt praktisch an, als ich hinkomme. Keine Zeit zum Proben, nur schnell ein paar kurze Anweisungen. Mr Peterson packt mich an beiden Schultern und sagt: »Austin, danke

Fünf Songs, dann ist es so weit. Die Band legt los. Der Chor steht auf der Bühne, stimmt sich ein. Der ausverkaufte Saal verstummt in freudiger Erwartung. Das ist der Moment, in dem Austin Methune von der Seite ans Mikro treten soll, auf das der Scheinwerfer gerichtet ist, um dann mit der Klarheit seines Gesangs alle Herzen zu brechen.

Nur dass Austin Methune sich nicht materialisiert. Er ist anderweitig beschäftigt, und zwar mit einer Zwölftklässlerin namens Emily Sanoh in der Requisitenkammer, und hat jedes Zeitgefühl verloren.

Was mir in dem perversen Punktesystem einer Highschool doch sicher den Heldenstatus einbringen müsste, denkst du vielleicht. Nur dass ich es leider nicht glaubhaft beweisen konnte, denn Emily hatte vorher klargemacht: Wenn ich irgendjemand davon erzählte, würde a) sie die Geschichte leugnen und mich wie einen peinlichen Lügner aussehen lassen und b) ihr Freund meine Lebenserwartung auf die Zeit verkürzen, die es brauchte, bis seine Faust in meinem Gesicht landete. Ich konnte es nicht mal Devon oder Alex erzählen, denn jeder Eid von ihnen, auf ewig zu schweigen, würde maximal eine Stunde halten. Deshalb bestand die offizielle Version mal wieder darin, ich hätte mich klammheimlich verdrückt, was so demütigend, lähmend und Oh mein Gott war, dass ich es kaum ertrage, wenn ich nur daran denke. Und ich kann mir noch so oft sagen, dass es mildernde Umstände gab, dass ich mich nicht wie ein Schlappschwanz verdrückt hatte, wie Todd es brutal nennt, aber …

Ich hab mich verdrückt wie ein Schlappschwanz.

Die reine Selbstsabotage.

Das heißt, wenn ich sage, ich mache alles, sobald ein Mädchen zuschaut, dann ist das auch so.

Bis auf die eine Sache, zu der ich wirklich, ganz ehrlich, wirklich gern in der Lage wäre.

»Vielleicht«, meinte Alex, »brauchst du ja nur die richtige Frau, die zuschaut.«

Devon sagt: »Halbsong, du bringst einfach nichts zu Ende und du schaffst es noch nicht mal, aufzutreten. Du stellst ja noch nicht mal was ins Netz …«

»Hast du die fiesen Kommentare gesehen, die die Leute da schreiben?«

»Gut, ja. Egal. Wie aber soll dein Großer Geheimer Plan funktionieren?«

Mein Großer Geheimer Plan: Sobald ich meinen Highschool-Abschluss in der Tasche hab, verschwinde ich nach New York, werde ein bedeutender Singer-Songwriter wie Jeff Tweedy, Rhett Miller oder Shane Tyler und schreibe Songs, die den Leuten echt was sagen. Ich werde berühmt und erfolgreich werden und diese ferne Galaxie bewohnen, auf der sich solche Leute befinden, befreit von den erstickenden Kräften der Schwerkraft, die jeden herunterzieht in diese Eintönigkeit, diese Trauer, dies Scheitern. Ich werde frei sein auf eine Weise, wie es fast niemandem vergönnt ist.

Ich muss diesen Plan nur noch meiner Mom beibringen.

Ich liebe sie und sie ist wunderbar, aber heilige Scheiße, kann meine Mom launisch sein. Zum Beispiel findet sie es toll, wenn ich ihr alte Songs vorsinge oder alberne Verse dichte und ihr vorspiele, doch dann, urplötzlich, wird sie traurig und sagt: »Okay, es reicht.« Das eine Mal, als ich den Gedanken lancierte, dass ich vielleicht nicht aufs College gehen würde – wozu denn auch? –, packte sie mich, schnappte mir die Gitarre weg und meinte: »Wenn du das noch einmal zu mir sagst, schlag ich dir die Scheiße aus dem Leib.«

Und ich glaube ihr. Vor drei Wochen hörte ich Shane Tylers Good Fun From a Safe Distance-CD – so was Verstaubtes und Unberührtes aus ihrer Sammlung –, da schrie sie mich plötzlich an, ich solle das abstellen. Sie kam nach unten gestampft, riss die CD aus dem Player und verschwand damit. Danach hörte ich einen schrecklichen Lärm wie von zehn Autos, die ineinanderkrachen, ein Aufheulen knirschender, krächzender, jaulender Gänge – das Geräusch, das ein Müllzerkleinerer macht, wenn ihm eine CD zwischen die Häckselmesser geschoben wird.

Sie ist eben launisch.

Krankhaft launisch. Verdammt, ich will doch einfach Musik hören, verstehst du?

 

Also die Musik.

Als Todd mich mit der Mandoline trifft, explodiert die Musik in meinem Schädel wie ein kosmisches Orchester samt Chor, die sich einstimmen, oder Feuerwerkskörper, die hinter meinen Augenlidern platzen. Irgendwo jenseits dieses kakofonischen Lärms höre ich jemanden sagen: »Oje!«, und ich taumle zurück, perplex. Meine Hand fährt nach oben, das Orchester verstummt, meine Sehfähigkeit kehrt zurück, als ich mein Hirn entwirre und rekonstruiere, was gerade passiert ist. Hat er mich wirklich geschlagen? In diesem Moment sehe ich die zerstörte Mandoline im Sand liegen, verkehrt herum wie ein Schwan mit gebrochenem Rückgrat. Und ich flüstere: »O, Scheiße.«

Ich sinke auf die Knie, starre die Mandoline stumpfsinnig an und nehme mit unscharfem Blick alle andern wahr, die ebenfalls sagen: O, Scheiße! Überrascht und bestürzt im Fall der Cheerleader, hellauf begeistert die Hockeyspieler, die hämisch lachen und sich abklatschen. Alison sagt: »Todd! Todd!« und schlägt auf ihn ein.

»Verdammt, ich hab ihn gewarnt!«, sagt er immer wieder. »Ich hab dich gewarnt!« Als ob das eine Erklärung wäre, wieso er mir einen über den Schädel gezogen hat. Ich hebe die demolierte Mandoline hoch, wische vorsichtig den Sand ab und es fällt mir nur der eine Satz ein: »Mann, das ist so uncool, das ist echt so uncool«, wieder und immer wieder sage ich ihn, und ich denke, die Mehrheit der vernunftgesteuerten Menschen würde mir zustimmen. Nicht allerdings die Hockeyspieler – die finden eindeutig, dass es total cool ist, so ziemlich das Coolste und Lustigste, was sie jemals erlebt haben.

Auf der Haben-Seite steht, dass die Cheerleader sich zu einem turtelnden, beschützenden Kokon um mich scharen, mich bemuttern, schauen, ob mit mir alles in Ordnung ist und sich ab und zu unterbrechen, um einen schrillen Tadel an die Sportskanonen zu richten. Alison verhält sich besonders beflissen, was natürlich mega ist.

»Austin, bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist? Du Armer. TODD, DU BIST SO EIN ARSCHLOCH! Oje, du Armer, du blutest ja!«

Ihre Sorge um mich macht Todd natürlich nur noch wütender. »Methune, du verpisst dich jetzt besser mit deinem verfickten scheiß Banjo, oder ich schlag gleich noch mal zu.«

»TODD, HALT DIE KLAPPE, DU WICHSER! ICH WARNE DICH, WENN DU IHM NUR EIN HAAR KRÜMMST … Lass mich mal deinen Kopf anschauen, du Armer.«

Ich mache das mit meinen Wunden natürlich ein bisschen schlimmer, als es ist, und genieße ihr Hätscheln, und ja, vermutlich treibe ich es ein bisschen zu weit, besonders als ich cool wie Benedict Cumberbatch zu Alison sage: »Mein Gott, du bist absolut großartig« und ihr meine Liebe gestehe (wieder machen alle Mädchen: Ohh!). Auch möglich, dass ich ihr meine Telefonnummer nenne und sie mehrfach bitte, mich mal anzurufen. Was natürlich zu weiteren Remplern und Stößen führt, mit mir als dem, der sie einsteckt, was wiederum Alison dazu bringt, Todd anzuschreien: »ZWISCHEN UNS IST ES AUS, KAPIERT

Wumm. Dramatisches, verblüfftes Schweigen. O-mein-Gott-Gesichter mit offen stehenden Mündern aufseiten der Cheerleader. Und Todd, der jetzt taumelt, als hätte er einen über die Birne gekriegt. Das totale Realityshow-Highlight.

Dann wenden sich alle mir zu, als ihnen simultan klar wird: Todd abservieren bedeutet, dass Alison jetzt null Druckmittel mehr gegen ihn und sein Verhalten hat. Was so viel heißt wie: Auch ich hab jetzt null Druckmittel mehr gegen ihn. Was bedeutet: Zeit für den Abmarsch. Und zwar sofort.

Ich sprinte zum Kanu, schieb es ins Wasser, in der einen Hand die zerstörte Mandoline, die ich in die zwei Zentimeter hohe Lake werfe, und stürze der Länge nach hinterher. Die unbeholfene Peinlichkeit in Person, mit angeschlagenen Gliedern und Zehen, als ich versuche, mich aufzurichten und endlich verzweifelt loszupaddeln. Todd und seine Kumpane bewerfen mich mit Batzen von nassem Sand, Ästen und zuletzt mit einer halb vollen Bierdose, die nur um wenige Millimeter an meinem ohnehin verletzten Schädel vorbeifliegt.

Als ich weit genug vom Ufer entfernt bin, schrei ich zu Alison rüber: »Ruf mich an! Ich liebe dich!« und ducke mich vor der nächsten Dose Miller High Life.

 

Devon und Alex warten schon, als ich in die Bucht zurückkomme, waten mir entgegen, um das Kanu ans Ufer zu ziehen, und murmeln »Heilige Scheiße!«, als sie die zertrümmerte Mandoline sehen und das Blut, das mir aus der Wunde nahe dem Haaransatz übers Gesicht rinnt.

»Hey, verdammt, Mann«, sagt Devon. »Ich hab’s dir doch gesagt …«

Ich hebe die Hand und bring ihn zum Schweigen.

»Na toll«, sagt Alex. »Er hat einen neuen Song.«

Genau. Und ich singe ihnen den Schnipsel vor, an dem ich gewerkelt habe, während ich mit dem Kanu zu ihnen zurückgefahren bin:

I crossed the night-black waters

the dark and angry sea

to tell you that I loved you

and ask if you loved me.

Devon meint: »Ja klar, und dann haben sie dir einen Arschtritt verpasst.«

 

Ich fahre in Devons Auto nach Hause und Devon pinkelt mich an, dass er keinen Bock hat, sich noch länger mit mir und meinem Scheiß abzugeben, dass ich unseren Nachmittag ruiniert habe und dass ich nie für das Gras bezahle oder für das Blut, das von mir auf seinen Sitz tropft. Und er fügt hinzu: »Eines versteh ich nicht, Halbsong-Austin. Du fährst da rüber, um diesen Girlies ein Ständchen zu bringen, obwohl du wusstest, dass man dich dort zerfleischen wird. Aber auf eine Bühne gehen und auftreten, das kriegst du nicht hin. Du bist so ein Loser.«

»Ist ja schon gut«, antworte ich. »Du musst mich nicht aufmuntern.«

Und dann: »Was mach ich jetzt mit der Mandoline?«

»Lass sie verschwinden«, sagt Devon. »Falls und wenn sie irgendwann merken, dass das Teil weg ist, stellst du dich dumm und sagst, vielleicht hat sie ja jemand geklaut. Beweisen können sie dir nichts.«

»Täusch einen Unfall vor«, kontert Alex. »Fall mit dem Ding die Treppe runter, tu so, als wenn du verletzt wärst. Versuch, ihr Mitleid zu gewinnen.«

»Ich könnte auch einfach die Wahrheit sagen«, schlage ich vor.

»Klar.«

»Könntest du. Du könntest natürlich die Wahrheit sagen.«

Schweigen, während wir alle über die Möglichkeiten nachdenken.

»Unfall vortäuschen?«, frage ich.

»Unfall vortäuschen«, stimmen sie zu.

Rick wird irgendwann nächste Woche kommen, nehme ich an. Und ich werde anbieten, die Mandoline zu holen, und dann knirsch krach bumm fall ich die Treppe runter und O nein! Was hab ich getan!

Wird schon schiefgehen.

Zu Hause leg ich die Mandoline ab und fahre mit meinem nicht allzu vertrauenerweckenden Motorrad zum Großmarkt, um meine Schicht als Lebensmittel-Verpackungstechniker – Papier oder Plastik? – runterzureißen und während der Arbeit ein bisschen Farbe und Details in die Geschichte zu zaubern. Auf dem Weg nach Hause gebe ich dem Ganzen noch seinen letzten Schliff, laufe die Auffahrt hoch zur Haustür und …

Meine Mom und Rick sitzen auf dem braunen Sofa im Wohnzimmer und die Mandoline liegt vor ihnen auf dem Couchtisch.

»Austin«, sagt Rick. »Kann ich mal mit dir reden?«

Wie ich schon sagte, das wird eine sehr ungemütliche Unterhaltung.

 

»Wenn ich noch Staatsanwalt im Justizministerium wäre, würde ich das Gericht anrufen und feststellen: ›Angesichts des Wertes, den dieses Musikinstrument besitzt, könnte man leicht argumentieren, dass die Handlungen einen schweren Diebstahl darstellen.‹«

»O mein Gott, Rick«, sagt meine Mom.

Die Unterhaltung ist weitaus schlimmer, als ich mir ausgemalt habe.

Wir sitzen im Wohnzimmer, Mom und Rick nebeneinander auf dem Sofa und ich im Sessel. Auf dem niedrigen Couchtisch vor uns liegt Beweisstück A, eine Vintage Mandoline von Gibson mit ihrer zierlich gewölbten Rückseite, die eingedrückt und zerstört ist, wobei die Delle ihrer gesplitterten Wunde mehr oder weniger die Form meines Schädels abbildet. Unterstützendes Beweismaterial: das große Pflaster an meiner Stirn.

»Rick«, sagt meine Mom. »Austin wird dir die Mandoline ersetzen.« Sie senkt ihren Zeigefinger auf mich. »Du zahlst sie Rick zurück, Freundchen!«

Rick wedelt mit der Hand und verscheucht den Gedanken.

»Nein, er wird sie dir zurückzahlen«, beharrt Mom.

»Ich zahl sie dir zurück«, sage ich kleinlaut und fürchte mich schon vor den Wochen, die ich werde Lebensmittel verpacken müssen, um … wie viel zu verdienen? Mehrere hundert Dollar?

»Ich bezweifle, dass er das schafft«, sagt Rick. »Es sei denn, er hat irgendwo circa viertausend Dollar herumliegen.«

Heilige Scheiiiiii …

»O mein Gott«, sagt meine Mom wieder.

 

Was sollte ich machen? Die Mandoline war noch feucht und voller Sand, deshalb erzählte ich ihnen die Wahrheit von wegen, dass ich sie ausgeborgt hätte, um in idyllischer Umgebung Songs zu spielen. Natürlich sagte ich ihnen nichts davon, dass Todd mit meinem Kopf Hau-drauf gespielt hatte. Ich bin gestolpert, hingefallen, ein Stein war im Weg, Schluss, aus. Dachtest du, ich verpfeife Todd? Damit in der Schule rumgeht, dass ich ihn angeschwärzt hab? Niemals. Ich sitze auch so schon tief genug in der Tinte.

»Austin«, sagt Rick und wechselt in seinen langsamen, bedächtigen Redestil, in den er verfällt, wenn er signalisieren will, dass irgendwas Wichtiges kommt: »Ich wäre. Unaufrichtig. Wenn ich nicht. Meiner. Tiefen Enttäuschung. Ausdruck verleihen würde.«

Er sieht mich nicht an, als er das sagt, sondern richtet seine Missbilligung an einen fixen Punkt irgendwo auf der Tischplatte vor ihm. Seine Finger liegen dicht aneinander und er streckt die Hände nach vorn, um jede Hauptsilbe zu betonen. Erst nachdem er das Wort Enttäuschung ausgesprochen hat, hebt er den Blick und starrt mir in die Augen, damit ich das ganze Gewicht seines Vorwurfs spüre.

Ich senke den Blick. In diesem Moment hasse ich ihn. Hasse ihn einfach. Ich hasse diesen Mann mit den blonden Haaren und der Designerbrille, mit den Golfhemden, den Schuhen von Prada und mit seinen zweiundvierzig Jahren, den sieben Jahren, die er älter ist als meine Mom. Ich hasse ihn umso mehr, als ich ihm eine weitere Gelegenheit verschafft habe, Elternteil zu spielen, dieses gruselige schleichende Muster, das an Häufigkeit zunimmt, seit er vor einem Jahr auf der Bildfläche erschien. Rick, der anbietet, mit mir ins Museum zu gehen oder ins Kino oder zu einem Konzert. Rick, der mir zum Geburtstag Geschenke kauft. Rick, der meine Songs hören will. Rick, der mir Ratschläge fürs Leben gibt. »Rick glaubt eindeutig, dass du was Besonderes bist«, sagt meine Mom. »Er hält dich für großartig. Er liebt dich wirklich.« Und weißt du was? Ich hasse ihn.

Ich weiß, was ich sagen müsste, aber ich kann nicht.

Meine Mom tritt mir gegen das rechte Schienbein.

»Äh, tut mir leid«, brumme ich vor mich hin.

»Was?«, fragt meine Mom.

»Es tut mir leid«, wiederhole ich.

Keiner rührt sich. Dann sagt sie: »Rick, könnten wir …?«

Ich schaue nicht hoch, um zu erfahren, was sie meint, doch ich höre, wie er vom Sofa aufsteht, und beobachte, wie seine Füße und Beine mit großen Schritten mein Blickfeld verlassen. Ich höre, wie er links an mir vorbei durch die Wohnzimmertür auf die Veranda tritt.

»Austin«, sagt meine Mutter. »Austin, sieh mich an.«

Ich schaue hoch und spüre, wie ich rot werde und mein Herz pocht.

»Austin, ich habe erfahren, dass du heute nicht im Ferienkurs warst.«

»Ja«, flüstere ich heiser. »Tut mir leid.«

Sie nickt. Dann greift sie hinüber zu dem großformatigen Buch, das vor ihr auf dem Kaffeetisch liegt, hebt den Deckel an und zieht eine Hochglanzbroschüre darunter hervor. Wortlos legt sie sie so vor mich hin, dass mich das Ding von der Tischplatte anstarrt.

MARYMOUNT ACADEMY, lese ich.

Das Coverfoto zeigt Jungen in meinem Alter, die, in Uniform aufgereiht, steif vor einer photogeshopten amerikanischen Flagge stehen.

Mit offenem Mund starre ich meine Mom an.

»Ich habe mich schon mit den Leuten in Verbindung gesetzt«, sagt sie. »Sie vergeben Stipendien. Erinnerst du dich an deinen Cousin Eddie?«

Der legendäre Eddie, laut Überlieferung in unserer Zwei-Personen-Familie dafür berüchtigt, im zarten Alter von fünfzehn den Überfall auf einen Tante-Emma-Laden begangen zu haben. Ich starre weiter.

»Er ist dort hingegangen. Er war sogar ein noch größerer kleiner Mistkerl als du – obwohl du es langsam gut mit ihm aufnehmen kannst – und es hat ihm sichtlich den Kopf zurechtgerückt.«

»Mom«, sage ich schließlich. »Mom, das kannst du nicht machen.«

»Doch, das kann ich«, antwortet sie. »Ich kann’s und ich werde es. Jede Wette, Austin«, sagt sie und senkt ihre Stimme zu einem Flüstern. »Ich liebe dich, aber du machst mir Angst. Du musst deinen Ferienkurs zu Ende machen. Du musst deinen Abschluss schaffen. Du musst erwachsen werden. Du musst es. Und deshalb wirst du da hingehen. Austin, ich kann einfach nicht … ich … wirklich …«

Ich sehe es kommen und zucke zusammen, wappne mich, und auf einmal ist es so weit, der Punkt ist gekommen, an dem sie zusammenbricht, an dem die Tränen hochschießen und ihre Sätze sich in Unordnung und Zusammenhanglosigkeit auflösen: »… verliere vielleicht meine Arbeit … will das mit Richard nicht zerstören … schaff das nicht … kann nicht …«

Verstehst du, wie eine Mom dein bester Kumpel sein kann, verrückt, lustig und lebenslustig, eine Mom, die dich zu einer Fahrt im Heißluftballon mitnimmt oder zum Polka-Tanzen und genau mit diesem Temperament einen wie Rick anzieht, die aber trotzdem auch so anders sein kann – so zerbrechlich.

Es macht mich fertig, wenn sie so reagiert. Das ist viel schlimmer als ihre Drohung, mich auf eine Militärschule zu schicken. Sie kann mich anschreien, mich ignorieren, von mir aus CDs im Müllzerkleinerer schreddern oder mir eine Schüssel mit Cornflakes an den Kopf werfen, was sie schon mal gemacht hat. Aber gegen das hier bin ich ganz einfach machtlos. Ich will bloß, dass es aufhört. Will es geradebiegen.

»Tut mir leid, Mom, Entschuldigung«, sage ich immer wieder. Ich spüre ihre Angst, verlassen zu werden, ihre Angst, dass Richard geht, und ich merke, dass ich ihn zwar nicht ausstehen kann, aber nicht will, dass er meine Mutter verlässt. Und auf keinen Fall will ich mich den stolzen Rängen der Marymount Academy anschließen. Im Moment will ich nur eines: dass alles wieder in Ordnung kommt. Von jetzt an gibt es den neuen Austin, der hart arbeitet, sich nicht mehr rumtreibt und seiner Mom keinen Stress macht. »Ich bring das in Ordnung, Mom, ich schaff das«, sage ich und nehme sie in den Arm. Und sie grummelt etwas Unverständliches, das vermutlich andeuten will, ich soll das Gleiche auch Rick erklären. Also tue ich es.

Er reckt erwartungsvoll den Kopf, als ich auf die Veranda trete – Na, junger Mann, was willst du mir sagen? –, und ich muss mich zusammenreißen, damit ich nicht losschreie. Stattdessen sage ich: »Rick, es tut mir leid. Wirklich. Es war dumm von mir. Ich zahl dir das Geld zurück. Ich verdiene nicht viel in meinem Job, aber ich überleg mir was. Versprochen.«

Er nickt weise. »Mir gefällt, wie du Verantwortung übernimmst. Ich habe die Sache mit deiner Mutter diskutiert, auch das mit deinen Noten und mit dem Ferienkurs. Was genauso wichtig ist. Wenn nicht noch wichtiger. Und ehrlich, Austin, wir können beides schaffen. Ich möchte dir einen Vorschlag machen.«

Kapitel 3

I’ll throw stones at you / until you notice / break your heart / so you’ll fix mine / drive you off / so you’ll come closer / I’ll be your anti-Valentine

 

 

Schule riecht im Sommer anders. Sie klingt auch anders: leer, hohl und widerhallend. Ein kaum wahrnehmbares leichtes Wuuuusch der Klimaanlage. Irgendwie gefällt mir das, dieses Gefühl von ungestörter Ruhe, wenn alles kühl, stumm und verlassen ist und ich das Quietschen meiner Sneakers auf dem polierten Granit der Flure überdeutlich wahrnehme.

Auf dem Parkplatz standen ein paar Autos, als ich mit meinem Motorrad ankam, doch bis jetzt habe ich noch keine Menschenseele gehört oder gesehen. Ich bin einfach zur Tür fünf rein, überrascht, dass sie offen war, und habe mich zu dem Klassenraum begeben, in dem ich mich mit meinem Mathe-Nachhilfelehrer treffen sollte.

Rick hat für mich arrangiert, dass ich einen Mathe-Nachhilfelehrer bekomme.

Das ist Teil eins des Strafgelds, das ich zahlen soll, um meine mit der Mandoline verbundenen Sünden zu büßen: Jeden Mittwoch habe ich Nachhilfestunden zu besuchen, als Ergänzung zu meinem montäglichen Ferienkurs.

Das nervt, ist aber nichts im Vergleich zu Teil zwei meiner Strafe, die man an dem erkennt, was ich trage, als ich quietsch, quietsch, quietsch den Weg durch die Flure suche. Es ist ein Poloshirt mit blauem Kragen. Auf der linken Brust steht: Ricks Rasenpflege-Service.

Hast du etwa geglaubt, Rick ist nur Anwalt? Oh nein.

Rick, der Anwalt, ist auch noch Rick, der Privatunternehmer, der Investor und Anteilseigner verschiedener faszinierender Unternehmen. Eines davon ist ein Restaurant, eines ist ein Cloud-Daten-Computer-Dingsbums, und das dritte trägt den äußerst kreativen Namen Ricks Rasenpflege-Service.

Das heißt, fast jeden Tag, mit Ausnahme der halben für Ferienkurs und Nachhilfestunden, arbeite ich als vertraglich verpflichteter Rasenpflege-Knecht und kümmere mich um die Außenanlagen der Altenheime und Gewerbegebiete in den Vororten von Minneapolis. Es bietet mehr Geld und mehr Arbeitsstunden als das Lebensmittelverpacken. Bis zum Ende des Sommers werde ich genug Geld zusammen haben, um die Hälfte des Preises der Mandoline abzuzahlen.

Die verbleibende Schuld wird mir erlassen, wenn, und nur wenn ich treu und brav meinen Ferienkurs und die Nachhilfestunden besuche und am Ende die Mathe-Prüfung bestehe.

Ich habe zu diesem Zweck sogar einen richtigen Vertrag unterschrieben.

Der Vertrag war übrigens ein Vorschlag meiner Mutter. »Großartige Idee!«, sagte Rick, setzte innerhalb ungefähr zwanzig Minuten ein rechtsgültiges Schriftstück auf, und danach fuhren wir – ich schwör es bei Gott – zu einem Notar im Zentrum von Edina, um den Vertrag beglaubigen zu lassen. Ich unterschrieb in Gegenwart von Rick, meiner Mom und einem grinsenden Glatzkopf in schlecht sitzendem Anzug, Rick zeichnete gegen und dann wurde mein Schicksal mit einem Prägestempel besiegelt.

Danach stand meine Mom lächelnd dabei, als Rick mir die Hand schüttelte und mit der andern den Rücken tätschelte – ich hasse es, wenn er mich anfasst – und sagte: »Glückwunsch, Austin. Auf einen neuen Anfang.« Ich wünschte mir, ich hätte seine Eier mit dem Prägestempel malträtieren können.

Aber weißt du was? Es ist alles okay. Ich fühle mich heute wirklich ganz optimistisch. Irgendwie gesund, mit so einem Vorab-Zufriedenheitsgefühl, das man hat, wenn man Verantwortung zeigt und etwas tut, das man lieber vermeiden würde. Zugegeben, es ist kein Gefühl, mit dem ich sonderlich vertraut bin. Und zugegeben, ich bin vertraglich dazu verpflichtet.

Körperlich und finanziellkörperlich und finanziell.