Estep, Jennifer Spinnengift

PIPER

PIPER

Für meine Mom, meine Grandma und Andre – für alles. Und für meinen Opa. Ich werde dich vermissen.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

ISBN 978-3-492-97560-5

Februar 2017

© 2012 Jennifer Estep

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Widow’s Web«, Pocket Books, New York 2012

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Danksagung

Wieder einmal möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mir dabei helfen, meine Worte in ein Buch zu verwandeln:

Ich danke meiner Agentin, Annelise Robey, und meinen Lektorinnen Adam Wilson und Lauren McKenna für ihre hilfreichen Ratschläge, ihre Unterstützung und Aufmunterung. Außerdem danke ich Julia Fincher.

Ich danke Tony Mauro für den Entwurf eines weiteren tollen Buchcovers und Louise Burke, Lisa Litwack und allen anderen bei Pocket Books und Simon & Schuster für ihre Arbeit am Cover, am Buch und an der Serie.

Und schließlich möchte ich von Herzen meinen Lesern danken. Zu wissen, dass Leute meine Bücher lesen und lieben, erfüllt mich mit Demut und ich bin froh, dass ihr so viel Spaß an Gin und ihren Abenteuern habt. Ich weiß das mehr zu schätzen, als ihr euch vorstellen könnt.

Viel Spaß beim Lesen!

1

Es war leicht, in das Gebäude einzudringen.

Fast zu leicht für einen Profi wie mich.

Verdammt noch mal, ich musste ja nicht mal richtig einbrechen. Ich hätte einfach durch die Vordertür stiefeln, dem Wachmann hinter dem Empfangstresen in der Lobby zuwinken und mit dem Lift in die richtige Etage fahren können. Wenn man in ein Gebäude schlenderte, in der Hand einen großen Strauß Blumen, einen riesigen Teddybären oder ein paar Pizzakartons, die nach Fett, Peperoni und geschmolzenem Mozzarella rochen, sah einen niemand allzu genau an. Und wenn doch, wünschte sich derjenige nichts sehnlicher, als dass er selbst die Pizza zum Abendessen bestellt hätte.

Den Trick mit dem Lieferdienst hatte ich schon zahllose Male eingesetzt und ich hätte ihn ja heute wieder angewandt – nur dass meine Zielperson genau wusste, dass ich es auf sie abgesehen hatte. Sie war vorgewarnt und jeder, der das Gebäude betrat, wurde gründlich überprüft, auf Waffen und darauf, ob man überhaupt eine Berechtigung hatte, sich dort aufzuhalten.

Außerdem ging ich im Allgemeinen subtiler vor. Ich bewegte mich gern im Schatten, sprang dann vor, erledigte mein Opfer, wenn es am wenigsten damit rechnete, und verschwand wieder in der Dunkelheit. Als »die Spinne« hatte ich schließlich einen Ruf zu verteidigen: dass ich jeden erwischen konnte, überall, jederzeit.

Ich hatte vor, dies heute Abend einmal mehr zu beweisen – egal wie aufmerksam das Sicherheitspersonal meines Opfers auch sein mochte.

Es hatte mich fast eine Woche gekostet, die verschiedenen Orte auszukundschaften, an denen der Angriff erfolgen konnte. Zu Hause, im Büro, auf dem Weg dazwischen, in den Restaurants, in denen er gern zu Mittag oder Abend aß – sogar im Northern Aggression, Ashlands dekadentestem Nachtclub, wo er nach Feierabend eine Menge Zeit verbrachte. Schließlich hatte ich mich entschieden, den Job in seinem Büro zu erledigen, das in einem der Hochhäuser in der Innenstadt von Ashland lag. Hier wähnte sich mein Mann wahrscheinlich in Sicherheit, wenn man den Sicherheitsaufwand betrachtete – aber er würde schon bald erfahren, wie falsch er mit seiner Einschätzung lag.

Eine weitere Woche war dafür draufgegangen, Pläne des Gebäudes zu besorgen und einen Weg zu finden, meiner Zielperson nahe zu kommen. Das hatte sich als etwas schwerer herausgestellt, als ich zunächst gedacht hatte, aber letztendlich hatte ich es geschafft. Ich schaffte es immer. Sonst wäre ich nicht »die Spinne«. Außerdem genoss ich die Herausforderung.

Inzwischen war die dritte Woche der Operation angebrochen und es wurde Zeit, meinen Plan endlich in die Tat umzusetzen, da der Job vor Ende des Monats erledigt sein musste. Gewöhnlich wäre das kein Problem gewesen, aber die Zielperson wusste vom Ablaufen der Frist und dass ich es auf ihn abgesehen hatte. Mit jedem Tag, der verging, wurde die Security undurchlässiger und machte meinen Job schwieriger.

Vor zwei Stunden war ich in einem schwarzen Hosenanzug und dazu passenden Pumps in die Parkgarage geschlendert. Ich hatte meine schokoladenbraunen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und meine kalten grauen Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt. Ich sah aus wie eine x-beliebige Büroangestellte, bis hin zu der riesigen schwarzen Handtasche über meiner Schulter.

Die Garage lag auf der Rückseite des Blocks, gegenüber dem eigentlichen Eingang zum Bürogebäude. Dank der Pläne, die ich mir angesehen hatte, hatte ich jedoch herausgefunden, dass beide Wege ins Innere durch eine Reihe von Wartungsfluren verbunden waren. Und das bedeutete, dass ich mich der Lobby des Hochhauses auf der anderen Seite des Häuserblocks nicht einmal nähern musste, um in das Gebäude zu gelangen.

Wähle immer den Weg, mit dem niemand rechnet. Das war ein Ratschlag, den mein Mentor Fletcher Lane mir mehr als einmal gegeben hatte. Ich ging davon aus, dass dieses Vorgehen heute so gut funktionieren würde wie schon unzählige Male in der Vergangenheit.

Trotzdem hatte ich damit gerechnet, dass meine Zielperson ein paar Wachen in der Tiefgarage aufgestellt hatte – daher die Verkleidung. Aber ich konnte niemanden entdecken, als ich über die Rampe in den Keller ging. Ein paar Sicherheitskameras schwenkten träge hin und her und die roten Lichter daran blinkten wie bösartige Augen. Aber es war ziemlich leicht, mich in ihren toten Winkeln vorwärtszubewegen. Sehr nachlässig von ihm, nicht darauf zu achten, dass die gesamte Garage von den Kameras abgedeckt wurde, selbst wenn sie sich auf der Rückseite des Blocks befand. Schließlich waren wir in Ashland – der Stadt, die Gier, Gewalt, Korruption und Verdorbenheit in aller Südstaaten-Glorie zur Schau stellte.

Meine Absätze klapperten über den Beton, als ich auf den Aufzug zulief, und das Geräusch hallte durch den leeren Raum, als hätte jemand einen Tischtennisball in die Garage geworfen. Trotz der Tatsache, dass ich mich im Geschäftsviertel in der Innenstadt aufhielt, waren Überfälle hier nichts Außergewöhnliches. Also behielt ich die Schatten im Auge, nur für den Fall, dass sich jemand darin versteckte, der hier nichts zu suchen hatte. Profikillerin oder nicht, ich verspürte keinerlei Bedürfnis, mir meine Kleidung mit Blut zu besudeln, bevor ich meinem Opfer nahe gekommen war. Ich wollte die Einzige sein, die heute Abend mit einer weißen Weste davonkam.

Als weitere Vorsichtsmaßnahme rief ich meine Magie und konzentrierte mich auf den Stein um mich herum. Menschen hinterlassen emotionale Schwingungen in ihrer Umgebung, an den Orten, an denen sie ihre Zeit verbringen, in ihren Häusern, Wohnungen und Büros, wo sie leben, lieben, lachen, arbeiten und sterben. All diese Gefühle, all diese Emotionen sinken in die Umgebung ein. Besonders in Stein, ob es sich nun um das Betonfundament eines Hauses handelt, den Kies, der unter den Rädern eines neuen Kabrios knirscht, oder sogar in die teure Marmorstatue, die dekorativ in einem Wohnzimmer herumsteht. Als Steinelementar konnte ich diese Vibrationen hören und die Gefühle so klar empfinden, als stände der Mann, der sie hinterlassen hatte, direkt neben mir und würde mir erzählen, wie er diese Marmorstatue dazu benutzt hatte, seiner Frau den Schädel einzuschlagen, um die Lebensversicherung zu kassieren.

Ich schickte meine Magie aus und sofort hörte ich das übliche scharfe, besorgte Murmeln. Niemand mag Parkgaragen besonders gern und das leise Flüstern verriet mir, wie viele Leute sich hier schon ihre Handtaschen und Aktenkoffer an die Brust gedrückt hatten, während sie sich beeilten, ihre Wagen aufzuschließen – zumindest diejenigen, die es geschafft hatten, bevor sie zusammengeschlagen, ausgeraubt und auf dem Boden liegen gelassen worden waren.

Trotzdem: Ich spürte keine frischen Störungen im Stein und entdeckte auch keinen Hinweis darauf, dass mich jemand ins Visier genommen hätte. Zufrieden blendete ich das Murmeln wieder aus, bog um eine Ecke und kam zum Lift, der vom Parkdeck nach oben in das Bürogebäude auf dieser Seite des Blocks führte.

Vor dem Lift wartete ein Mann im Anzug, der einen Steinsilber-Aktenkoffer in der Hand hielt, und starrte auf die leuchtenden Nummern über den geschlossenen Türen, die verrieten, dass sich die Kabine langsam dem Untergeschoss näherte. Ich nickte ihm höflich zu, dann zog ich mein Handy aus der Tasche und tat so, als würde ich eine Nachricht schreiben.

Der Lift kam und öffnete seine Türen eine Minute später. Der Mann trat hinein und hielt für mich offen. »Wollen Sie hoch?«, fragte er.

Ich winkte abwehrend. »Ich muss erst noch diese Nachricht fertigschreiben. Da drin habe ich nie Empfang.«

Er nickte und ließ die Türen zugleiten. Ich drückte noch ein paar Knöpfe auf meinem Handy, nur für den Fall, dass hinter mir noch jemand Richtung Aufzug ging, aber niemand erschien. Sobald ich mir sicher war, dass ich mich allein in der Garage aufhielt, steckte ich das Handy weg und ging an das Ende des Flurs, wo auf einer Tür die Aufschrift geschrieben stand: Nur für Wartungspersonal.

Ich schob die Tasche höher auf die Schulter, um die Hände freizuhaben, drehte eine Handfläche nach oben und griff erneut nach meiner Magie – aber diesmal nicht nach meiner Steinmacht. Die meisten Elementare können nur ein Element kontrollieren: Luft, Feuer, Eis oder Stein. Ich jedoch gehörte zu den wenigen Elementaren, die zwei verschiedene Mächte beherrschten. Daher setzte ich nun meine Eismagie ein, um eine ganz bestimmte, vertraute Form zu erschaffen, die mir helfen würde, die verschlossene Tür vor meiner Nase zu öffnen. Ein kaltes silbernes Licht flackerte über meiner Handfläche auf, direkt über der Narbe darin, die die Form eines kleinen Kreises hatte, der von acht dünnen Strahlen umgeben war. Eine identische Narbe prangte auf meiner anderen Handfläche. Es waren Runen in Form einer Spinne – das Symbol für Geduld. Mein Name als Profikillerin und gleichzeitig noch so viel mehr.

Eine Sekunde später verblasste das Licht und ich hatte zwei schlanke Dietriche aus Eis in der Hand. Ich lauschte noch einmal in die Parkgarage und ließ den Blick durch den riesigen Raum wandern, dann machte ich mich an die Arbeit. Ich war nicht ganz so gut beim Schlösserknacken wie mein Ziehbruder Finnegan Lane, aber ich schaffte es in unter einer Minute. Die Eisdietriche fielen zu Boden, wo sie bald schon schmelzen würden, ich glitt durch die Tür und ließ sie hinter mir wieder ins Schloss fallen.

Ich stand in einem langen, schmalen Flur, der von flackernden Glühbirnen erleuchtet wurde, die alles in ein hässliches, fahles Licht tauchten. Ich hielt einen Moment inne, um auf Schritte des Wartungspersonals zu lauschen, das diese Flure normalerweise benutzte. Ich hörte aber kein Rascheln und auch keine anderen Hinweise auf Bewegung, also ging ich los. Selbst wenn ich hier unten jemandem begegnete, würde ich einfach behaupten, ich wäre eine verirrte Büroangestellte, die verzweifelt versuchte, an ihren Arbeitsplatz zurückzufinden.

Doch zur Abwechslung blieb mir das Glück hold. Es tauchte niemand auf, während ich durch die Gänge eilte. Schließlich erreichte ich den Keller des Hochhauses, in dem das Büro meiner Zielperson lag. Von hier aus fuhr ich im Serviceaufzug in den ersten Stock – so überwand ich die Wachen in der Lobby. Für den Rest des Weges nahm ich die Feuertreppe bis ins oberste Stockwerk hinauf.

Ich öffnete die Tür am Ende des Treppenhauses und stellte fest, dass ich in einem Großraumbüro angekommen war, in dem mithilfe von durchsichtigen Plastiktrennwänden unzählige kleine Bürowaben erschaffen worden waren. Es war kurz vor Feierabend und alle waren eifrig dabei, ihre Aufgaben zu erledigen, damit sie um Punkt fünf Uhr losziehen konnten, um ihre Kinder abzuholen, sich etwas zum Abendessen zu besorgen und endlich nach Hause zu fahren. Alle waren über ihre Telefone oder Computer gebeugt, um noch ein paar letzte Mails zu verschicken und Anrufe zu tätigen. Keiner bemerkte, wie ich aus dem Treppenhaus glitt und leise die Tür hinter mir schloss.

Ich schlenderte los, hielt mich am Rand des Raumes und folgte dann einem Flur, bis ich ein Eckbüro erreichte, von dem ich wusste, dass es als Lagerraum benutzt wurde. Die Tür stand offen und ich ging hinein, als hätte ich jedes Recht der Welt, mich hier aufzuhalten. Über die Schulter sah ich durch das Fenster zum Großraumbüro, aber niemand blickte auch nur in meine Richtung, also verschwand ich in der kleinen Toilette, die zu dem Büro gehörte, und schloss die Tür hinter mir.

Dort stand ich und zählte in meinem Kopf die Sekunden, um abzuwarten, ob mich jemand bemerkt und den Sicherheitsdienst alarmiert hatte.

Zehn …

Zwanzig …

Dreißig …

Fünfundvierzig …

Nach drei Minuten fühlte ich mich sicher genug, um zum nächsten Teil meines Plans überzugehen. Jetzt, wo ich mich im Gebäude und im richtigen Stockwerk befand, musste ich nur noch den Ort erreichen, an dem ich meinem Opfer auflauern konnte.

Ich zog einen kleinen Akkuschrauber aus der Handtasche, kletterte auf das Marmorwaschbecken und setzte das Werkzeug an, um das Gitter vom Lüftungsschacht hoch oben in der Wand abzuschrauben. Natürlich hätte ich schon unten im Wartungskorridor in die Lüftungsschächte einsteigen können. Das Problem war nur, dass diese Versorgungsgänge mit der Überwachungsanlage verbunden waren. Sobald ich dort unten ein Gitter geöffnet hätte, wäre der Alarm losgegangen und die Wachen aus der Lobby wären mit gezogenen Waffen losgestürzt, um meinen Körper mit Kugeln zu durchsieben.

Hier oben hatte sich meine Zielperson indes nicht die Mühe gemacht, jedes Gitter sichern zu lassen. Die wenigsten Leute dachten daran, die Türen, Fenster und Lüftungsschächte in den oberen Stockwerken ihrer Häuser oder Bürogebäude zu sichern, weil alle davon ausgingen, dass es ausreichte, jemanden von einem Einbruch im Erdgeschoss abzuhalten.

Aber das galt nicht für »die Spinne«.

Sobald das Gitter gelöst war, kletterte ich wieder auf den Boden, entledigte mich meines Hosenanzugs und der Sonnenbrille, griff in die Tasche und zog die richtigen Klamotten für den Abend heraus: Cargohose, ein langärmliges schwarzes Shirt, eine Weste und Stiefel. Natürlich alles in Schwarz. Sicher, sich von Kopf bis Fuß in Schwarz zu kleiden, mochte dem Klischee einer Auftragskillerin entsprechen, aber man blieb in der Regel bei dem, was sich bewährt hatte – und die Blutflecken versteckte.

Ich band mir die Tasche mit dem Hosenanzug darin vor die Brust, stieg wieder auf das Waschbecken und zog mich in den Lüftungsschacht, wobei ich darauf achtete, das Gitter hinter mir wieder in seinen Rahmen zu ziehen und festzuklemmen. Wie bei vielen Gebäuden in Ashland war auch dieses Lüftungsrohr ein wenig größer als gewöhnlich, aus Rücksicht auf die Riesen-Einwohner der Stadt, also hatte ich massig Platz. Langsam, vorsichtig und leise kroch ich durch die Lüftungsschächte, bis ich endlich das Büro erreicht hatte, das ich suchte. Dann glitt ich lautlos an das Gitter heran und spähte durch die Schlitze in den Raum.

Ich erblickte ein Büro, das gleichzeitig eindrucksvoll und elegant wirkte. Ein großer Schreibtisch aus poliertem Ebenholz stand am einen Ende des Raums, darauf Stifte, Papier, ein Bildschirm, zwei Telefone. Auf der Oberfläche verteilten sich die üblichen Büromaterialien, während vor dem Schreibtisch zwei schwarze Ledersessel standen. Selbst von hier aus konnte ich erkennen, wie weich und luxuriös die Bezüge waren. Passende Möbel in verschiedenen Schattierungen von Schwarz bis Grau fanden sich außerdem hier drin, ergänzt von aufwendigen Metallskulpturen. Die hintere Wand wurde fast vollständig von einer gut gefüllten Bar eingenommen. Hinter dem Schreibtisch gaben deckenhohe Fenster den Blick frei auf die Innenstadt von Ashland und die grünen Berge der Appalachen, welche die Stadt umrahmten.

Das Büro war leer, so wie es meiner Planung nach sein sollte. Daher musste ich nicht besonders leise sein, als ich meinen Akkuschrauber einsetzte, um auch dieses Gitter zu lösen und die Schrauben in einer meiner Westentaschen zu verstauen. Ich drückte das Gitter ein paar Mal aus seinem Rahmen, bis ich mir sicher war, dass es sich lautlos lösen würde, dann ließ ich es wieder einrasten. Danach griff ich in meine Tasche und zog meine Waffe heraus – eine kleine Pistole.

Gewöhnlich trug ich zu jeder Zeit fünf Steinsilber-Messer am Körper – eines in jedem Ärmel, eines in meinem hinteren Hosenbund und zwei weitere in meinen Stiefeln. Ich mochte meine Messer und bei den meisten meiner Aufträge bediente ich mich dieser Klingen. Aber meine Zielperson besaß ein magisches Talent für Metall, was bedeutete, dass sie fühlen konnte, wenn sich Steinsilber oder Metall in ihrer Nähe befanden – so wie ich den Stein um mich herum hören konnte, egal in welcher Form er auch auftrat. Tatsächlich war Metallmagie ein Ableger von Steinmagie, so wie Wasser ein Ableger von Eismagie war und Elektrizität von Luft.

Da ich meinem Opfer keinen Hinweis auf meine Anwesenheit geben wollte, hatte ich beschlossen, meine Messer zu Hause zu lassen. Ich konnte zwar nicht so gut mit Pistolen umgehen wie mit Klingen, aber das kleine Schätzchen, das ich dabeihatte, würde seine Aufgabe in der Enge des Büros schon erfüllen.

Zum Abschluss meiner Vorbereitungen zog ich schwarze Handschuhe aus meiner Tasche und versicherte mich, dass das Leder die Spinnenrunen-Narben auf meinen Handflächen bedeckte. Die Narben bestanden eigentlich aus Steinsilber, das vor Jahren von einer grausamen Feuermagierin in meine Hände eingeschmolzen worden war. Ich ging nicht davon aus, dass die Zielperson das Metall in meinen Händen spüren konnte – nicht solange ich mich im Lüftungsschacht aufhielt –, aber die Handschuhe boten zusätzlichen Schutz und ich wollte heute Abend kein Risiko eingehen.

Sobald das präparierte Gitter und die Pistole bereit waren, blieb mir nur noch, es mir gemütlich zu machen und darauf zu warten, dass mein Opfer auftauchte.

Ich war vielleicht seit einer Stunde in Stellung, als sich die Bürotür öffnete und zwei Männer mit Aktenkoffern den Raum betraten. Beide trugen maßgeschneiderte Anzüge und glänzende Lederschuhe, die sie als einflussreiche Personen zu erkennen gaben. Meine Zielperson traf sich nach Feierabend noch mit seinem Finanzberater, um die Firmengeschäfte und andere Themen zu besprechen, wie ich wusste. Zu dumm, dass keiner von beiden dieses Treffen überleben würde.

Durch das Gitter beobachtete ich, wie ein dritter Mann den Raum betrat – ein Riese von zwei Meter zehn Größe. Auch er trug einen Anzug, aber seiner war bei Weitem nicht so schick wie die der beiden anderen Männer.

Die Geschäftsmänner traten zur Seite und warteten, bis der Riese die Durchsuchung des Raums abgeschlossen hatte. Er spähte hinter den Schreibtisch und die Bar, dann durchsuchte er das kleine angeschlossene Bad und machte sich sogar die Mühe, in die Dusche zu schauen. Diese Sicherheitsüberprüfung war ein weiterer Grund, warum ich mich entschlossen hatte, durch die Lüftungsschächte zu kriechen, statt mich einfach irgendwo in einer dunklen Ecke zu verstecken.

Einen Moment später erschien der Riese wieder im Büro. »Alles sauber, Sir«, sagte er. »Der Rest des Stockwerkes wurde durchsucht und ist ebenfalls sicher.«

Der Angesprochene nickte dankend, dann verschwand der Riese und schloss die Tür hinter sich.

Der zweite Mann wartete nicht einmal, bis die Tür ins Schloss gefallen war, bevor er zur Bar ging, sich eine Flasche mit teurem Scotch schnappte und eine ordentliche Menge in ein Kristallglas goss. Er nahm einen tiefen Schluck von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit und nickte anerkennend. Dann drehte er sich zu seinem Freund um. »Heute irgendein Zeichen von ihr?«

Meine Zielperson schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nichts.«

Der andere grinste. »Nun, da ›die Spinne‹ dir noch keinen Besuch abgestattet hat und es aussieht, als würdest du einen weiteren Tag überleben, sollten wir uns an die Arbeit machen. Zufälligerweise wartet heute Abend noch jemand auf mich. Du weißt schon, wen ich meine.«

Sein Gegenüber lächelte, dann öffneten beide Männer ihre Aktenkoffer. Sie breiteten verschiedene Papiere auf einem Tisch vor der Bar aus, ließen sich auf die Stühle sinken und machten sich an die Arbeit.

»Also«, sagte der Finanzheini, »wie du aus diesen Steuerformularen und den Ertragskennziffern ablesen kannst …«

Ich wartete, bis die beiden Männer in ihr Gespräch vertieft waren, bevor ich vorsichtig das Gitter aus dem Rahmen drückte. Ich hielt inne und wartete ab, ob sie die verstohlene Bewegung über ihrem Kopf bemerkt hatten, aber das hatten sie natürlich nicht. Die wenigsten Leute machten sich die Mühe, nach oben zu sehen – selbst diejenigen, die von einer berüchtigten Auftragsmörderin wie mir ins Visier genommen wurden.

Ich zog das Gitter in den Lüftungsschacht, legte es neben mich und kontrollierte noch einmal, dass die Pistole in ihrer leicht erreichbaren Tasche in meiner Weste ruhte. Dann holte ich tief Luft und schob mich mit angehaltenem Atem nach vorn, bis ich den Rand der Öffnung erreichte. Mit angehaltenem Atem ließ ich mich von meinem Gewicht und der Schwerkraft nach unten ziehen, dann griff ich an den Rand des Lüftungsschachtes, vollführte einen lautlosen Salto, ließ los und landete auf den Füßen, direkt den beiden Männern gegenüber. Ihnen blieb kaum die Zeit zu blinzeln und noch weniger dazu, auf die Beine zu kommen, bevor die Pistole in meiner Hand auch schon auf meine Zielperson gerichtet war.

Peng-peng.

Ich traf den Mann zweimal in die Brust und er fiel ohne ein Geräusch auf den teuren Teppich. Dann zielte ich auf den zweiten Kerl, der von seinem Stuhl aufsprang, die Hände in einer beruhigenden Geste hob und langsam zurückwich.

»Hallo, Finn«, meinte ich spöttisch. »Du hast nicht damit gerechnet, mich hier zu sehen, oder?«

Finnegan Lane, mein Ziehbruder, sah mich entsetzt an. »Du musst das nicht tun«, sagte er flehend. »Du hast bereits bewiesen, dass du es kannst, indem du Owen erledigt hast. Dein Lover hatte diese tolle Idee, nicht ich. Lass mich nicht für seinen Fehler büßen!«

Ich wedelte mit der Pistole in Richtung von Owens unbeweglicher Gestalt. »Meiner Meinung nach lief das ganz anders. Tatsächlich erinnere ich mich genau daran, wie du das Maul aufgerissen hast. Du warst derjenige, der mich immer wieder herausgefordert hat. Heute Abend liefere ich endlich den Beweis, dass ich besser bin als du.«

Als ihm klar wurde, dass er mich nicht überzeugen konnte, entschied sich Finn für eine andere Strategie – Bestechung. »Ich werde dir zahlen, was auch immer du willst, wenn du die Pistole jetzt fallen lässt und verschwindest. Das weißt du.«

»In der Tat.« Ein kaltes, grausames Lächeln umspielte meine Lippen. »Aber einfach zu verschwinden macht bei Weitem nicht so viel Spaß. Das weißt du genauso gut wie ich.«

»Nein, bitte nicht …«

Bevor er weitersprechen konnte, drückte ich zweimal den Abzug und sein Körper sackte auf den Boden.

2

Schweigen.

Dann stieß Finn ein unglückliches Seufzen aus und stand wieder auf. »Wirklich, Gin? Musstest du meinen Anzug ruinieren? Das war ein Einzelstück von Fiona Fine.«

Er betrachtete die hellroten Flecken auf seinem weißen Hemd und dem schwarzen Jackett. Dann hob Finn den Kopf. Seine grünen Augen funkelten mich aus seinem attraktiven Gesicht böse an. Ich machte mir nicht die Mühe, ihn darauf hinzuweisen, dass die rote Farbe aus der Pistole auch auf sein Gesicht und in die walnussbraunen Locken gespritzt war. Mein Ziehbruder war von seinen Haaren mindestens so besessen wie von seinen Anzügen. Es kam für ihn nicht infrage, dass Finnegan Lane anders als perfekt aussah.

»Ich muss zugeben, dass ich mit Finn einer Meinung bin«, brummte der andere Mann – mein vermeintliches Opfer –, als er sich aufsetzte. »Ich hätte nicht gedacht, dass unser kleines Experiment so viel Dreck machen würde.«

Owen Grayson stand auf. Seine Brust war mit genauso viel Farbe überzogen wie die von Finn. Trotz seines besudelten Anzugs ließ ich meinen Blick über ihn gleiten, von seinen blauschwarzen Haaren über die leuchtenden violetten Augen bis hin zu seinem starken, muskulösen Körper. Keine Farbe der Welt konnte Owens Attraktivität mindern und auch nichts daran ändern, dass ich mich in seiner Nähe immer fühlte, als wäre ich die wichtigste Person der Welt für ihn.

Ich durchquerte den Raum, lehnte mich gegen den Schreibtisch und deutete mit der Gotcha-Pistole auf Owen. »Du hättest es besser wissen müssen, als du dich von Finn im Northern Aggression dazu überreden hast lassen, so viel zu trinken. Betrunkene Herausforderungen an Profikiller enden selten gut für den Herausforderer. Oder vielmehr die Herausforderer.«

Finn unterbrach seinen Versuch, die Farbe aus dem Anzug zu reiben, gerade lang genug, um mich böse anzustarren.

»Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich nicht allein getrunken und du und ich hatten in dieser Nacht noch ziemlich viel Spaß«, meinte Owen heiser.

»Vielleicht«, gab ich lächelnd zu. »Aber Finn war derjenige, der ein Essen im Underwood’s darauf gewettet hat, dass ich es nicht schaffe, euch beide bis zum Ende des Monats umzubringen. Die Folgen habt ihr euch also selbst zuzuschreiben.«

Mein Ziehbruder verzog unwillig das Gesicht. »Ich behaupte trotzdem, du hättest meinen Anzug nicht ruinieren müssen.«

»Nein«, stimmte ich grinsend zu. »Ich musste ihn nicht ruinieren. Das war nur zu meinem Privatvergnügen.«

Finn starrte mich böse an, aber ich schenkte ihm mein unschuldigstes, schönstes Südstaatenlächeln.

»Nun, es wird langsam spät und ich will noch zu Bria«, murrte er. »Aber das kann ich nicht, solange ich so aussehe.«

Ich rollte bei seinem leidenden Tonfall nur die Augen, aber Owen lachte.

»Geh«, sagte er zu Finn. »Geh dich umziehen. Wir können die Geschäfte auch morgen besprechen.«

»Und grüß Bria lieb von mir«, fügte ich zuckersüß hinzu.

Finn brummelte etwas darüber in seinen Bart, was ich mit verschiedenen Teilen meiner Anatomie anstellen sollte, bevor er seine Papiere und den Aktenkoffer einsammelte und das Büro verließ.

»Nun«, sagte Owen, nachdem Finn die Tür ein wenig heftiger geschlossen hatte, als es nötig gewesen wäre. »Du hast uns beide erwischt, genau wie du es versprochen hast.«

Ich grinste. »Dafür bezahlen mich die Leute. Oder haben es zumindest früher getan.«

Owen zog eine Augenbraue hoch. »Gut zu wissen, dass der Ruhestand deine Fähigkeiten nicht hat einrosten lassen.«

Ich zuckte mit den Achseln. Wir wussten beide, dass ich mir das nicht leisten konnte. Nicht jetzt, wo sich so viele Leute in Ashland und über die Stadtgrenzen hinaus freuen würden, mich tot zu sehen. Im Winter war es mir endlich gelungen, Mab Monroe umzubringen, die Feuermagierin, die jahrelang die Unterwelt von Ashland beherrscht hatte. Eine gute Tat für das Allgemeinwohl, sozusagen, aber nicht nur. Mab hatte meine Mutter und Schwester ermordet, als ich gerade erst dreizehn Jahre alt gewesen war, und bei meiner Tat war es mir mehr um Rache gegangen als um irgendetwas anderes. Doch das Ableben der Feuermagierin hatte ein Machtvakuum in der Stadt hinterlassen und jetzt kämpften alle suspekten und nicht ganz so suspekten Schurken von Ashland um Positionen, Macht und Prestige. Einige von ihnen waren davon überzeugt, dass es ihre Karriere besonders befördern würde, mich umzubringen – Gin Blanco, die halb im Ruhestand befindliche Profikillerin, die unter dem Namen »die Spinne« bekannt war.

Bis jetzt hatte ich alle Herausforderer unter die Erde gebracht, aber es hörte nicht auf. Vor ein paar Wochen hatte ich beschlossen, die Sicherheit aller Orte zu testen und zu verbessern, an denen ich mich regelmäßig aufhielt – auch die in Owens Haus und seinem Büro. Es war nicht nötig, es meinen Möchtegernmördern einfach zu machen. Dann hatte sich Finn eingeschaltet und vorgeschlagen, dass wir einen Wettbewerb daraus machten, indem er und Owen versuchen würden, mich auszutricksen. Natürlich war das nicht ganz so gelaufen, wie Finn es geplant hatte, und ich war mit dem Ergebnis ziemlich zufrieden. Ich gewann gern, egal bei welchem Spiel.

»Dann erzähl mir mal, wie du es gemacht hast«, sagte Owen. »Wie bist du in diesen Lüftungsschacht gekommen?«

Ich rekapitulierte meinen Weg durch die Tiefgarage, die Wartungsflure, die Treppe, das Büro und den Lüftungsschacht.

»Insgesamt ist deine Security in Ordnung«, meinte ich. »Wir müssen nur hier und dort ein paar Löcher stopfen, dann wird es niemandem gelingen, dich, mich oder irgendjemand anderen hier drin zu erledigen, wenn er nicht gerade bereit ist, das gesamte Gebäude in die Luft zu sprengen.«

Owen sah mich unverwandt an, gleichzeitig wirkte er unkonzentriert, als hörte er mir nur mit halbem Ohr zu. Mir war bewusst, dass dieses Gespräch nicht gerade den Inbegriff der Romantik darstellte, da ich gerade beschrieb, wie es mir gelungen war, meinen Geliebten mit Farbkugeln zu beschießen. In den letzten Tagen war es nicht nur einmal vorgekommen, dass Owen geistig abdriftete. Irgendetwas beschäftigte ihn und ich hatte keine Ahnung, worum es dabei ging. Das machte mir mehr Sorgen, als ich zugeben wollte, besonders weil ich ihm jede Menge Möglichkeiten gegeben hatte, mir zu erzählen, was los war – Möglichkeiten, die er nicht genutzt hatte.

»Owen?«, fragte ich.

In diesem Moment blitzte etwas in seinem Blick auf, was auf mich fast wie Sorge wirkte. Doch das Gefühl verschwand zu schnell wieder, um es genauer zu identifizieren. Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf mich.

»Tut mir leid«, meinte er. »Was hast du gerade gesagt?«

Er zog sein Jackett aus, wobei sich die Muskeln seiner Arme anspannten. Mit einem Mal wollte ich etwas vollkommen anderes als Kriegsspiele spielen. Ich verzehrte mich nach etwas, was viel unterhaltsamer und vergnüglicher wäre – für uns beide. Ganz abgesehen davon, dass es mir so gelingen würde, meinen Geliebten im Hier und Jetzt zu halten. Ich spielte genauso ungern die zweite Geige wie jede andere Frau auch – selbst wenn dies nur in seinen Gedanken der Fall war.

Owen fing an, seine Krawatte zu lockern, und ich legte die Gotcha-Pistole auf den Schreibtisch und schlenderte zu ihm. Er hielt in der Bewegung inne und beobachtete mich, während ich mit wiegenden Hüften auf ihn zukam. Verlangen glühte in Owens Augen auf – Verlangen, das perfekt zu der Lust passte, die auch in meinem Körper aufstieg.

»Lass mich das machen«, sagte ich.

Owen beobachtete mit halb geschlossenen Augen, wie ich langsam seine Seidenkrawatte löste und sie auf den Boden fallen ließ. Dann ließ ich meine Hände bewundernd über die Muskeln seiner Brust gleiten, bevor ich die obersten zwei Knöpfe seines Hemdes öffnete. Ich schob den Stoff zur Seite, lehnte mich vor und drückte einen sanften Kuss auf Owens Kehle. Er legte die Arme um mich und zog mich eng an sich. Seine Finger vergruben sich in meinem Rücken, um mich noch fester an sich zu drücken. Jetzt besaß ich definitiv seine volle Aufmerksamkeit.

»Wieso helfe ich dir nicht dabei, diesen verschmutzten Anzug auszuziehen?«, murmelte ich. »Eine gewisse Profikillerin ist nämlich nicht nur gut darin, Leute umzubringen, sondern auch in den anschließenden Säuberungsaktionen.«

Ein vielsagendes Grinsen breitete sich langsam auf Owens Gesicht aus und verbarg damit die Narbe, die sich unter seinem Kinn entlangzog. »Tatsächlich? Es würde mich sehr interessieren, diese Fähigkeiten zu testen.«

Ich führte Owen ins Bad. Die Tür hatte sich noch nicht ganz hinter uns geschlossen, bevor meine Lippen schon auf seinen lagen und ich alles vergaß – außer dem Vergnügen, das wir uns gegenseitig schenken konnten. Es würde noch genug Zeit bleiben, um herauszufinden, weswegen sich Owen solche Sorgen machte – später.

Viel, viel später.

3

Unser Spiel war beendet und damit war es Zeit für mich, meinen Preis einzufordern: ein Abendessen im Underwood’s.

Am nächsten Abend fuhren Owen und ich in seinem Auto zum Restaurant, das in einem schicken älteren Gebäude im Finanzviertel der Stadt lag. Owen hielt am Straßenrand vor einem purpurnen Vordach, auf dem der Name des Restaurants prangte, dann stiegen wir aus dem Wagen. Während Owen die Schlüssel einem Parkdiener übergab, trat ich auf den Gehweg und rief meine Steinmagie, weil ich neugierig war, was ich wohl hören würde. Die Ziegel des Gebäudes erzählten flüsternd von Geld, Macht und Verschwörungen, gemischt mit dem Klappern von Tellern und dem Klirren von Besteck. Keine unangenehmen Geräusche. Aber sie verrieten mir trotzdem, wie viele dunkle, tödliche Pläne hier bei erlesenem Essen und einer schönen Flasche Wein geschmiedet worden waren.

Owen ergriff meinen Arm, dann gingen wir hinein und fuhren mit dem Lift in den dritten und damit obersten Stock, wo uns der Oberkellner zu einem Ecktisch führte. Eine purpurne Decke lag auf dem Tisch, der mit kostbarem weißem Porzellan, filigranen Weingläsern und Silberbesteck gedeckt war, das heller glänzte als manch ein Diamantring. In einem silbernen Ständer in der Mitte des Tisches brannte eine in Form einer Gabel gestaltete Kerze mit drei Flammen. Die Gabel war die Rune des Restaurants und stand für das gute Essen, das man hier genießen konnte. Das Symbol war in die Teller eingeprägt, in das Besteck graviert und sogar mit goldenem Garn in die Tischdecken gestickt.

Das Underwood’s rühmte sich für seine herausragende Küche, den Service und die luxuriöse Umgebung – doch das, was ich am meisten zu schätzen wusste, war die Aussicht. Eine der langen Ziegelwände war abgetragen und durch bodentiefe Fenster ersetzt worden, sodass die Gäste über den Aneirin hinwegsehen konnten, der sich durch diesen Teil der Innenstadt schlängelte. Die Lichter der Schaufenster an der Uferpromenade und Laternen am Fluss ließen das Wasser glänzen wie ein silbernes Band, das in der Umarmung der Dunkelheit ruhte. In der Ferne konnte ich schemenhaft die Lichter der Delta Queen erkennen. Aus dieser Perspektive sah das Schiffskasino wunderschön aus, fast romantisch. Doch wie bei so vielen Dingen in Ashland lauerte unter der hübschen Oberfläche etwas ganz anderes.

Ein Kellner nahm unsere Getränkebestellung auf – Whiskey für Owen, Gin Tonic für mich – und überreichte jedem von uns eine in Leder gefasste Karte. Auf den cremeweißen Seiten standen keine Preise aufgelistet. Das Underwood’s war Ashlands schickstes und teuerstes Restaurant. Die Art von exquisitem Laden, der einem sogar Unsummen dafür abnahm, wenn man ein Glas Leitungswasser bestellte – und noch mehr, wenn man sich das Glas nachfüllen ließ. Aber heute Abend zahlte Finn, also hatte ich keinerlei Probleme damit, zu bestellen, was auch immer ich wollte, und jeden Schluck davon zu genießen.

»Zu dumm, dass Finn und Bria es nicht geschafft haben«, sagte Owen.

Ich schnaubte nur. »Ich bitte dich. Finn hätte sein Meeting problemlos verschieben können, wenn er das wirklich gewollt hätte. Er hatte einfach keine Lust auf ein Abendessen, bei dem er mir bei meinen Prahlereien zuhören muss, dass ich unsere Wette gewonnen und seinen Anzug ruiniert habe. Und irgendwie kann ich ihm das nicht mal übel nehmen.«

»Na ja, dann musst du heute Abend eben mit meiner Wenigkeit vorliebnehmen.«

Ich schob die Hand über den Tisch, verschränkte meine Finger mit Owens und genoss das Gefühl seiner Haut an meiner. »Oh, ich glaube, das kriege ich schon hin.«

Wir unterhielten uns während des Abendessens angeregt und lachten viel. Das Essen war herausragend – Steaks in einer Panade aus schwarzem Pfeffer, dazu frische Sauerteigbrötchen, perfekt gegrilltes Gemüse und Süßkartoffelbrei mit einem Hauch von Zimt. Unser Kellner war aufmerksam, ohne aufdringlich zu sein, und keiner der anderen Gäste achtete auf uns. Obwohl Unterweltbosse wie Ron Donaldson und Lorelei Parker ebenfalls hier speisten, wandten sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre Teller und Tischnachbarn, zufrieden damit, uns bisweilen mit misstrauischen Blicken zu mustern und ansonsten in Ruhe zu lassen – zumindest für heute.

Owen und ich hatten einen wunderbaren Abend. Bis Jonah McAllister das Restaurant betrat.

Von allen Gestalten aus der Unterwelt war McAllister wahrscheinlich der Mann, der mich am meisten hasste – und das aus gutem Grund. Letztes Jahr hatte ich seinen Sohn Jake getötet, weil er erst versucht hatte, das Pork Pit auszurauben, um mir später mit Vergewaltigung und Mord zu drohen. Darüber hinaus war Jonah Mabs Rechtsanwalt gewesen, also hatte ich ihm zusammen mit seinem Gehaltsscheck auch einen großen Teil seiner Macht genommen, als ich seine Chefin erledigt hatte.

Den Gerüchten zufolge war McAllister momentan ohne Beschäftigung und auf der Suche nach einem neuen Unterweltboss – oder einer Unterweltherrin –, dem oder der er seine Dienste anbieten konnte. Darüber hinaus hatte er es auf mich abgesehen. Vor ein paar Wochen hatte er einen sadistischen Vampir namens Randall Dekes auf mich gehetzt, aber ich hatte es geschafft, den widerlichen Blutsauger unter die Erde zu bringen.

Unnötig zu erwähnen, dass Jonah inzwischen ganz oben auf meiner Abschussliste stand. Ich musste nur noch entscheiden, wann und wo ich ihn erledigen wollte – und wie sehr er dabei leiden sollte. Ich bedauerte, dass ich es nicht heute Abend durchziehen konnte. Aber ich würde mein Date mit Owen nicht ruinieren, schon gar nicht für jemanden wie Jonah McAllister.

Der Oberkellner führte den Juristen zu einem Tisch, der nur ungefähr drei Meter neben unserem stand. Trotz meines Hasses auf ihn musste ich zugeben, dass der Rechtsanwalt in seinem makellosen schwarzen Anzug eine gute, selbstbewusste Figur machte. Sein perfekt gestylter Schopf silberner Haare glänzte im gedämpften Licht des Restaurants. Niemand in Ashland – ob nun Mann oder Frau – besaß schöneres Haar.

McAllister setzte sich und sah sich um, um abzuchecken, wer sonst noch anwesend war. Er nickte Donaldson und Parker zu, die die Geste jeweils höflich erwiderten, obwohl ihr Lächeln eher spöttisch wirkte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte McAllister versucht, diese beiden und mich auf Mabs Beerdigung erledigen zu lassen. Zumindest war ich davon überzeugt, dass er hinter dem hinterhältigen Angriff steckte – selbst wenn es keine Beweise dafür gab. Es überraschte mich, dass keine der beiden Unterweltgrößen nach dem Attentat Maßnahmen gegen McAllister eingeleitet hatte. Vielleicht war ihnen nicht klar, dass er der Drahtzieher des Angriffs war. Oder sie hielten ihn dieser Tage schlichtweg nicht für wichtig genug, um von ihnen beachtet zu werden. Auf jeden Fall atmete der Anwalt noch, was ein Unding war.

Schließlich entdeckte McAllister Owen und mich. Er erstarrte und sein Mund verzog sich angewidert. Der Rest seines Gesichtes bewegte sich allerdings kein Stück. Trotz der Tatsache, dass er bereits die sechzig überschritten hatte, waren seine Gesichtszüge glatter als die eines Dreißigjährigen. Das verdankte er einer Menge teurer Luftelementar-Peelings. Eitelkeit, dein Name ist Jonah McAllister.

»Soso«, murmelte ich. »Schau nur, wer da ist. Ich bin froh, dass wir bereits den Hauptgang gegessen haben, sonst wäre mir der Appetit vergangen.«

»Ignorier ihn«, sagte Owen. »Tu einfach so, als säße er dort gar nicht. Ich will unseren Abend nicht ruinieren. Diese Befriedigung will ich ihm nicht geben und ich weiß, dass für dich dasselbe gilt.«

»Natürlich nicht. Wir wissen doch beide, dass er das nicht wert ist.«

Also konzentrierten wir uns auf unser Menü und den nächsten Gang: ein klassischer New-York-Käsekuchen mit Erdbeerfüllung für Owen und ein dekadentes Schokoladenparfait mit schwarzen Kirschen für mich. Ich aß das Dessert langsam, ließ die luftigen Lagen aus warmen Kirschen und Schokolade auf meiner Zunge schmelzen und genoss jeden süßen Bissen davon. Die ganze Zeit allerdings fragte ich mich, wie ich McAllister wohl an einen uneinsichtigen Ort irgendwo im Dunstkreis des Underwood’s locken konnte, um ihn mit der Klinge zu erstechen, die in meiner Handtasche ruhte. Das war allerdings nur ein angenehmer Tagtraum meinerseits – niemals würde er mir freiwillig folgen. Aber die Tage des Anwalts waren gezählt – selbst wenn ihm das selbst noch nicht bewusst war.

Die ganze Zeit über behielt ich McAllister im Blick, doch er schien entschlossen, mich zu ignorieren. Da der schleimige Anwalt immer wieder auf die Uhr sah, wartete er offenbar auf jemanden – und es sah aus, als würde sich seine Verabredung verspäten. Oh, wie dumm für ihn.

Ich hatte gerade meinen Löffel abgelegt und den leeren Dessertteller von mir geschoben, als sich gedämpftes Flüstern im Restaurant ausbreitete – als ob sich alle bemühten, nicht über eine bestimmte Person zu reden, nur um kläglich daran zu scheitern. Ich sah durch den Raum, weil ich mich fragte, wer oder was diesen Aufruhr ausgelöst hatte.

Und da sah ich sie.

Es hielten sich eine Menge attraktiver Frauen im Restaurant auf – die Schönheiten der Unterwelt, der Klatschspalten und aller Schichten dazwischen – und sie alle trugen die schönsten Kleider und Juwelen, die sie mit ihrem eigenen oder dem Geld ihrer Ehemänner kaufen konnten. Aber diese Frau war eine Klasse für sich. Sie war einfach atemberaubend – die Art von Frau, die fast zu schön ist, um real zu wirken.

Sie war groß und schlank, mit schön gebräunter Haut und goldenen Haaren, die in weichen, seidigen Locken bis auf die Mitte ihres Rückens fielen. Ein hautenges, paillettenbesetztes Kleid in Himmelblau schmiegte sich an den richtigen Stellen an ihre Kurven und die Schlitze an Hals und Saum gaben den Blick frei auf die Rundung ihres wohlgeformten Busens und die schlanken Linien ihrer Beine. Ein Armband aus Steinsilber glitzerte an ihrem rechten Handgelenk, in das Metall war irgendein Symbol eingraviert.

Alle im Raum drehten sich zu ihr um und ein kleines, zufriedenes Lächeln umspielte ihre rosigen Lippen. Wer auch immer sie war, sie wusste genau, wie umwerfend sie aussah. Und sie genoss die Aufmerksamkeit.

Die Frau hielt neben McAllisters Tisch an – was mich überraschte, da er meines Erachtens nicht in ihrer Liga spielte. Sofort sprang der Anwalt auf die Beine. Sie reichte ihm kühl die Hand, die er mit der Begeisterung eines Winkeladvokaten schüttelte, der sein neuestes Opfer gefunden hat. Die beiden wechselten scheinbar ein paar höfliche Begrüßungsfloskeln, auch wenn ich den genauen Wortlaut über das Klappern des Geschirrs und das fortwährende Geflüster der anderen Gäste hinweg nicht verstehen konnte.