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Sandra Frost

28 Tage

Erfahrungen mit einer
psychosomatischen Klinik in Deutschland

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder
teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten

Neuauflage, Januar 2017

Copyright © Sandra Frost

art&words – verlag für kunst und literatur

Peter R. Hellinger

Zerzabelshofstraße 41, D-90480 Nürnberg
Homepage:
http://art-and-words.de
Twitter:
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Facebook:
http://www.facebook.com/artandwords

Gesamtgestaltung: art&words
Umschlaggestaltung: Peter R. Hellinger
Foto: Sandra Frost

ISBN 978-3-943140-61-3

„Nur der ist wirklich weise, der die Dunkelheit kennt“
(Hermann Hesse)

„Manche Geschichten fordern so lauthals, erzählt zu werden, dass man sie schreibt, bloß damit sie endlich den Rand halten“
(Stephen King)

Vorwort der Autorin

Wir sind keine Menschen. Wir sind Wirtschaftsfaktoren. Wir werden daran gemessen, wie wirtschaftlich wir für den Staat sind, in dem wir leben. Jedes Neugeborene bekommt erst einmal eine Rechnung mit in die Wiege gelegt, wie viel es kostet, bevor es anfängt, produktiv zu sein. Es wird nicht gefragt, ob es seine Eltern überglücklich macht, weil es ihnen endlich geboren wurde, es wird lediglich auf die Summe reduziert, die es kostet, bis es anfängt, zu arbeiten.

In der amerikanischen Verfassung ist the pursuit of happiness, das Streben nach Glück, fest verankert. Das hört sich wunderbar an, ein gesetzlich verbrieftes Recht, nach seinem persönlichen Glück zu streben. Allerdings ist Glück ein sehr subjektiver Begriff. Denn so viel Milliarden Menschen es auf der Welt gibt, so viele Arten von Glück wird es geben. Leider ist Glück in Deutschland vollkommen unwichtig und das Recht, danach zu streben, steht nicht im Grundgesetz.

Ich bin kein guter Wirtschaftsfaktor. Eigentlich bin ich gar keiner, denn ich bin krank. Psychisch krank, um genau zu sein. Ich leide unter dem Posttraumatischen Stresssyndrom, unter schweren Depressionen und einer Angststörung. Vielleicht möchte mein Leser jetzt wissen, wie es dazu kam? Ich möchte in diesem Buch aber keine Leidenslitanei aufzählen, es mag genügen wenn ich sage, Glück gab es seit meiner frühesten Kindheit nicht. Es gab Misshandlungen, psychische und physische, und es gab Verletzungen, die tief genug waren, mich in den Zustand zu versetzen, in dem ich jetzt bin. Und weil das so ist, beziehe ich sporadisch eine Rente. Sporadisch deswegen, weil unser Staat auf eine Wunderheilung hofft und somit bin ich im Teufelskreis der deutschen Bürokratie gelandet. Alle paar Jahre wird diese Rente aberkannt. Dann muss ich dem widersprechen und es kommt zu Gutachten. Im Laufe der Jahre wurde ich von einem Gutachter zum nächsten weitergereicht, mit unterschiedlichsten Ergebnissen. Zu Beginn dieser Odyssee war ich noch so naiv zu glauben, es genügt, wenn ich die Wahrheit sage. Tut es nicht, ich musste schnell erkennen, dass die Wahrheit niemanden interessiert. Je mehr Gutachten ich bekam und las, desto erstaunter war ich, ganze Passagen aus vorhergehenden Gutachten einfach nur abgeschrieben vorzufinden. Und das, obwohl mir jeder Gutachter treuherzig versicherte, er müsse sich ein „eigenes Bild“ machen und mich somit dazu brachte, meine Lebensgeschichte immer und immer wieder zu erzählen. In der Psychoanalyse gibt es diese Meinung, man müsse nur über sein Trauma sprechen, sich damit auseinandersetzen, dann würde es sich lösen und alles wäre wieder gut. Nun, ich habe darüber gesprochen, öfter, als mir lieb war, ich habe darüber gesprochen und auf die Erlösung gewartet, die nicht kam. Im Gegenteil, ich saß da mit den aufgerissenen alten Narben und Wunden, mit Erinnerungen, die über mich hereinbrachen und gegen die ich mich nicht mehr schützen konnte, weil ich den Fehler begangen hatte, mich zu öffnen.

Prolog

Das Wetter hat sich meiner Stimmung angepasst. Es ist grau. Es ist nicht kalt und es regnet auch nicht. Der Himmel ist nur nicht so strahlend blau wie er noch gestern war und es scheint nicht das kleinste bisschen Sonne durch die graue Wolkendecke.

Gestern habe ich mir erlaubt, nur noch Dinge zu tun, die mir gut tun, die gut für meine Seele sind. Es war wunderbar warm, die Sonne strahlte vom Himmel, ich saß am Fluss und löffelte einen Eierlikör-Eisbecher, in dem der Eierlikör zwar nur im Namen vorhanden war, aber das störte mich nicht sonderlich. Ich sah den Enten und Möwen zu, fütterte einen jungen Spatzen mit Eiswaffelkrümeln, sah mir die Menschen an, die vorbeigingen und die Sonne genossen, genau wie ich. Ich erlaubte mir den unbezahlbaren Luxus, mich inmitten einer Menschenmenge aufzuhalten, ohne dass irgendjemand etwas von mir wollte. Der reine Luxus: in Ruhe gelassen werden! Denn damit ist ab heute Schluss. Für die nächsten 28 Tage wird jede Regung, jede Miene, jede Aktion oder Reaktion meinerseits überwacht, dokumentiert und analysiert. Warum lächle ich, warum lächle ich nicht, warum antworte ich auf etwas, und vor allem, wie tue ich das? Und warum, bitte, antworte ich nun nicht mehr? Vielleicht, weil mir gerade nichts einfällt. Vielleicht, weil ich einfach todmüde bin. Oder vielleicht, weil es mir einfach zu blöde ist . Und ganz sicher, weil ich nicht mehr so naiv bin, brav und willig jede noch so intime Frage über mein Familienleben, meinen Freundeskreis und mein Sexualleben zu beantworten, nur um diese Themen dann verdreht und therapeutisch interpretiert in Gutachten wiederzufinden, die in Akten landen, die durch unendlich viele Hände gehen. Ich werde in Schweigen versinken, ich werde mich so gut es geht in meiner Seele einschließen, wie ich mich in meinem Zimmer dieser psychiatrisch/psychotherapeutischen Klinik verkriechen werde. Wenn ich nichts sage und mich unsichtbar mache, übersehen sie mich ja vielleicht und haben nichts in der Hand, was sie in einem neuen (dem wievielten?) Gutachten gegen mich verwenden können.

Ich bin traurig. Heute morgen habe ich mich von meinen Schweinchen verabschiedet, sie werden mir fehlen. Niemand, der am Morgen Spalier steht und lauthals nach Futter muigt … Meerschweinchen pfeifen oder quieken, aber wenn man genau hinhört, klingt es wie ein fröhliches Muiiig-Muiiig! Die beiden sind zwar nicht wie Kinder für mich, aber sie sind wichtig, sind ein Teil meiner Familie. Es gibt nichts beruhigenderes, wenn man nachts nicht schlafen kann, als so ein Schweinchen zu streicheln wenn es sich vertrauensvoll an einen schmiegt und leise gurrt und fiept. 28 Tage niemand da, der sich laut pfeifend freut, wenn ich die Tür aufsperre. Natürlich werden sie gut versorgt sein, meine Tochter wird sich um sie kümmern. Und natürlich vermisse ich auch meine Tochter, aber wir werden immerhin täglich Kontakt haben. Ich bin zwar in einer Klinik, aber keine Strafgefangene.

Die Landschaft, die draußen vorüberzieht, ist trügerisch. Alles explodiert in frischen Farben, hellgrün und die Rapsfelder blühen knallgelb, aber nichts kann in mir darüber hinwegtäuschen, dass ich auf dem Weg in meine ganz persönliche Hölle bin.

1.

Showtime!

Da bin ich also, denke ich. Und sofort als nächstes: Hier war ich schon mal! Ich war in meinem Leben schon in wenigstens zwei Hotelzimmern, die exakt gleich gebaut und ebenso exakt identisch eingerichtet waren. Der gleiche Eckschreibtisch an der Wand vor dem Fenster, genau das gleiche Bett mit dem Einbauregal ums Kopfende, der gleiche dreitürige Kleiderschrank mit dem Schranktresor, der ein Alibischloss hat, das man mit jeder Haarnadel auf bekommt, ein entsetzlich hässlicher Teppichboden und zwei Stühle, die aussehen, als wären sie vierzig Jahre alt. Mir kommt der Gedanke, wieso um Himmels Willen lassen sich psychiatrische Kliniken und Hotels von derselben Möbelfirma einrichten? Und ich beschließe spontan, sollte ich diese Einrichtung noch einmal hinter einer Hotelzimmertür vorfinden, die ich öffne, ein anderes Zimmer zu verlangen oder das Hotel zu verlassen. Warum? Weil ich mich wohl in Zukunft weigern werde, für einen Ort zu bezahlen, an dem ich mich unter anderen Umständen sicher nicht freiwillig aufhalte.

Ich fühle mich etwas verloren, mein Gepäck ist noch nicht da und das macht mich nervös. Außerdem habe ich Hunger. Ich bin übermüdet und außer einem Pappbecher Kaffee am Startbahnhof ist mein Magen leer. Die Aufnahmeschwester sagt mir, ich könnte auch noch in den Speisesaal gehen, dort bekäme ich Mittagessen. Als einzige Person in einem Saal für ca. 200 Patienten komme ich mir total blöd vor, aber als der Teller mit dem Warmhaltedeckel vor mir steht, vergesse ich das. Gulasch, Rotkohl und Nudeln, lecker – dachte ich. Wie schafft man es, sogar Rotkohl zu versauen? Die Nudeln waren kalte Pampe, das Fleisch war allerdings okay. Wenn dieses erste Essen repräsentativ für gesund und wohlschmeckend steht, muss ich mir keinerlei Sorgen um meine Figur machen, wirklich! Hunger oder nicht, ich ließ mehr als die Hälfte stehen, bevor ich mich zu meinem ersten wirklichen Termin aufmachte, dem Eingangsgespräch mit dem Therapeuten.

Ich musste einige Zeit vor der Tür warten und wurde immer nervöser. Das steigerte sich so, dass meine Beine sichtbar zitterten. Ich dachte, wenn ich aufstehe, knicken sie mir weg. Was erwartet mich da? Mich erwartete eine junge Diplompsychologin, offensichtlich etwas ahnungslos. Na gut. Aber entspannen konnte ich mich deshalb nicht, meine Beine zitterten immer noch. Es ist unvermeidlich, dass sich das Gespräch in eine Richtung wendet, die ich ganz eindeutig vermeiden möchte: meine Vergangenheit. Aber auf ihre erste Frage Warum sind Sie denn hier? reagierte ich dann doch etwas irritiert. Es existieren Berge von Akten widersprüchlichsten Inhalts über mich. Liest die eigentlich überhaupt jemand? Oder guckt sie wenigstens mal oberflächlich an? Langsam beschleicht mich der Verdacht, das ist nicht der Fall. Wie käme es sonst zu solchen Fragen? Das sagte ich ihr auch so in etwa. Und aus eben diesem Grund werde ich auch nicht noch einmal meine Lebensgeschichte herunter leiern, das habe ich schon zu oft getan und in einer Stunde ginge das sowieso nicht. Natürlich wollte sie wenigstens einen groben Überblick meiner Beschwerden und woher die rühren, schließlich musste sie mir ja irgendwelche Therapien verordnen. Den wirklich sehr groben Überblick bekam sie denn auch, ohne dass ich ein Detail ansprach, nur ein einziges am Schluss, die Krönung sozusagen. Die Psychologin war ohnehin schon leicht beunruhigt durch meine Erzählung, aber unter diesem letzten Punkt zuckte sie sichtbar zusammen. Ganz kurz, aber ich habe es bemerkt und dachte mir: „Ja, Dir erzähl ich das bloß, und nicht mal in allen Einzelheiten, und das findest Du schon schlimm. Ich habe es erlebt und lebe seitdem täglich damit.“ Und der Zugang dazu ist fein säuberlich zugemauert und ich habe bestimmt nicht vor, ihn wieder einreißen zu lassen.

Wie vorausgesehen bekam ich die obligatorische Gruppentherapie verordnet, die ich hasse wie die Pest. Ich kann das beurteilen, es ist nicht die Erste. Ich habe dort noch nie den Mund aufgemacht sondern die anderthalb Stunden abgesessen und gehofft, es möge schnell vorbeigehen. Ich gehöre einfach nicht zu den Menschen, die ihre schwierigsten Probleme vor anderen breittreten und ich will auch nicht die von anderen hören. Was auf keinen Fall bedeutet, ich wäre so abgebrüht, dass sie mich nicht interessieren oder sie herabsetze als unwichtigen Kleinkram. Jeder Mensch mit psychischen Problemen hat auch einen Grund dafür und dieser Grund ist in den allermeisten Fällen alles andere als harmlos. Nein, es ist einfach so, dass mich diese Probleme noch zusätzlich belasten, weil mir die Geschichten der anderen sehr nahegehen. Im Lauf der Zeit habe ich lernen müssen, mich davon abzugrenzen, um mich zu schützen. Anders in der Einzeltherapie. Wenn ich dem Therapeuten traue, habe ich weniger Probleme, auch über die schlimmsten Dinge zu sprechen. Aber wie der damit fertig wird, ist auch nicht mein Problem. Er hat diesen Beruf gewählt und will das nicht anders, im Gegensatz zu den Patienten, die in der Gruppentherapie gezwungen sind, sich alles mit anzuhören.

Musiktherapie, Stabilisierungsgruppe, progressive Muskelentspannung stehen auch noch auf dem Programm, sowie die medizinische Untersuchung und die daraus folgenden Behandlungen wie Sport, Schwimmen, Krankengymnastik. Alles in allem ist mein Terminplan wohl recht voll.

Die medizinische Untersuchung war in gewisser Weise erheiternd, denn die Ärztin stellte fest, dass ich wohl gelenkiger als sie wäre und viel Gymnastik machen würde. Das typische Vorurteil eben: wenn jemand eine Körperbehinderung hat und noch dazu etwas korpulent ist, bedeutet das automatisch, derjenige ist ein Couch-Potato und hat keine Kondition. Ich wollte auch unbedingt etwas sportliches machen, weil man gerade in den Psycho-Abteilungen stundenlang nur sitzt und mich das wahnsinnig macht. Jetzt darf ich schwimmen gehen und einmal in der Woche zum Sport, ein Ausgleich, den ich ganz sicher brauchen werde.

Somit war der erste Tag in der Klinik für mich, von offizieller Seite wenigstens, beendet. Mein Gepäck war inzwischen auf meinem Zimmer angekommen und ich packte meine Sachen aus. Es war irgendwie beruhigend, die vertrauten Sachen in die Hand zu nehmen, meine vertraute Kuscheldecke aufs Bett zu legen und mein Plüsch-Schäfchen aufs Kopfkissen zu setzen. Dinge, mit denen ich mich an meinem realen Leben draußen festhalten kann.

2.

„Nichtssagenkönnen ist gleich Schweigen
ist gleich Widerstand.“

(Martin Walser, Der Augenblick der Liebe)

Mein Leben besteht aus Fragen. Hauptsächlich, wie es mir geht und warum es mir so geht, wie es mir geht. Jeden Morgen das Selbe: Ich bin Susi und habe gut geschlafen. Ich bin Hans und habe schlecht geschlafen. Ich bin Daniela und habe gar nicht geschlafen, bla bla bla … Jeden Morgen. Und ich möchte gar nichts sagen. Nicht jeden Morgen und nicht gezwungener Maßen, es wird mehr und mehr eine hohle Phrase. Zumal ich nichts hören kann, der Tinnitus in meinen Ohren fiept und pfeift immer lauter und die Leute in der Gruppe flüstern. Es ist ein unglaubliches Phänomen: Menschen, die im Gang, draußen auf der Wiese oder im Speisesaal völlig normal mit mir sprechen, beginnen – zusammengesperrt in einem Gruppenraum – zu flüstern und zu piepsen, als wären sie am liebsten unsichtbar, kleine Mäuse oder sowieso besser gar nicht da. Ich verstehe kein einziges Wort. Und ich habe es aufgegeben, dauernd darum zu bitten, lauter zu sprechen. Sie können es auch nicht. Sie sind in der gleichen Situation wie ich: etwas sagen zu müssen, ohne es zu wollen, über etwas zu sprechen, was ihnen schwerfällt. Selbst wenn die ersten Worte eines Satzes in normaler Lautstärke ausgesprochen werden, werden sie danach immer leiser und leiser. Piepsflüster

Alles hier passiert in Gruppen, sogar die Oberarzt-Vorstellung. Nur dass es sich dabei nicht um eine Gruppe Patienten handelt sondern um Psychologen und Psychiater, die mich alle anstarren. Meine Psychologin hat mich vorbereitet, was mich erwartet und hilft mir, in dem sie erzählt, was sie von mir weiß und ich nur bestätigend nicke oder etwas murmle – piepsflüster! Natürlich kam zur Sprache, dass ich schon einmal in einer ebensolchen Klinik war, gar nicht weit von hier. Und ich wurde gefragt, wie es für mich war. Ziemlich furchtbar, aber ich wich aus, positiv als auch negativ. Fehler Nummer Eins! Der Oberarzt wollte wissen: „Was war positiv? Geben Sie mal ein Beispiel.“

Los, überlege! Denk Dir was glaubwürdiges aus, schnell! Gar nicht so einfach, wenn die Beine zittern wie verrückt, die Ohren pfeifen und das Gesicht glüht … Selbstbewusstsein! Das passt immer.

„Es hat mir geholfen, mein Selbstbewusstsein aufzubauen“, flöte ich. Wirklich jeder Mensch, der mich gut kennt, würde jetzt laut lachend über den Fußboden rollen. Nicht, weil ich keins habe sondern weil es das Letzte ist, was ich aufbauen müsste. Aber der Oberarzt war zufrieden mit meiner Antwort, hab ich fein gemacht! Und somit war ich entlassen. Fünfzehn Minuten, nach denen ich eine Stunde brauchte, meine Beine wieder unter Kontrolle zu bekommen, meine Stimme wieder zu finden – Piepsflüster! – und meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen.

Am Nachmittag hatte ich dann eine Einführung in die Musiktherapie. Die war richtig gut, der Musiktherapeut sprach laut genug und er hatte einen scharfen Blick. Beim reinkommen in den Raum erfasste ich schnell die wenigen Instrumente darin und strich ganz kurz mit den Fingerspitzen über das Marimbaphon. Ich dachte einen Augenblick an Alex Jacobowitz, einen Straßenmusiker, der mit seiner Marimba in regelmäßigen Abständen überall in Deutschland auftaucht und wundervoll spielt. Er stellt sein Instrument immer mit folgenden Worten vor: „This is my wife!“ Besser kann man wohl kaum eine innige Beziehung zur Musik und deren Ausdrucksform beschreiben. An ihn musste ich denken, als ich die Finger über das Instrument strich, nur eine Sekunde, aber der Musiktherapeut sah es trotzdem. Also war ihm auch klar, dass ich Ahnung von Musik und Instrumenten hatte und meine Einführung fiel relativ kurz aus. Ich sah mir dann an, wie er mit meinem Mitpatienten umging, und das gefiel mir, recht einfühlsam. Musiktherapie ist zwar für mich eine etwas merkwürdige Therapieform, aber die bei weitem erträglichste. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, welchen Sinn es macht, Menschen, die noch nie ein Instrument in der Hand hielten, darauf spielen zu lassen und dann zu interpretieren, welche Stimmung daraus zu lesen sein soll. Wenn ich depressiv bin, setze ich mich ans Klavier und spiele Chopin, das versteht jeder. Wenn ich aber nicht weiß, welche Töne ein Instrument macht, kann ich auch nichts damit ausdrücken. Denke ich mir so.. Der Therapeut erklärte allerdings, auch das Suchen nach passenden Tönen wäre ja schon eine Form des Ausdrucks. Na ja, wenn man das so sieht … Jedenfalls werde ich damit sehr gut zurecht kommen.

Anders als mit der Gruppen-Gesprächstherapie. Das ist eine Horrorvorstellung für mich. Bestenfalls kann ich in dem Raum sitzen und einfach 90 Minuten abwarten, ohne etwas zu sagen. Über mich würde ich in dieser Situation niemals etwas sagen. Schwerer fällt es mir aber, nichts über die Äußerungen der anderen zu sagen. Das kann man allerdings lernen. Trotzdem ändert es nichts an der realen Situation, gezwungen zu sein, anderthalb Stunden mit mehreren anderen Menschen in einem Raum quasi eingesperrt zu sein und darauf zu warten, vom Gruppentherapeuten provoziert zu werden, bis man eine Reaktion zeigt. Eine öffentliche Reaktion, die dann zerpflückt und zerredet wird.

„Es durfte nur nicht erwartet, ja verlangt werden, dass er, was ihm nicht passierte, in jeder Sekunde aufsage, vor ihr aufsage. Für sich sein. Für sich sein dürfen. Deine Stimmung empfinden dürfen, wie du sie jetzt, gerade jetzt, empfindest. Sie nicht übersetzen müssen ins Erträgliche, gar für den anderen Erträgliche. Eine Drecksstimmung eine Drecksstimmung sein lassen.“
(Martin Walser, Der Augenblick der Liebe)

Genau das können sie nicht. Eine Drecksstimmung, meine Drecksstimmung, eine sein lassen. Warumwarumwarum? Und dann muss ich mir irgendeine Erklärung aus den Fingern saugen. Gruppentherapie bedeutet für mich einen unerträglichen Zwang.

Aber ich denke, ich werde das schon in den Griff bekommen. Schweigen und abwarten, die Zeit abwarten und ab und zu einen verstohlenen Blick auf eine Armbanduhr werfen, um zu sehen, wie lange diese Prozedur noch dauert. Dieses erzwungene Gerede über Gefühle und die Unfähigkeit der Therapeuten, einmal etwas nicht zu hinterfragen, treibt seltsame Blüten. Es gibt den Begriff Therapeutenfutter. Wenn ein Therapeut fragt und bohrt (Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Sie so handeln? Warum ist das bei Ihnen so? Sie müssen da tiefer gehen …), wirft man ihm irgendwas hin.

Mein Vater ist Alkoholiker.

Meine Mutter ist auf den Strich gegangen.

Mein Bruder hat mich missbraucht, als ich zwölf war.

Kein Wort davon ist wahr, aber die Therapeuten stürzen sich darauf wie Hyänen. Endlich, endlich stellt sich der Patient seinem tiefsten Trauma! Endlich beginnt er zu erkennen, warum er mit fünfzehn angefangen hat, Drogen zu nehmen! Sie kommen keine Sekunde darauf, dass er mit vierzehn einfach neugierig und doof war und nur die falschen Freunde gehabt haben könnte. Hinter absolut allem muss ein tieferer Sinn stecken, und wenn es keinen gibt, muss eben einer erfunden werden. Ein Mensch, dem diese Dinge wirklich widerfahren sind, wird niemals so leicht darüber sprechen. Vielleicht ein einziges Mal, vielleicht in kleinen Etappen, vielleicht auch nie – aber sicher nicht zu einem Therapeuten, der darauf drängt, er müsse nun endlich etwas sagen.

Natürlich ist das nicht immer so, zum Glück! Aber es kommt vor. In abgeschwächter Form jedenfalls jeden Morgen in der sogenannten Befindlichkeitsrunde. Ich frage mich, wann einem die nichtssagenden Floskeln ausgehen. Nach sieben Tagen oder vierzehn?