Inhalt


Vorwort
Witz
Prolog: München, an einem Abend in naher Zukunft
1. Der junge Cromer
2. Die Tübinger Zeit
3. Mara
4. Die Anfänge in München
5. Wie alles begann
6. „Get me the guy with the yellow bags“
7. Die Träume werden Wirklichkeit
8. Geschäftseröffnungen in aller Welt
9. Wer nicht wirbt, der stirbt
10. Michael Cromer in New York, Michael Cromer in Paris
11. Das Noble House
12. Der asiatische „Graumarkt“
13. Cindy Crawford, das schönste Model meiner Kataloge
14. Die erste anonyme Anzeige beim Finanzamt
15. Von Bankenpools, Beratern und anderen Konsorten
16. Der Spagat: Steuerfahndung im Unternehmen und Werbetour mit Cindy
17. Mein Haus, mein Auto, mein Boot!
18. Die zweite anonyme Anzeige beim Finanzamt
19. Ab in die Schweiz für drei unendlich lange Jahre
20. Der Sanierer, die Treuhänder, die Banken
21. Lenkungsausschüsse und die Macht der Banken
22. Der schwarze Tag – mein Lebenswerk wird verramscht
23. Von vermeintlichen Vorkaufsrechten und anderen bösen Dingen
24. „Es gilt das gesprochene Wort“
25. Quo vadis, Warenlager? Chronik eines angekündigten Konkurses
26. Die Lichter gehen aus
27. Ein Zeitungsbericht der ganz besonderen Art
28. Im Namen des Volkes – das Urteil. Oder: Der Berg kreißte und gebar ein Mäuschen
29. Der lange Weg zur Wahrheit
30. Aufgeben oder neu anfangen?
31. Mein Start zurück ins Leben
32. Meine neue Kollektion
33. Die zehn überlebenswichtigen Unternehmerregeln von Michael Cromer
Epilog
Nachwort der Autoren
Danksagung

Impressum




© 2016, hansanord Verlag


Alle Rechte für diese Ausgabe vorbehalten
Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikrofilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen - nur nach Absprache und Freigabe durch den Herausgeber.


ISBN: 978-3-940873-70-5



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Michael Cromer • Gerda Melchior • Volker Schütz


DIE

MICHAEL CROMER MÜNCHEN

STORY


Von Haien umgeben und von Neidern hintergangen

Ein detailliert geplanter Ruin

 

 

über die Autoren



Michael Cromer, Jahrgang 1939, ist Gründer der weltbekannten Modemarke MCM. Er schaffte es ganz alleine vom kleinen Designer hin zum Besitzer eines erdballumspannenden Modeimperiums. Seine Kollektionen wurden weltweit verkauft. Das rief auch seine Neider auf den Plan. Der April des Jahres 1996 brachte die Wende, und er verlor alles: seine Firma, sein Lebenswerk und seinen guten Namen. Aber Michael Cromer gab nicht auf. Fast 10 Jahre lang versuchte er vergeblich, Recht zu bekommen. Bis eines Tages diejenigen, die ihn seinerzeit um alles gebracht hatten, untereinander zu streiten begannen.

Gerda Melchior, geb. in der Nähe Wiens, seit einigen Jahren wohnhaft in Düsseldorf und Baden. Die zweifache Mutter ist mit dem Rechtsanwalt Volker Schütz verheiratet, mit dem sie das Autorenduo Gerda Melchior/Volker Schütz bildet. 

 

 




Dieses Buch möchte ich meiner Frau Mara widmen.

Sie hat diese furchtbare Zeit bis heute wie ein guter

Engel durchgestanden. Sie hat mich getröstet, sie hat

mich wieder aufgerichtet, wenn ich dachte, es ginge

nicht mehr. Woher meine zierliche Mara diese Kraft

nimmt, wird mir aber ewig ein Rätsel bleiben.


In Liebe,

Dein Michael

 







„Nein, mache ich nicht, denn ich bin deutscher Staatsbürger,
ich habe meine Firma in Deutschland aufgebaut,
ich produziere ein deutsches Qualitätsprodukt
und ich zahle die Steuern in meinem Land.“


Meine Antwort im Jahre 1985 auf die Frage einer meiner Franchisenehmer, warum ich denn so blöd sei
und nicht all meine Firmen und Wohnsitze ins steuergünstige Ausland verlege.

Danksagung



Mein innigster Dank geht an
meine Frau Mara, von der ich alles Böse abhalten wollte, was mir leider nicht immer gelungen ist;
unsere Tochter Patrizia, die in der schweren Zeit wie eine Löwin an unserer Seite gekämpft hat;
unsere Enkelkinder Montana und Indiana, die Mara und mich durch ihr Lachen und ihre Lebensfreude oftmals alle Sorgen vergessen lassen;
meine Schwiegereltern, die hoffentlich noch lange an unserer Seite sein werden.

Außerdem danke ich
Gerda Melchior und Volker Schütz, die monatelang in Bergen von Unterlagen gewühlt und fast schon darin gelebt haben, und die es geschafft haben, mein Leben filmreif darzustellen;
Carolin und Peter, die Mara und mir durch schlimme Zeiten hindurch bis heute zur Seite stehen;
Hans Peter Ager für die langjährige Beratung;
Ralph Langer und Peter Albrecht, die mit mir gemeinsam in die Zukunft blicken;
Thomas und Brigitte, die mitgeholfen haben, die schlimme Zeit zu überstehen;
meinem Freund Fritz Wepper, einem der wenigen, der niemals einen Unterschied zwischen den guten und den schlechten Zeiten machte;
unserer langjährigen Freundin Inge Helmig aus Los Angeles, die immer für uns da war;
dem Herzchirurgen Dr. Maurus Huber in Hirslanden bei Zürich, dessen medizinische Kunst mir im Jahre 1998 das Leben rettete;
der Koryphäe Prof. Dr. Rüdiger Lange vom Herzklinikum München, ohne den es mich sicherlich nicht mehr gäbe;
dem Gefäßspezialisten Prof. Dr. H. H. Eckstein und dem Team der Intensivstation des Klinikums rechts der Isar, die in diesem Jahr mit ihrem Können mein Leben wieder ins Gleichgewicht gebracht haben;
meinem Freund, Dr. med. Detlev Glas, dem für mich besten Zahnarzt Münchens;
Frau Belinda Manich für die seelische Unterstützung;
Herrn Professor Dr. Georg Vogel und seiner Assistentin Frau Charlotte Komm für ihre langjährige medizinische Hilfe, wann immer ich diese nötig hatte;
Herrn RA Dr. Wolfgang Kreuzer für seine Ratschläge und seine anwaltliche Unterstützung in großen Krisen;
Herrn RA Michael Lüken für seinen langjährigen Rechtsbeistand;
Herrn RA Michael von Sprenger, der als Medienfachanwalt immer an meiner Seite war;
meinem Berater und Helfer in allen Immobilienfragen, Herrn RA Prof. Dr. Volker Thieler;
Herrn RA Jan Schmitz-Rathsfeld für die Beratung in schweren Zeiten;
Herrn RA Dr. Dieter Münch aus Zürich, der uns wie kaum ein anderer geholfen hat, die Übernahme durch die Schweizer zu durchschauen;
den Herren Dr. Knut Optenhögel und Dr. Axel Heibges für ihren unermüdlichen Einsatz bei der Aufklärung der steuerlichen Verhältnisse;
Herrn Klaus Zissner, der vor vielen Jahren als Geschäftspartner in mein Leben getreten ist und heute als Freund für mich da ist.

Vorwort



Viele haben mich gefragt, warum ich erst jetzt, nach mehr als zehn Jahren in völliger Zurückgezogenheit, mein Leben in Buchform erzähle.
Die Frage ist allein deshalb schon berechtigt, da ich ohnehin schon immer die Geschichte meines Lebens erzählen wollte: wie alles begann, wie alles kam, wieso ich meine Firma, die zu einem Imperium wurde, verloren hatte.
Und Sätze wie „Ach, den Cromer, ja den gibt’s auch noch?“, „Was, jetzt erst schreibst du deine Biografie? Wieso nicht früher?“, „Meinst du, es glaubt dir jemand, wenn du heute, nach so vielen Jahren, die Wahrheit erzählst?“ habe ich zur Genüge gehört.
Und doch bin ich mir sicher, dass erst jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um meine Lebensgeschichte aufzuschreiben.
Erstens brauchte ich lange Zeit, um mich neu zu orientieren, um zu verstehen, um zu begreifen, um nicht verrückt zu werden.
Und zweitens war es gar nicht so einfach jemanden zu finden, der die notwendigen Zusammenhänge sowohl wirtschaftlich als auch, und das vor allem, juristisch verstehen konnte.
Dies ist jetzt aber gelungen und ich habe in meinen beiden Autoren das perfekte Team für die Umsetzung meiner Lebensgeschichte gefunden.
Wenn ich so an meine Vergangenheit zurückdenke, mir die alten Videos ansehe, auf denen ich Seite an Seite mit den Promis dieser Welt stehe, wenn ich Aufnahmen von den Eröffnungen meiner Stores betrachte, kommen die Erinnerungen so stark in mir hoch, dass ich mich jedes Mal frage, wieso ich nicht gemerkt habe, was da alles so ablief.
Wieso es dazu kam, dass man mir mein Lebenswerk und mein Leben rauben konnte.
Ja, mein Leben, nicht mein Warenlager, nicht eines meiner Autos, keine Wertsachen aus meinem Haus, nicht mein Haus. Nein, mein Leben.
Alles, was mir wichtig war, alles, was ich jahrelang aufgebaut hatte, ist heute in den Händen von Menschen oder Firmenkonstrukten, die keine Ahnung davon haben, wie viel Zeit, Energie, Fleiß und unternehmerischen Idealismus es bedurfte, diese Weltmarke aufzubauen.
Sie haben alle keine Ahnung von meinen damaligen Zielsetzungen, von meinen unendlich vielen schlaflosen Nächten, in denen ich im besten Fall an meinen Kollektionen herumfeilte, aber meist einfach nur nächtelang überlegte, wie ich all meine Ideen bestmöglich umsetzen konnte: ob alles, was ich plante, auch zu realisieren war, und ob die dazu notwendigen finanziellen Mittel auch ausreichten.
Kaum einer wusste, dass ich am Anfang von 100 verdienten DM sofort 200 DM in neue Investitionen stecken musste, um das zu erreichen, was dann, Jahre später, den unstillbaren Neid von wildfremden Personen und Firmenkonstrukten weckte. Und dass ich all dies nur durch den Fleiß und die Hilfe meiner Frau schaffte, von deren Einkünften aus ihrem florierenden Friseurladen wir all die Anfangsjahre leben und überleben konnten.
Erst heute, da sich diejenigen, die sich damals zusammenfanden, um meine Firma zu übernehmen, uneins werden und einander vor Schweizer Gerichte zerren, fügt sich mit einem Mal ein Puzzleteil zum anderen.
Ich bekam Kenntnis von Ereignissen rund um die Übernahme meiner Firma und meiner Marke, weil auf einmal einige Personen, die selbst von ihren Partnern oder vermeintlichen Verbündeten übervorteilt wurden, zu sprechen begannen. Weil auf einmal, nach nun fast zehn Jahren, unfassbare Transaktionen ans Tageslicht kamen und nicht nur ich fassungslos war.
„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann“, heißt es.
Man hat mir alles genommen, ich habe alles verloren. Nur alles, was ich jemals erlebt hatte, das konnten sie mir nicht wegnehmen.
Und deshalb ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, meine Lebensgeschichte zu erzählen.

Herzlichst,
Ihr
Michael Cromer



Ein Schäfer sitzt zufrieden in der Sonne und hütet seine Herde.
Plötzlich hält unweit von ihm ein offenes Mercedes Cabrio. 
Ein schneidiger Typ steigt aus, mit Nadelstreifenanzug, gelber Krawatte, handgefertigten Schuhen und gegelten Haaren, und sagt zu dem Schäfer:
„Guten Tag, was bekomme ich, wenn ich Ihnen sage, wie viele Tiere Sie haben?“
„Nun“, sagt der Schäfer, „dann bekommen Sie eines meiner Schafe.“
Der schneidige Typ geht an seinen Kofferraum, holt einen Laptop heraus, rechnet eine Weile und sagt dann: „Sie haben 959 Tiere.“
„Stimmt“, sagt der Schäfer, „nehmen Sie sich ein Schaf.“
Der schneidige Typ trifft seine Auswahl und ist schon auf dem Weg zu seinem Auto, da sagt der Schäfer: „Wenn ich Ihnen sage, was Sie von Beruf sind, bekomme ich das Tier dann zurück?“ 
Der Typ willigt ein, und der Schäfer sagt: „Sie sind Firmensanierer!“
„Stimmt“, staunt der schneidige Typ, „aber wie haben Sie das erraten?“
„Das kann ich Ihnen sagen“, meint daraufhin der Schäfer. „Erstens sind Sie hier aufgetaucht, ohne dass ich Sie gerufen hatte. Zweitens haben Sie mir etwas erzählt, was ich bereits wusste. Und drittens hätte ich jetzt gerne meinen Hund zurück!“

Prolog



München, an einem Abend in naher Zukunft

Er hatte es geschafft. Müde, aber zufrieden sank Michael Cromer auf einen für ihn bereitgestellten Stuhl, schloss die Augen und ließ die vergangenen drei Stunden noch einmal vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Die Präsentation war problemlos – nein, immer positiv denken, rief er sich zur Ordnung –, sie war erfolgreich über die Bühne gegangen. Alle Gäste, die er zusammen mit seiner Frau auf einer schier unendlichen Vorschlagsliste ausgesucht und mit einer Einladung bedacht hatte, waren tatsächlich, bis auf wenige unbedeutende Ausnahmen, erschienen. Nein, korrigierte er sich wieder, so war es nicht gewesen. Eigentlich hatte vorwiegend seine Frau die Auswahl getroffen, sich in vielen Fällen durchgesetzt und Recht behalten.

Seine Frau Mara. Michael Cromer öffnete die Augen und blickte zu ihr herüber, beobachtete sie dabei, wie sie die zahlreichen Helfer anwies, die Kollektion wieder in die richtigen Kartons zu verpacken, die mitgebrachten, von ihm selbst entworfenen Dekorationen abzubauen. Er beobachtete, wie sie hier und da unermüdlich selbst dort zupackte, wo es gerade nötig war. Seine Mara, die ihn durch all die schönen, erfolgreichen Jahre, in denen er im Luxus gelebt hatte, begleitet hatte und die auch in den vergangenen zehn schweren Jahren unerschütterlich an seiner Seite stand. Diese zierliche Frau, seine Frau, die ihm Kraft gab, von der er selbst nicht wusste, woher sie sie nahm; in einer Zeit, in der ihn vermeintliche Freunde im Stich ließen, in der er von allen Seiten angefeindet wurde und die Medien ihn brandmarkten, als den Blender, den Bankrotteur, den Mann, der auf viel zu großem Fuß gelebt hatte.

Seufzend legte Michael Cromer den Kopf zurück und schloss die Augen wieder. Die Medien. Auch sie hatten offenbar der Versuchung nicht widerstehen können und zahlreiche Vertreter zur Präsentation seiner neuen Kollektion entsandt. Die Fragen in den Interviews waren wohlwollend gewesen, sogar von dieser giftigen Lifestyle-Tante eines Privatsenders. Niemand hatte nach seiner Vergangenheit gefragt, nach den hinter ihm liegenden Jahren.

Aber warum auch? Es wussten doch sowieso alle Bescheid. Und trotzdem waren sie gekommen, oder vielleicht deswegen? Michael Cromer musste lächeln. Nun, die Form der Einladung und der Veranstaltung hatten bestimmt neugierig gemacht und positiv eingestimmt, schließlich wusste er aus den letzten Jahrzehnten, was und wie man etwas tun muss, um auf sich und seine Schöpfungen aufmerksam zu machen, wie man Interesse weckt und Begehrlichkeiten ... Allerdings – man musste abwarten, was morgen und in den nächsten Tagen verfasst, gedruckt, gesendet werden würde, nur das zählte, nicht der Eindruck dieses Abends.

„Herr Cromer?“ Die jugendlich klingende, weibliche Stimme riss Michael Cromer aus seinen Gedanken.

„Entschuldigung, bitte! Herr Cromer?“ Michael Cromer öffnete die Augen. Vor ihm stand eine junge Frau, nein, eher ein zierliches junges Mädchen, das ihn mit wachem, forschendem Blick musterte. Der Notizblock sowie ein Diktiergerät in ihren Händen sagten ihm, dass es sich wohl um eine Pressevertreterin handeln müsse.

Gut, ein abschließendes Interview, das würde er auch noch schaffen. Mit einer für ihn selbst überraschend dynamischen Bewegung erhob sich Michael Cromer von seinem Stuhl. Erst jetzt bemerkte er hinter dem jungen Mädchen den bärtigen Mann mittleren Alters, der sich durch seine umgehängte Profi-Digitalkamera als der dazugehörige Pressefotograf auswies.

„Mit wem habe ich das Vergnügen, und was kann ich für Sie tun?“, klang Michael Cromers warme sonore Stimme durch den Raum, sodass die emsigen Helfer um ihn herum für einen Moment überrascht ihre Arbeit unterbrachen und sich umwandten.

„Annette Beyer von der Abendpost“, stellte sich das junge Mädchen vor und streckte Michael Cromer ihre schmale Hand hin. „Und das ist mein Kollege Mertens.“

Michael Cromer ergriff die Hand und war erstaunt über den festen Druck. Dann wandte er sich dem bärtigen Mann zu. „Guten Abend, Herr Mertens, Sie wollen ganz offensichtlich noch ein paar Fotos von mir schießen. Aber ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet, oder?“

„Richtig, Herr Cromer“, lächelte der Fotograf, „mehrfach sogar. Ihr Personengedächtnis ist unglaublich. Ich bin jetzt seit 30 Jahren im Geschäft, und unser Archiv ist voll von Aufnahmen, die ich von Ihnen gemacht habe. Aber dass Sie sich an mich erinnern ...“

„Ich möchte Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, Herr Cromer“, unterbrach ihn das junge Mädchen. „Ich habe nur noch einige Fragen. Zunächst einmal, Ihre Präsentation hat mich sehr beeindruckt, schade, dass ich noch nicht so viel verdiene, um mir Ihre Kreationen leisten zu können.“

„Danke, danke, und keine Sorge, das kommt schon noch“, erwiderte Michael Cromer und fügte dann mit einer ausladenden Armbewegung hinzu: „Also fragen Sie, Frau Beyer, fragen Sie ruhig, deswegen sind Sie ja hier.“

„Sie müssen wissen“, begann die junge Journalistin, „ich bin ganz kurzfristig für einen erkrankten Kollegen eingesprungen und hatte deswegen keine Zeit, mich auf das Thema vorzubereiten. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie mir ja das sagen, was ich sonst in unserem Archiv recherchieren müsste.“ Sie zückte einen Stift und senkte ihn beflissen über dem aufgeschlagenen Notizblock. „Also, Herr Cromer, nach Ihrem Konkurs damals mit MCM starten Sie jetzt als Designer mit einer neuen Marke wieder ganz neu durch. Was erwarten Sie sich für die Zukunft?“

Michael Cromer starrte die Fragende einen Moment an, erst mit erstauntem, dann ungläubigem Blick. „Konkurs?“, fragte er und reckte sich dabei zu voller Größe auf. „Konkurs?“, wiederholte er, wobei seine Stimme durch den Saal dröhnte, sodass wieder alle zu ihm herübersahen. „Junge Dame, hören Sie jetzt gut zu. Ich habe nie mit MCM Konkurs gemacht!“ „Aber ...“, irritiert blickte das junge Mädchen zu ihrem Fotografenkollegen, der fast unmerklich den Kopf schüttelte. „Da war doch damals dieser Konkurs, und dann ist die Firma MCM verkauft worden, und ...“

„Junge Dame“, Michael Cromer senkte seine Stimme wieder auf normale Lautstärke, „Sie haben offenbar keine Ahnung von dem, was damals wirklich passiert ist. Aber das wundert mich nicht. Eigentlich kennt außer meiner Frau, mir und einigen wenigen anderen keiner die Gesamtheit der damaligen Geschehnisse. Jeder meint, er wisse alles über mich, kennt aber in Wirklichkeit nur ein paar Mosaiksteinchen, bei denen es sich auch wieder nur um Gerüchte und Halbwahrheiten handelt. Das ist auch bei Ihnen nicht anders. Und überhaupt“, er bedachte das junge Mädchen mit einem nun wieder freundlichen, verständnisvollen Blick, „sind Sie sowieso noch viel zu jung, um das damals alles so richtig mitbekommen zu haben.“

„Also, ich habe im letzten Jahr noch einen Zeitungsartikel gelesen“, versuchte sich die junge Journalistin zu verteidigen. „Und darin ...“

„Ja, ja, die Zeitungsartikel“, unterbrach Michael Cromer und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Sie setzen offenbar großes Vertrauen in die Fähigkeiten Ihrer Kollegen und in den Wahrheitsgehalt ihrer journalistischen Ergüsse. Ich sage Ihnen was.“ Er blickte sich suchend um. „Die Stühle hier sind nicht besonders bequem. Wenn Sie etwas Zeit haben, gehen wir in die Hotellobby, und Sie können die Michael-Cromer-Geschichte hören, wie sie bisher nur wenige gehört haben. Und zwar direkt von mir.“

Er wartete eine Antwort erst gar nicht ab. „Kommen Sie, kommen Sie, mit dieser Geschichte können Sie berühmt werden, wenn Sie es richtig anstellen.“ Er ging an ihr vorbei in Richtung Hotelhalle, ohne sich umzuwenden. Er wusste, dass er ihren journalistischen Spürsinn geweckt hatte. Sie würde ihm folgen und zuhören.

In der weitläufigen Lobby steuerte Michael Cromer auf die Sitzgruppen zu, ließ sich in einen der weichen Fauteuils fallen und machte einem Pagen ein Handzeichen. „Für mich bitte einen englischen Tee mit Milch und für die junge Dame hier sicherlich einen Kaffee“, bestellte er, nachdem sich die junge Journalistin in dem anderen Sessel niedergelassen hatte. „Lieber einen Latte macchiato“, korrigierte sie lächelnd.

Michael Cromer streckte genüsslich die Beine aus. „Wo ist denn Ihr Kollege, der Herr Mertens?“, fragte er. „Der sendet noch seine Fotos auf unseren Server in der Redaktion und fährt dann nach Hause. Ich soll Sie von ihm grüßen. Ich nehme mir nachher ein Taxi. Also, Herr Cromer, was haben Sie zu erzählen?“

„Nur nicht so ungeduldig, junge Dame!“ Michael Cromer rutschte in dem weichen Sessel noch etwas tiefer. „Passen Sie gut auf! Was jetzt kommt, ist wichtig. Ich denke, Sie haben zwei Möglichkeiten. Ich kann Ihnen in den nächsten ein oder zwei Stunden etwas zu den Vorwürfen und Unterstellungen sagen, die damals in der Presse über mich laut wurden. Sie machen sich ein paar Notizen, gehen damit morgen früh zu Ihrem Chef, und der wird nichts anderes sagen als: Ach, der Cromer, das ist immer dasselbe, der hat eine Pleite hingelegt, und jetzt haben alle anderen Schuld, nur nicht er selbst! Und zum Schluss rät Ihnen Ihr Chef, die Finger von der Sache zu lassen, weil es Wichtigeres und Aktuelleres gibt. Oder – andere Möglichkeit – Sie bekommen von mir die ganze Geschichte, so wie ich sie erlebt habe, dann aber wirklich von den kleinsten Anfängen an bis an die Spitze eines Weltunternehmens und wieder dahin, wo ich heute bin. Dafür brauchen wir mehr Zeit, einige Wochen vielleicht. Wie Sie das Ihrem Chef erklären, ist Ihre Sache. Vielleicht nehmen Sie auch Urlaub. Aber hinterher haben Sie Fakten und Dokumente und können eine große Story daraus machen, vielleicht sogar ein Buch. Wie entscheiden Sie sich?“

Die junge Journalistin blickte ihr Gegenüber einen Moment lang nachdenklich an. „Ich möchte alles wissen“, sagte sie schließlich, „die ganze Geschichte.“ „Gut“, nickte Michael Cromer zufrieden, „dann seien Sie bitte morgen um zehn Uhr bei mir. Es liegt eine Menge Arbeit vor uns.“

1. Der junge Cromer



Mein Leben begann in turbulenten Zeiten.
Elf Tage, nachdem ich in Krefeld das Licht dieser Welt erblickt hatte, verkündete ein Größenwahnsinniger in Berlin, dass nunmehr, und zwar seit 5.45 Uhr, zurückgeschossen werde – es war der Beginn des Zweiten Weltkrieges.

Ich bekam davon zunächst wenig mit, und auch meinen Vater, der vor dem Krieg als Textilkaufmann bei der Vereinigten Seidenwebereien AG beschäftigt gewesen war, vermisste ich nicht. Er war gleich mit Kriegsbeginn zu den Pionieren eingezogen worden und kämpfte in Russland.

Natürlich hatte er auch einmal ein paar Tage Urlaub von der Front, denn ein Jahr nach mir wurde mein Bruder Heiner geboren. Als wir beide drei oder vier waren, wurden die Bombenangriffe auf das Rheinland immer heftiger. Meine Mutter beschloss daher, mit uns beiden Jungs nach Leipzig zu ziehen, wo ihre Eltern lebten. Es erschien ihr damals ungefährlicher, als in Krefeld zu bleiben.

In Leipzig wohnten nicht nur meine Großeltern, Fritz und Amelie Raskop, sondern auch die Schwester meiner Mutter mit ihrem Mann, der dort eine Bonbonfabrik besaß. Mein Großvater ist heute noch bekannt als Verfasser zahlreicher, in viele Sprachen übersetzter Fachbücher für den Bereich der Elektrotechnik.

Aus der Zeit im Haus meiner Großeltern in Leipzig stammen auch meine ersten bewussten Kindheitserinnerungen. Darunter eine meiner schönsten: die Begegnung mit Johannes Heesters. Luise Stösel, eine Freundin meiner Mutter, trat damals zusammen mit
ihm in Leipzig in der Operette „Hochzeitsnacht im Paradies“ auf. Für mich war sie Tante Luise. Eines Tages durfte ich sie zusammen mit meiner Mutter in ihrer Garderobe besuchen. Beim Anblick von Tante Luise mit einer knallroten Perücke – ich kannte sie bis dahin nur als Blondine – bekam ich Angst und begann zu weinen. Das hörte Johannes Heesters. Er nahm mich tröstend an die Hand und führte mich zur Bühne, von wo aus ich kleiner Kerl die Aufführung aus nächster Nähe miterleben durfte. Das hat mir damals wahnsinnig imponiert und mich wohl so geprägt, dass ich heute noch gerne Revuen und Operetten sehe.

Irgendwann kam der Krieg auch nach Leipzig.

Ich erinnere mich noch an die schwarzen Blenden aus Pappmaschee, die meine Großeltern bei Luftalarm an den Fenstern anbringen mussten. Und ich erinnere mich an die Nächte, wenn die Sirenen heulten und wir mit unserem Bettzeug und einigen anderen Dingen zunächst hinunter in den Keller laufen mussten und dann durch einen Tunnel in den im Hinterhof gelegenen Luftschutzbunker. Der war innen mit blauem Licht ausgeleuchtet, was wohl der Beruhigung dienen sollte.
Noch heute muss ich an den Bunker in Leipzig denken, wenn irgendwo Räumlichkeiten in blaues Licht getaucht sind.

Eingebrannt in mein Gedächtnis sind auch die Erschütterungen durch die in der Umgebung explodierenden Bomben, die den Bunker erzittern ließen. Am deutlichsten in Erinnerung geblieben ist mir aber der entsetzliche Geruch, der nach einem Bombenangriff in der Luft hing: eine Mischung aus verbranntem Holz, ausgeglühtem Eisen und vielem anderem, noch Schlimmerem, das dem vorangegangenen Feuersturm zum Opfer gefallen war. Später, nach Ende des Krieges, habe ich diesen Geruch immer wieder wahrgenommen, wenn ich an einer brennenden Müllkippe vorbeikam. Er ist für mich zu einem Symbol für den Wahnsinn des Bombenkrieges geworden. Ich glaube, vielen aus meiner Generation geht es ähnlich.

Das Haus meiner Großeltern blieb jedes Mal wie durch ein Wunder heil, obwohl es ringsum Brand und Zerstörung gab und sogar die Decke unseres Bunkers von Bomben getroffen wurde, die aber glücklicherweise nicht explodierten.

Von Zeit zu Zeit kam mein Vater für ein paar Tage von der Ostfront nach Hause. Dazwischen schrieb er immer wieder Briefe. Zuletzt befehligte er ein Pionierbataillon, das von den Russen eingekesselt zu werden drohte. Wie mir mein Vater viel später, kurz vor meinem Abitur erzählte, missachtete er den für ihn völlig irrsinnigen Führerbefehl, die Stellung bis zur letzten Patrone zu halten, und befahl den ihm unterstellten 280 Männern, sich einzeln zu den eigenen Linien durchzuschlagen. Ihm selbst gelang die Flucht, obwohl dabei sogar seine Beine durch Granatsplitter verwundet wurden. Nach seiner Genesung wurde er zum Stab des damaligen Geheimdienstchefs Canaris nach Paris beordert.

Bei uns in Leipzig wurde die Situation, auch wegen der anrückenden russischen Truppen, immer bedrohlicher. Mein Onkel, der Bonbonfabrikant, entschied schließlich, dass es besser sei, die Stadt zu verlassen. Eines Morgens stand einer seiner Lkw nebst Fahrer vor dem Haus, ausgerüstet mit dem damals üblichen Holzvergaser und einer Plane über der Ladepritsche, auf der wir mit einigen wenigen Habseligkeiten Platz nahmen. Die Fahrt ging zunächst nach Süden, nach Saaz im Sudetenland, östlich von Karlsbad, wo wir einige Tage bei Bekannten meines Onkels unterkamen. Aber auch dort wurde es, weil die Ostfront näher kam, zu unsicher, und es ging weiter nach Süden, nach Österreich.

Der erste längere Aufenthalt, an den ich mich erinnere, war in einem Schloss oder einer großen Villa in Vorarlberg, in der damals, warum auch immer, marokkanische Truppen untergebracht waren. Hier erlebte ich, so ist es mir jedenfalls in Erinnerung geblieben, einige unbeschwerte Tage, bis wir mit unserem Lkw weiterfuhren, in Richtung Rosenheim. Wegen der ständigen Angriffe durch Tiefflieger, amerikanische Lightnings, deren Piloten auf alles schossen, was lohnenswert erschien, war zwischen Ladefläche und Führerhaus eine Signalschnur gespannt, an der beim Auftauchen von Flugzeugen gezogen werden sollte, um sich gegenseitig zu warnen.

Bei Rosenheim mussten wir den Lkw fluchtartig verlassen und in den Straßengräben und einem angrenzenden Wald vor einem Fliegerbeschuss Schutz suchen. Ich höre heute noch das Geratter der Bordkanone und spüre, wie sich meine Mutter schützend über mich und meinen Bruder warf – geholfen hätte das aber wahrscheinlich nicht. Und wieder hatten wir Glück im Unglück, nicht einmal der Lkw bekam einen Treffer ab. Unser kleiner Flüchtlingstrupp, Mutter, zwei Kinder, Großeltern, Onkel und Tante, landete schließlich unbeschadet in Friesenried bei Kaufbeuren, wo wir sogar eine Wohnung fanden.

Dann war der Krieg zu Ende.

Mein Onkel, der Bonbonfabrikant, bezog wenig später mit seiner Familie ein großes Haus in Starnberg, eine Villa, wie man damals stolz sagte. Als ich einmal mit meiner Mutter dort war, kam ein Mann mit einem Ledermantel zu Besuch, der mir als Onkel Hans vorgestellt wurde. Ich ahnte damals nicht, dass dieser Onkel Hans, ein Mediziner, viel, viel später in meinem Leben noch eine ganz besondere Bedeutung erlangen sollte. Ich ahnte auch nicht, dass Onkel Hans daran schuld war, wenn mich die Leute wegen meiner dunklen Gesichtsfarbe, die mein Bruder Heiner so gar nicht hatte, den „Shoe Shine Boy“ nannten. Und lange Jahre ahnte ich nicht, dass es mit eben diesem Onkel Hans zu tun hatte, wenn meine Mutter meinem Bruder mehr Zuneigung zukommen ließ als mir.

Irgendwann kehrte meine Mutter nach Krefeld zurück und nahm meinen Bruder Heiner mit. Ich blieb bei den Großeltern in Friesenried. Da ich inzwischen im schulpflichtigen Alter war, besuchte ich natürlich die örtliche Volksschule. Mein Großvater sorgte für unseren Lebensunterhalt, indem er im Tausch für Eier, Brot, Milch und Speck die Gerätschaften der Bauern in der Umgebung reparierte. So schlug man sich damals durch.

Erst 1948 kam auch ich wieder nach Krefeld zurück. Ein Jahr zuvor war mein Vater nach Hause gekommen. Er hatte sich gegen Kriegsende auf deutschem Gebiet den Amerikanern ergeben und war bis zur Entlassung in einem Kriegsgefangenenlager in der Nähe von Darmstadt festgesetzt worden. So war unsere Familie wieder vereint, der Krieg hatte unsere Leben verschont, es ging an den Wiederaufbau.

Ende der vierziger Jahre tat sich mein Vater kurzzeitig mit einem Kompagnon zusammen, um eine Fabrikation von Puppen aufzuziehen. Es entstand eine kleine Puppenwerkstatt, und die Aufgabe meines Vaters bestand darin, den für die Puppenkleider notwendigen Stoff zu besorgen, was ihm aufgrund seiner beruflichen Beziehungen aus der Vorkriegszeit nicht schwerfiel. Die Sache lief ganz gut an, erschien meinem Vater aber irgendwann als zu wenig aussichtsreich. Er nahm seinen früheren Posten bei den Vereinigten Seidenwebereien wieder an und verdiente dort nach kurzer Zeit so gut, dass er sich ein Adler Cabrio leisten konnte, taubenblau mit dunkelblauen Streifen und kirschroten Polstern. Repräsentativ aufzutreten wurde mir also schon von klein auf vorgelebt.

Außerdem waren meine Eltern, besonders mein Vater, der Ansicht, dass aus ihren Söhnen einmal etwas werden sollte, und so ging ich ab 1949 auf das Krefelder Moltke-Gymnasium. Nebenher spielte ich mit Begeisterung Eishockey beim KEV, heute besser bekannt als Krefelder Pinguine.

Eines Tages waren meine beiden Cousins aus Starnberg zu Besuch und schwärmten mir etwas vor von einer braunen Brause mit einem ganz besonderen Geschmack. Ich konnte nicht glauben, dass es so etwas geben sollte, Brause war bei uns gelb oder rot, vielleicht noch grün, aber niemals braun. Es sollte aber nicht mehr lange dauern, bis auch ich lernte, was Coca-Cola ist.

1952 schickten die Vereinigten Seidenwebereien meinen Vater von Krefeld in die ehemalige amerikanische Besatzungszone nach Frankfurt, wo eine Zweigniederlassung errichtet worden war. Natürlich ging die Familie mit dorthin. Wir bezogen ein herrschaftliches Haus in der Frankfurter Eysseneckstraße, besser gesagt, eine Wohnung in dessen oberster Etage.

Ich besuchte in Frankfurt zunächst mit mäßigem Erfolg und noch weniger Lust eine öffentliche Schule, wo ich aber dank eines engagierten Lehrers wenigstens mein Faible für das Rugbyspiel entdeckte. Mehrmals in der Woche trainierte ich abwechselnd Eishockey und Rugby, wobei ich es bei Letzterem bis in die Jugendnationalmannschaft geschafft hatte, was mir später einige schöne Aufenthalte in England bescheren sollte.

Als ich 15 war, entschieden meine Eltern, dass der weitere Besuch einer öffentlichen Schule keinen rechten Sinn mache und schickten mich auf das Privatgymnasium Dr. Richter in Kelkheim, das es heute noch gibt. Für mich bedeutete das in erster Linie einen längeren Schulweg, für den ich die Bundesbahn in Anspruch nehmen musste, aber auch neue Freundschaften. Mein bester Freund wurde Claus, heute Inhaber eines großen Reinigungsunternehmens. Ihn lernte ich kennen, als ich eine Ehrenrunde drehte, sprich, ein Schuljahr wiederholte, nachdem meine Leistungen in Mathematik nicht den Anforderungen entsprochen hatten.
Da sowohl Claus als auch ich recht gut mit dem Mundwerk umgehen konnten, wechselten wir uns von da an bis zum Abitur jährlich im Amt des Klassensprechers ab.

Mit etwa 16 entwickelte sich bei mir neben Rugby und Eishockey noch ein weiteres Interesse, nämlich das für das weibliche Geschlecht. Nun war es für einen Heranwachsenden im prüden Nachkriegsdeutschland nicht gerade einfach, sich darüber zu informieren, was denn da so alles passierte zwischen Mann und Frau. Und da meine Eltern wenig Bereitschaft zeigten, ihrer Pflicht zur sexuellen Aufklärung nachzukommen, beschloss ich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Dabei kam mir sehr entgegen, dass meine Eltern immer schon Dienstmädchen beschäftigten. In meinen pubertären Jahren war das eine resolute junge Frau namens Rose. Sie nahm sich auf Anfrage meines Problems gerne an, nachdem meine nichts ahnenden Eltern zu einer Vertreterversammlung nach Krefeld gereist waren. Schon nach wenigen Lehrstunden fühlte ich mich erfahren genug, meine neu erworbenen Fähigkeiten auch außerhalb des elterlichen Hauses anzuwenden, ohne mich zu blamieren.

In Deutschland herrschte die Zeit, die später als die des Wirtschaftswunders in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Wer den Nachbarn zeigen wollte, dass er es „geschafft“ hatte, verbrachte seinen Urlaub nicht im Schwarzwald, sondern in Italien, dem Land, in dem die Zitronenbäume blühen.

Und so rollte eines Tages eine kleine Karawane über die Alpen in  Richtung Süden, nach Alassio: vorneweg unsere Familie im Opel Kapitän, in der Mitte meine Großeltern im Borgward, und den Schluss bildete mein Onkel, der Bonbonfabrikant, mit der Tante und den beiden Cousins in einem schwarz-weißen Chevrolet Bel Air Cabrio, das die autoverrückten Italiener zu wahren Begeisterungsstürmen hinriss.

Italien kam mir vor wie das Paradies.

Vier Wochen lang wohnten wir in einer alten Villa inmitten von Palmen und Pinien. Ich lernte Pizza, Oliven und Vino Santo kennen. In der Luft hingen Gerüche, von denen ich bis dahin nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte. Zum Meer waren es nur wenige Schritte.

Und doch fand auch hier, wie ich feststellte, das ganz normale Leben statt: Gegenüber gab es einen Weinhändler, der seine wöchentliche Lieferung in einem großen Fass erhielt. Aus diesem Fass befüllte er Korbflaschen, auf die er dann aber mindestens ein Dutzend verschiedene Etiketten klebte. Natürlich war das Betrug, aber vielleicht erfuhr ich in dieser Zeit zum ersten Mal, dass das richtige Label auf einer guten Ware deren Wert noch erheblich steigern konnte.

Damals ahnte ich nicht, dass ich noch einmal nach Alassio zurückkehren würde, zu einem ersten Liebesurlaub zusammen mit meiner Frau Mara.

Doch noch etwas lernte ich als Jugendlicher. Wenn man etwas wirklich mit Begeisterung betreibt, kann man vieles erreichen. Es zahlte sich für mich aus, dass ich regelmäßig und mit viel Engagement Rugby trainierte, denn ich gehörte zu einer Auswahlmannschaft, die in den Sommerferien für vier Wochen nach Wales fahren durfte, um dort, sozusagen im Mutterland dieser Sportart, an Turnieren und Freundschaftsspielen teilzunehmen.

In Swansea gab es einen großen Empfang beim Bürgermeister, und der halbe Ort schien auf den Beinen zu sein. Jahrzehnte später sollte Bonnie Tyler, selbst aus Wales stammend, beim Durchblättern meines MCM-Katalogs erstaunt ein Foto des Bürgermeisters von Swansea finden.

Ich glaube, durch diese Auslandsreisen begann in mir das Internationale, das Kosmopolitische zu keimen. Von jeder Nation, aus jeder Kultur suchte ich mir das Passende heraus und machte es zu einem Stück meiner eigenen Natur.

Aus Deutschland übernahm ich, beeinflusst durch meinen Vater, den ehemaligen Wehrmachtsoffizier, die Gründlichkeit, die Pünktlichkeit, die Verlässlichkeit, den Hang zum Perfektionismus.

Italien prägte mich in Richtung Unbeschwertheit, Lebensfreude und Improvisationstalent und förderte meinen Drang, ständig etwas Neues ausprobieren zu wollen. Bis heute spiegelt sich das in meinen Essgewohnheiten wider, denn die italienische Küche ist mein absoluter Favorit.

An den Briten faszinierten mich ihre blasiert zur Schau gestellte Vornehmheit, ihre Coolness, ihr edles Understatement in Kleidung und Auftreten, das sie auch bei Angehörigen anderer Nationen schätzen und respektieren. Natürlich trachtete ich bereits als Jugendlicher danach, dies erforderlichenfalls nachzuahmen.

Nie werde ich das Gefühl vergessen, wie ich als 18-Jähriger in der englischen Eisenbahn nach meiner Fahrkarte gefragt wurde und diese zunächst verzweifelt in allen Taschen meines für damalige Verhältnisse eleganten Anzuges suchte. Der Kontrolleur beruhigte mich und sprach mich jungen Burschen dabei mit einem höflichen, fast respektvollen „Sir“ an, statt mich als Schwarzfahrer abzukanzeln. In diesem Moment begriff ich, dass das äußere Erscheinungsbild eine große Rolle dabei spielt, wie man von anderen behandelt wird, dass man in feinem Zwirn mehr respektiert wird als im Schmuddellook – eine Weisheit, die man jungen Leuten gar nicht oft genug nahebringen kann.
Übrigens, die Fahrkarte fand ich dann auch noch.

Die englische Teekultur habe ich mein Leben lang gepflegt. Und noch etwas nahm ich als Idee von der Insel mit. Damals wurden dort überall Clubs gegründet, in denen Whiskey ausgeschenkt und Rock’n’Roll und später Beatmusik gespielt wurde. Das hat mich so lange beschäftigt, bis ich später selbst einen solchen Club eröffnete.

Aber nicht nur der sogenannte „British way of life“ imponierte mir, sondern auch die Tatsache, dass man sich mit der englischen Sprache in einem Großteil unserer Welt verständlich machen konnte. Und ganz nebenbei lernte ich bei meinen Aufenthalten, die Sprache fließend zu sprechen, ohne, wie so manche meiner Klassenkameraden, lange nach Wörtern suchen zu müssen.

Das kam nicht nur meiner Schulnote zugute, sondern war im richtigen Leben spätestens zu dem Zeitpunkt von Nutzen, als ich Elvis Presley die Hand schüttelte. Marion, eine Freundin von mir, kündigte eines Tages an, zu einem unserer Eishockeyspiele in Bad Nauheim mit Elvis zu erscheinen und mich ihm vorzustellen. Zuerst wollte ich das nicht glauben, doch dann standen wir uns gegenüber, er in seiner Army-Uniform, ich in meinem Eishockey-Dress. Das Gespräch mit ihm begann ungefähr so: „Hi, Michael.“ – „Hi, Elvis, I like your music“ und endete dann in einem sehr angeregten Smalltalk. Einige Male habe ich Elvis danach noch gesehen, wenn er in seinem BMW durch Frankfurt fuhr.

In Bad Nauheim lernte ich auch Marika Kilius kennen, die damals, gerade 14-jährig, mit ihrem Partner Franz Ningel Olympiavierte geworden war. Sie war sehr diszipliniert und trainierte täglich mehrere Stunden hart. Dadurch hatte sie nie Zeit für Privates, aber später, als ich sie in Garmisch wiedertraf, habe ich wenigstens einmal mit ihr einen Walzer auf dem Eis gedreht.

Ich trainierte damals mehrmals wöchentlich Rugby und Eishockey im Sport-Club Frankfurt 1880 e.V. Eines Abends nach dem Training geriet ich, halb aus Neugier, halb aus Zufall, in der Frankfurter Bahnhofsgegend in die „New York City-Bar“, zu dieser Zeit ein bekanntes Stripteaselokal. Für heutige Begriffe waren die Aufführungen geradezu jugendfrei, denn fast gleichzeitig mit dem Oberteil der Tänzerin fiel auch der Vorhang. Kurzes Oben ohne, Ende der Vorstellung, mehr gab es in den Fünfzigern nicht zu sehen fürs Geld. Heute würde man damit keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken, aber damals, zumal für einen 17-Jährigen, war die Sache recht anregend.

Jedenfalls hatte ich eine angenehme Möglichkeit gefunden, nach dem Training noch ein wenig Zeit außerhalb der heimischen vier Wände zu verbringen. Frankfurt war in diesen Jahren eine Metropole des deutschen Nachtlebens, nicht nur, weil sich dort viele Firmen mit ihren Verwaltungen ansiedelten, sondern auch wegen der vielen Messen und Ausstellungen, und nicht zuletzt wegen der Anwesenheit tausender amerikanischer Soldaten.

Irgendwo in den vielen Etablissements der sogenannten Montmartre-Zone war immer etwas los. Wer seiner Begleiterin etwas Besonderes bieten wollte, fuhr im offenen Cabrio nach Schneidhain ins Café Schmidt oder in die Tennisbar nach Bad Homburg. Und wenn sich dann irgendwann weit nach Mitternacht die meisten Türen geschlossen hatten, trafen sich die letzten Nachtschwärmer in der Picasso-Bar, die erst ab zwei Uhr nachts ihre Türen öffnete, dann aber auch gleich bis neun Uhr morgens. Dort traf man zum Beispiel Bully Buhlan oder Curd Jürgens, damals an der Seite von Eva Bartok.

Bei nächster Gelegenheit probierte ich aus, wie es denn wohl so in der „Hölle“ zuging. Dort bediente Janina aus Berlin, deren rauchig-sinnliche Stimme den Gast wohl schon innerlich auf die allabendlichen Darbietungen einstimmen sollte. Janina schloss mich aus irgendwelchen Gründen sofort in ihr Herz, ich durfte mich direkt an die Tanzfläche setzen und erhielt „aufs Haus“ ein Herrengedeck, ein Begriff, der heute nicht einmal mehr im Duden zu finden ist und nichts anderes bedeutete als ein Bier mit einem Klaren dazu.

Im „Parisiana“ schließlich lernte ich Peggy kennen, den Star der dortigen Tanztruppe. In Peggy habe ich mich damals, obwohl sie einige Jahre älter war als ich, aufs Heftigste verliebt. Einmal wöchentlich gingen sie und ihre Kolleginnen zu einer Tanzlehrerin, heute würde man Choreografin sagen, die mit dem Ensemble neue Auftritte einübte. Mir wurde die besondere Ehre zuteil, bei den Übungen zuschauen zu dürfen. Und nicht nur das: Es war auch meine Meinung zu den neuen Tanzfiguren gefragt.

Ab und zu am Wochenende ging ich mit Peggy nach der Mitternachtsshow noch in ihr Appartement, wo sie mir half, die mit unserem Dienstmädchen erworbenen Grundkenntnisse deutlich zu erweitern. Meine Eltern bekamen es nie mit, wenn ich mich später zu nachtschlafender Stunde in die Wohnung schlich – bis auf ein einziges Mal. An jenem Sonntagmorgen wurde ich neben Peggy vom Geläute der Osterglocken geweckt und sprang aus dem Bett, das Bild meiner bereits am Frühstückstisch sitzenden Eltern vor meinem inneren Auge. Zwecks Alibibeschaffung erstand ich noch am Bahnhof einen großen Blumenstrauß, aber das nutzte wenig. Meine Mutter erwartete mich bereits an der Tür und wollte meine Erklärungsversuche partout nicht akzeptieren.

Nachteile hatte die Angelegenheit letztlich nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sich Peggy neben mir noch einen gut doppelt so alten Gönner hielt. Weder er noch ich störten uns daran.

Die guten Beziehungen zum Tanzensemble des „Parisiana“ brachten mich auf die geniale Idee, mit Peggy und den übrigen Mädchen, dazu meinen besten Freunden in gleicher Anzahl, eine Party zu feiern. Geeignete Räumlichkeiten waren schnell gefunden in Gestalt des neuen, großzügigen Hauses meiner Eltern in Oberursel, in das wir 1960 eingezogen waren. Deren Erlaubnis, die mir auf Anfrage wahrscheinlich verweigert worden wäre, umging ich, indem ich den Zeitpunkt der Party geschickt mit der nächsten Vertreterversammlung in Krefeld kombinierte. Die Party wurde ein voller Erfolg, wozu am allerwenigsten die bei einem örtlichen Delikatessengeschäft in großem Umfang georderten belegten Schnittchen beitrugen. Nachdem die Tänzerinnen im Wohnzimmer eine eindrucksvolle Revue hingelegt hatten, bildeten sich nach und nach Pärchen, die sich auf die ausreichend vorhandenen Zimmer verzogen. Wir schafften es auch, das Haus nach Abschluss der Ausschweifungen wieder in den vorherigen Zustand zu bringen,
nur meine Mutter rätselte noch lange Zeit über die Herkunft eines benutzten Kaugummis, den sie nach ihrer Rückkehr aus Krefeld im ehelichen Bett fand.

Eine andere Tänzerin, mit der ich mich angefreundet hatte, war Lilian. Sie besaß ein Ford Mercury Cabrio in Grünmetallic mit weißen Polstern, das ich ab und an zur Schnellwäsche fahren durfte. Natürlich kleidete ich mich dazu im entsprechenden Outfit, mit dunkler Sonnenbrille und langem orangefarbenen Schal. An jeder roten Ampel vergewisserte ich mich, ob mir aus den Nachbarautos auch gebührend bewundernde Blicke zugeworfen wurden.