Über das Buch

Irgendwo in der Heide saust ein Motorrad durch schöne Kulissen der Reichshauptstadt Berlin. Der Vater zeigt seinem Sohn, wofür er in Russland gekämpft hat. Gedreht wird im Auftrag des Propagandaministeriums, im Auftrag von Joseph Goebbels. Noch einmal soll den Deutschen Mut gemacht werden, Mut im letzten Augenblick. Bernd Schroeders verblüffender Roman bringt alles zusammen: das Lächerliche und das Grauenvolle, die großen Lügen, die keiner glaubt, und die kleinen Intrigen auf dem Set. Während berühmte Schauspielerinnen und ehrgeizige Statisten, schwule Stars und diktatorische Regisseure immer weiterspielen, wissen alle ganz genau, das Ende ist da. Rette sich, wer kann. Doch das Schlimmste kommt noch vorher: Goebbels will Goebbels spielen. Das Warten beginnt.

Bernd Schroeder

Warten auf Goebbels

Roman

Carl Hanser Verlag

Für Liane Dirks
und Klaus Emmerich

Prolog

Am 29. Oktober des Jahres 1897 wird in Rheydt am Niederrhein dem kleinen Angestellten Fritz Goebbels und seiner Gattin Katharina, geborene Oldenhausen, der dritte Sohn Paul Joseph geboren. Erfolglose Behandlungen und Operationen eines Beinleidens haben zur Folge, dass der Sohn zeitlebens einen im Wachstum zurückgebliebenen Klumpfuß haben wird. Die streng katholischen Eltern nehmen das als gottgewollt hin. Sie erziehen den Sohn im Sinne ihres christlichen Glaubens zu einem tiefreligiösen Menschen.

1

Am 25. August 1944 fahren der Regisseur Konrad Eisleben, der Kameramann Henning Klick, der Ausstatter Ludwig Trappel und der Produktions- und Herstellungsleiter Kurt Reiter, chauffiert vom Fahrer Paul Köppel, von Berlin nach Altenburg in der Heide, um Dreharbeiten für einen Ufa-Film mit dem Titel ›Krahwinkel‹ vorzubereiten und Motive, Unterkünfte und Kleindarsteller zu suchen.

Am selben Tag gibt der von den Nazis eingesetzte Stadtkommandant Dietrich von Choltitz die Stadt Paris, die er nach Geheiß von Hitler zerstören sollte, an die Franzosen zurück. Paris ist befreit und gerettet.

2

In der gutdeutschen Wohnküche der Familie Weimar sitzt Hilde Weimar an der Nähmaschine, über ihr an der Wand prangt das Porträt des Führers, daneben Jesus am Kreuz und das Bild von Hans Weimar in Uniform, mit ein paar Blumen verziert. Hilde horcht auf, denn es nähert sich Blasmusik, begleitet vom siegestrunkenen Gesang vieler Menschen. Hilde steht auf, geht ans Fenster, öffnet es, schaut hinaus. Draußen auf der Dorfstraße ziehen singende, fröhlich lachende Soldaten mit Blumensträußen in der Hand vorbei. Ein Pfarrer in vollem Ornat mit seinen Ministranten, ein großes Kreuz tragend, Kinder mit Hakenkreuzfähnchen, eine Blaskapelle. Hänschen, acht Jahre alt, drückt sich an der Scheibe des anderen Fensters die Nase platt. Hilde winkt den Soldaten zu. Durch ihren Körper geht die Musik. Sie singt mit, »Es war ein Polenmädchen«. Plötzlich wird die Tür aufgerissen. Ein kleiner korpulenter Mann in Soldatenuniform, etwa vierzig Jahre alt, steht lachend in der Tür.

»Hokuspokus Fidibus, da bin ich, euer Hans ist wieder da!«, ruft er. Hilde springt auf, rennt auf ihn zu, fällt ihm in die Arme.

»Hans! Mein Hans. Da bist du! Bist du’s wirklich?«

»Ja, Hilde, ich bin’s.«

»Oh, was bin ich froh. Ich hatte so viel Angst um dich.«

»Papperlapapp, Angst! Angst um Hans Weimar, das gibt es nicht. Hilde, der Sieg ist unser! Jetzt kommen schöne Zeiten. Jetzt ist Vattern wieder zu Hause. Jetzt werden die Ärmel hochgekrempelt und das bisschen, was kaputtgegangen ist, wird repariert.«

Über Hildes Schulter sieht Weimar das Hänschen, das ängstlich nach dem Fremden schaut. Der löst sich von Hilde und geht auf den Jungen zu.

»Hänschen, mein Junge, ich bin’s, dein Papa. Menschenskind, was bist du groß geworden! Bist ja ein richtiger kleiner Mann.«

Jetzt strahlt Hänschen und läuft in die Arme des Vaters.

»Papi! Papi, ich hab es der Mami immer gesagt, der Papi kommt wieder, den Papi erschießt kein Russe.«

»Richtig, mein Junge. Ich sehe schon, du hast deine Mutter gut beschützt – wie sich das gehört für einen Mann. Du warst tapfer, tapfer an der Heimatfront. Kommt, wir wollen hinausgehen zu den anderen. Überall wird der Sieg gefeiert. Da müssen wir dabei sein! Da braucht man doch Hans Weimar. Leute! Hans ist wieder da, die Stimmungskanone!«

Sie gehen nach draußen. Ein kleiner gepflegter Hof, ein Schuppen, Pflanzen, Hühner gackern Körner pickend, Kaninchen sitzen in einem Stall, am Haus flattert eine Hakenkreuzfahne froh im Wind. Eine deutsche Idylle.

»Papi, fahren wir mit dem Motorrad!?«

Hans hält Hänschen immer noch an der Hand. Der zieht ihn zum Schuppen.

»Na, ob der alte Motorgaul es noch macht?«

»Es fährt. Ich habe es jeden Tag einmal angetreten.«

»Tüchtig, tüchtig, na schau sich einer mal den Jungen an. Dann wollen wir mal sehen.«

Er öffnet das Tor zum Schuppen. Da steht zwischen allerlei Handwerkszeug ein Motorrad mit Beiwagen. Es ist sauber und gepflegt, es glänzt. Sein runder Scheinwerfer strahlt wie ein frohes Auge. Hans streichelt liebevoll mit den Händen darüber.

»Meine Mine, meine alte Mine, mein gutes Stück.« Hilde kommt dazu, kuschelt sich etwas an die Schulter von Hans, beinahe eifersüchtig auf Mine.

»Hänschen war sehr lieb zu ihr. Zu gerne wäre er damit durch die Stadt gebraust.«

»Das werden wir alles nachholen, mein Hänschen.«

»Papi, fahren wir damit nach Berlin?«

»Aber sicher, mein Junge.«

Er versucht, das Motorrad zu starten. Es tuckert leicht, säuft aber auch beim dritten Mal ab. Hans Weimar, alias Karl Molitor, flucht, tritt gegen das Motorrad.

»Verfluchte Scheiße! Es geht wieder nicht. Verdammt, seid ihr denn nicht in der Lage, das Ding in Ordnung zu bringen!?«

Er geht wütend aus der Dekoration.

»Stopp!«, ruft Konrad Eisleben, der Regisseur. Hilde Weimar, alias Johanna Leise, lacht laut. Hänschen, alias Adolf Lechner, rennt zu seiner leiblichen Mutter, die strickend in einer Ecke der Scheune sitzt. Die Statisten gehen nach draußen. Soldaten, Frauen, Mädchen, die Kinder mit den Hakenkreuzfähnchen, der Pfarrer, die Ministranten und die Blaskapelle. Ein Bauer sammelt seine Hühner ein, die aufgeschreckt herumlaufen.

Eisleben kommt mit seinem Regieassistenten Franz Seibert zu Molitor, der gerade wegrennen will, schnaubend wie ein wilder Stier. Siggi Weiss, der Beleuchter und Requisiteur, klettert aus dem Gebälk der Scheune herunter und macht sich zusammen mit dem Ausstatter Ludwig Trappel am Motorrad zu schaffen. Eisleben legt Molitor die Hand auf die Schulter, was der nur widerwillig, vielleicht aber auch devot, zulässt.

»Das ist nicht schlimm, Herr Molitor. Wir drehen das Starten in einer eigenen Einstellung. Ansonsten war das alles sehr gut.«

Molitor prustet, schnaubt, scheint einem Schlaganfall nahe.

»Professor! Das nennen Sie gut? Man wird an seiner Arbeit gehindert, weil nicht jeder seine Aufgaben ernst zu nehmen scheint.«

»Das lasse ich mir nicht sagen«, ruft Ludwig Trappel aus dem Schuppen, »wir versuchen alles, die Maschine hinzukriegen. Aber es fehlen zu viele Sachen – Zündkerzen zum Beispiel.«

»Natürlich, Herr Trappel«, sagt Eisleben ruhig, »jeder weiß das, auch Herr Molitor. Wir drehen das Starten, wie gesagt, in einer Extraeinstellung.«

»Nicht mehr mit mir! Ich bin es nicht gewohnt, so zu arbeiten, Verhältnisse hin, Verhältnisse her. Profession bleibt Profession.«

Henning Klick, der Kameramann, kommt dazu.

»Molli«, sagt er, »stell dich nicht so an. Ludwig tut, was er kann. Wir sind hier nicht mehr in Babelsberg.«

Molitor mag sich immer noch nicht beruhigen: »Ich schlage vor, jeder tut hier seine Arbeit. Du die deine, ich die meine – wenn man mich lässt.«

Jetzt mischt sich auch Johanna, alias Hilde Weimar, leise ein.

»Man lässt Sie doch, Herr Molitor – man –«

»Hier herrscht Dilettantismus, Frau Leise. Das hätten Sie sich früher auch nicht bieten lassen.«

Johanna wendet sich ab, schaut Franz Seibert fragend an.

»Dann ist jetzt wohl Drehpause?«

»Scheint so, Frau Leise.«

Sie gibt der Garderobiere Lene Hackbarth ihren Kittel.

»Das geht ja schon gut los«, sagt sie zu Lene.

»So kennen wir ihn doch.«

»Das kann ja noch heiter werden.«

Sie geht an Eisleben vorbei, lächelt und verschwindet die Treppe zu einer Empore hinauf. Eisleben will ihr folgen, aber Molitor stellt sich ihm in den Weg. »Herr Professor –«

»Lassen Sie doch endlich mal den Professor weg, Herr Molitor.«

»Herr Eisleben, das müssen Sie sich schon sagen lassen, dass hier unnötigerweise Dilettantismus herrscht. Und Sie wissen das, und Sie dulden es. Das werfe ich Ihnen vor. Ich habe unter Wilder gearbeitet, ich –«

»Wir wissen das, Molli«, sagt Klick lachend, »aber er hat dich rausgeschnitten.«

»Halt du dich doch endlich mal raus!«

Draußen hört man ein Fahrzeug vorfahren. Paul Köppel, der Fahrer, kommt rein. Molitor stürzt sich sofort auf ihn.

»Herr Köppel, bitte, mein Lieber, helfen Sie mir. Fahren Sie mich unverzüglich nach Berlin. Ich habe hier nichts mehr zu suchen.«

Köppel schüttelt den Kopf. »Das geht nicht.«

Molitor umarmt ihn förmlich, will ihn festhalten und beschwören. »Bitte, Herr Köppel, hier ist für mich kein länger Bleiben!«

Die Art, mit der der Theaterschauspieler Karl Molitor seine Bitte vorträgt, sorgt für allgemeines Gelächter, macht so was wie gute Laune. Lene Hackbarth aus der Garderobe, Hans-Peter Reimer und Ursel Kling aus der Maske, alle wollen Molitors Auftritt sehen.

»Ich fahre erst in drei Tagen wieder«, sagt Köppel.

»Ich bezahle Sie. Es soll Ihr Schaden nicht sein – ich muss hier weg!«

»Darum geht es nicht«, erwidert Köppel leicht entnervt, willens, sich den Bettelnden vom Hals zu schaffen. »Ich darf nicht außer der Reihe nach Berlin fahren. Es sei denn, die Produktionsleitung befiehlt das.«

»Sie befiehlt es aber nicht«, sagt Kurt Reiter, der Produktionsleiter, der zusammen mit seinem Assistenten Thomas Wagner dazugekommen ist, während sich Eisleben nach oben entzieht und Köppel zu Weiss, dem Beleuchter und Mädchen für alles, und Trappel geht, um ihnen beim Reparieren des Motorrads zu helfen.

Kurt Reiter, Parteimitglied, ehemals Regisseur belangloser Propagandafilmchen, ist von Goebbels bei dieser wichtigen Produktion zum Produktionsleiter ernannt worden. Er ist ein strammer Nationalsozialist, der jetzt, im Herbst 1944, immer noch an den Sieg glaubt. Er stellt sich vor Molitor hin.

»Was ist los mit dir, Molli? Hältst du wieder den ganzen Betrieb auf?«

»Ach, aus meinem Gesichtskreis mit euch allen!«

Er geht zu Köppel.

»Herr Köppel, wenn Sie dann in drei Tagen fahren, sagen Sie mir Bescheid. Ich bin auf meiner Zelle – anders kann man das ja nicht nennen, was hier als Unterbringung gilt.«

»Wir können dir auch draußen ein Zelt aufbauen, Molli«, sagt Reiter, »der Winter kommt. Da kannst du dir den Arsch abfrieren.« Und Wagner schickt in harschem Kasernenhofton, der für einen Moment alle erstarren lässt, hinterher: »Herr Molitor, was Sie hier machen, ist Arbeitsverweigerung! Ich werde das ins Protokoll aufnehmen. Vergessen Sie bitte nicht, dass Sie hier dienstverpflichtet sind.«

»Lassen Sie ihn, nicht der Rede wert«, sagt Reiter, »Molli beruhigt sich schon wieder.«

Molitor macht sich, alle verachtend, auf den Weg zu den im hinteren Teil des Hangars gelegenen Garderoben, die zugleich die Wohnzellen für einen Teil der Schauspieler und den Stab sind.

»Nein, nein, nein, wie tief ist die Kunst gefallen!«

»Halt, Molli, halt, nicht mit dem Kostüm!«, ruft Lene Hackbarth und läuft hinter ihm her. Sie reißt ihm die Jacke von den Schultern. Er lässt wütend die Hose runter, steigt aus ihr heraus und schreitet, jetzt um alle erdenkliche Würde bemüht, in langen, schlottrigen Unterhosen davon. Lene Hackbarth nimmt die Hose und zupft daran herum.

»Platzt sowieso alles aus den Nähten, weil er immer dicker wird. Möchte mal wissen, wie er das macht bei den Rationen.«

»Dann mach sie doch weiter«, sagt Klick.

»Da ist nichts mehr drin. Die haben wir doch eigentlich für Hans Albers geschnitten.«

»Was will er noch in Berlin?«, sagt Paul Köppel. »Das Haus, wo er wohnt, ist weg, ratzeputz weg.«

»Sag’s ihm«, antwortet Weiss.

»Das weiß er doch. Außerdem ist Mutti tot. Nein, der will doch hier nicht wirklich weg. So dumm ist er nicht. Das ist alles nur Theater, kennen wir doch.«

3

Skript des Propagandaministeriums zum Film ›Krahwinkel‹:

›Am 1. Mai 1945 verkünden Adolf Hitler und Joseph Goebbels den totalen Sieg. Die Wunderwaffen haben England besiegt, London liegt in Schutt und Asche. Die Russen haben sich zurückgezogen. In Frankreich regieren die Deutschen. Deutschland ist judenfrei. Der große Sieg ist da! Dazu ist im Vorspann Wochenschaumaterial zu benutzen. Überall im Lande werden die heimkehrenden Helden zu Wasser, zu Land und in den Lüften gefeiert. So auch im Heidedorf Krahwinkel. Das Dorf ist vom Krieg verschont geblieben. Heimkehrer werden begeistert empfangen, Frauen schließen ihre Männer, Mütter ihre Söhne in die Arme, Kinder lernen ihre Väter kennen, Witwen sind tapfer, letzte Juden werden aus Verstecken geholt und in Lager abtransportiert.

Rund um umfangreiche Siegesfeiern werden private Schicksale erzählt.

Auch Hans Weimar kehrt als strahlender Sieger, aber auch als glücklicher Überlebender zurück. Es erwarten ihn seine Frau Hilde und Hänschen, der Sohn, den Hans nur als Baby gesehen hat. Hilde ist schwanger. Aber von wem? Von einem Engländer, einem Kriegsgefangenen, sei sie vergewaltigt worden, erzählt sie Hans. Damit tut sich Hans schwer. Soll er für »einen Engländer« den Vater abgeben? Als der Lehrer Griebel, der Ortsgruppenleiter der NSDAP, beim Bier durchblicken lässt, dass Hilde ein Verhältnis mit einem Mann aus dem Dorf hatte, der aber verschwunden ist, gefallen vielleicht, gerät Hans in einen Konflikt. Womit kann er, wenn überhaupt, besser leben, mit der einen oder der anderen Version? Wer war der Mann? Hans stellt Hilde zur Rede, und sie gesteht ihm, dass sie sich hat trösten lassen von Wilhelm, dem besten Freund ihres Mannes. Hans verzeiht großzügig, besser so, sagt er sich, als ein Engländer. Als Wilhelm heimkehrt, kommt es zur großen Versöhnung. Das umfassende Siegesgefühl macht es möglich.

Nebenhandlung:

Die Zwillinge Albert und Franz Seidel wurden zum Militär eingezogen. Zunächst waren sie in derselben Kompanie, dann trennten sich ihre Wege. Franz verweilte an der Heimatfront, Albert zog gegen Russland in den Krieg. Beide waren in Anna verliebt, die Tochter des ehemaligen Bürgermeisters und Landwirts Jan Krämer. Entschieden hat Anna sich nicht. Mit dem großen Sieg kommt Franz nach Hause. Albert gilt als vermisst. Franz macht Anna einen Heiratsantrag, es kommt, begleitet von der Euphorie des Sieges, zur Hochzeit, der ersten im Ort nach dem Sieg. Als das Paar vor dem Traualtar steht, öffnet sich die Kirchentür. Albert steht da. Als er erkennt, was da vor sich geht, verschwindet er und setzt sich ins Gasthaus. Dort trifft auch die Hochzeitsgesellschaft ein. Alle liegen sich in den Armen, berauscht von der neuen Zeit. Noch am selben Tag macht Albert Annas Schwester Hedwig einen Heiratsantrag. Überschattet wird das Glück von der Tatsache, dass man in der Scheune von Jan Krämer ein von ihm verstecktes jüdisches Ehepaar findet. Letzteres wird seiner Bestimmung zugeführt und der Bauer Krämer festgenommen.

Höhepunkt des Films wird ein großes Siegesfest sein, mit allen verfügbaren Vereinen und Formationen und der Ehrung der Helden, mit Musik und einem Gastredner aus der Spitze der Partei. Wer das sein wird, teilt man rechtzeitig mit.‹

Das Propagandaministerium, aus dem das Rohskript dieses Films kommt, der am Tag der Verkündigung des großen Sieges in allen deutschen Kinos laufen soll, lässt die Beantwortung dieser letzten Frage noch offen, mancher spekuliert, dass es Joseph Goebbels persönlich sein könnte.

›Das Ende von »Krahwinkel« zeigt Hans Weimar und seinen Sohn Hänschen. Der hat sich gewünscht, einmal mit dem Vater nach Berlin zu fahren. Nun fahren sie mit dem Motorrad durch die Stadt, Hänschen im Beiwagen. Der Vater erklärt, was man sieht, eine Prachtstraße, heile Welt. Eine Szene, für die Rückprojektionsmaterial aus der Vorkriegszeit zu verwenden ist.‹

Dieser Film, so das Ministerium, soll ›der Dank sein an das deutsche Volk, das durch seine Opferbereitschaft und seinen ungebrochenen Glauben an den Führer diesen Sieg möglich gemacht hat‹. Stellvertretend für alle deutschen Dörfer wird Krahwinkel der Ort einer großen Siegesfeier sein.

Die Dreharbeiten unter der Regie von Professor Konrad Eisleben erfolgen im Heidedorf Altenburg und in einem alten ausrangierten Flugzeug-Hangar, den man ›die Scheune‹ nennt, in der Nähe des Dorfes. Sie beginnen im September 1944. Die Unterbringung von Stab und Darstellern erfolgt zum einen in der Scheune, zum anderen in den umliegenden Ortschaften. Handwerker, Kleindarsteller und Statisterie sind bevorzugt aus der näheren Umgebung von Altenburg zu rekrutieren.

I

Für das Team werden verpflichtet:

Konrad Eisleben – Regie

Franz Seibert – Regieassistenz

Kurt Reiter – Herstellung und Produktionsleitung

Thomas Wagner – Produktionsassistenz

Henning Klick – Kamera

Ludwig Trappel – Ausstattung

Siegfried Weiss – Licht und Requisite

Lene Hackbarth – Garderobe

Ursel Kling und Hanspeter Reimer – Maske

Paul Köppel – Fahrer

II

Die Rollen und ihre Darsteller:

Hans Weimar – Karl Molitor

Hilde Weimar – Johanna Leise

Hänschen Weimar – Adolf Lechner (Laie)

Wilhelm Schwaiger – Joseph Kunert

Lehrer Uwe Griebel – Viktor von Kolkwitz

Franz Seidel – Henner Wohlgemuth

Albert Seidel – Sebastian Kurz

Anna Krämer – Regine Reuter

Hedwig Krämer – Ilse-Maria Braun

Jan Krämer (Laie)

4

Am 16. September 1944 bringt die Rote Armee das Baltikum unter sowjetische Kontrolle. Britische und kanadische Fallschirmjäger beginnen bei Arnheim die Rheinbrücke zu erobern. In Altenburg, in der sogenannten Scheune, haben die Dreharbeiten mit der Szene »Siegreiche Heimkehr des Hans Weimar« begonnen.

5

»Lassen wir unserem Hauptdarsteller seine Schmollpause«, sagt Eisleben, während er zusammen mit Seibert wieder in die Dekoration geht, sich im Hof der Weimars umschaut. Klick ist ihnen gefolgt.

»Ich bewundere Ihre Geduld mit ihm, Herr Eisleben. Ich glaube, ich hätte ihm schon den Kragen umgedreht.«

»Er und ich, wir haben uns das Miteinander-arbeiten-Müssen nicht ausgesucht. Da ist sich jeder sein Machtspiel schuldig. Außerdem, Herr Klick, wir haben ja Zeit, viel, viel Zeit, das wissen Sie doch so gut wie ich.«

Er lächelt, Klick grinst breit.

»Ja, bis zum Endsieg vergeht noch viel, viel Zeit.«

»Molitor weiß das auch. Der bleibt uns erhalten«, sagt Seibert.

Dann versenkt sich Eisleben wieder in seine Arbeit. Nachdenklich steht er im Weimar’schen Hof, presst die geballte Faust an den Mund, denkt nach, geht in das Haus, erscheint im Fenster zum Hof, kommt wieder heraus, geht ein-, zweimal durch die Tür. Klick schaut ihm geduldig zu. Seibert wartet auf Anweisungen. Man kennt das, Eisleben bereitet nicht wie andere eine Szene akribisch vor. Er denkt und entscheidet in der Dekoration, dazu braucht er Zeit. Er ist ein Zweifler an sich selbst, ein Zauderer, der sich schwertut mit klaren Entscheidungen. Damit hat er schon manchen Produktionsleiter zur Weißglut gebracht.

»Wenn Hans Weimar in den Hof kommt, das gefällt mir noch nicht.«

»Da bin ich in seinem Rücken«, sagt Klick, »da sehe ich sein Gesicht nicht. Ich schlage einen Schnitt vor und dann eine Einstellung, wie er auf Hänschen und Hilde zukommt.«

»Mir würde es besser gefallen, wenn wir das mit einer Kamerafahrt machen könnten. Ich wollte gerne die ganze Szene in einer Einstellung drehen.«

»Wie Sie meinen. Probieren wir das aus.«

»Das waren bis zum Starten des Motorrads zwei Minuten fünfzehn«, sagt Seibert.

6

1905 wird im schlesischen Bunzlau Konrad Johann Eisleben als Sohn eines Pastors und seiner Frau geboren. 1914, als Konrad neun Jahre alt ist, fällt der Vater schon in den ersten Kriegstagen. Die Mutter heiratet wieder. Konrad aber wächst bei seinen Großeltern väterlicherseits auf, die seine Begabungen erkennen und früh schon Klavier- und Schauspielunterricht ermöglichen. 1925 geht Konrad nach München und wird von einem Schauspiellehrer unterrichtet. 1928 hat er sein Debüt in Wedekinds ›Frühlings Erwachen‹. Bereits 1931 inszeniert er selbst an verschiedenen Theatern. Schnell ist er dort als Schauspieler, Regisseur, aber auch als Darsteller in Filmen gefragt. Er bevorzugt feinsinnige, fragile Liebhaberrollen, aber auch schneidige Offiziere. Sein gutes Aussehen – er ist eine stattliche Erscheinung und Liebling der Frauen – begünstigt das. Ab 1937 inszeniert er auch Filme, die einerseits poetisch, gründlich und feinfühlig sind, andererseits auf der Linie nationalsozialistischer Ideale liegen, denen er durchaus positiv gegenübersteht. Er scheut sich nicht, ab 1939 tapfere Frauen, heldische Männer zu zeigen und historische Helden im Sinne der Nazi-Ideologie zu glorifizieren. Er gewinnt die Zuneigung von Goebbels, indem er bereit ist, in einem Film die Euthanasie gefühlig und subtil zu rechtfertigen. Der Lohn stellt sich auf der Stelle ein. Er wird 1942 Chef der Ufa, der Filmgesellschaft, die Goebbels bereits in Gänze für das Regime und seine Propaganda vereinnahmt hat. Trotz der eindeutigen Anpassung an das System gefällt sich Eisleben in der Rolle des Unpolitischen. In seinen Filmen und seinen Äußerungen vermeidet er propagandistische Töne. Das kommt gut bei Goebbels an, der mehr und mehr befürchtet, dass das allzu Laute, das platt Propagandistische eine Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung zur Folge haben könnte. Er bevorzugt die leisen, wenn auch in ihrer politischen Aussage eindeutigen Töne.

1942 lernt Eisleben bei Dreharbeiten die siebenundzwanzigjährige erfolgreiche Schauspielerin Johanna Leise kennen und verliebt sich in sie. Er ist zu dieser Zeit mit der Schauspielerin Sonja Kraus verheiratet, lebt aber bereits getrennt von ihr.

7

Am 27. November 1914 beklagt der siebzehnjährige Joseph Goebbels in einem Klassenaufsatz zum Thema ›Wie kann auch der Nichtkämpfer in diesen Tagen dem Vaterland dienen‹, dass er aufgrund seiner Behinderung nicht in den Krieg ziehen darf, denn »der Soldat, der für Weib und Kind, für Herd und Haus, für Heimat und Vaterland hinauszieht, um sein frisches junges Leben dahinzugeben, leistet dem Vaterland den vornehmsten und ehrenvollsten Dienst«.

8

Ohne Zündkerzen, sagen Siggi Weiss und Ludwig Trappel, kriegen sie das Motorrad nicht zum Laufen. Sie brauchen unbedingt Zündkerzen, Paul Köppel solle bei der nächsten Fahrt aus Berlin welche mitbringen. Köppel seufzt. Ob sie sich nicht vorstellen können, was in Berlin los sei. Da fliegen den Leuten die Bomben um die Ohren, da geht es ums nackte Überleben und nicht um Zündkerzen. Es sei ohnehin ein Wunder, dass er immer wieder Filmmaterial und was zum Fressen mitbringen könne. Aber eins müsse allen klar sein, wenn die Iwans persönlich nach Berlin kämen, dann fahre er da nicht mehr hin. Es werde eh immer gefährlicher.

Das sei eine einfache Rechnung, sagt Weiss, solange Goebbels seine Hand über sie halte und daran glaube, dass hier der große Film zum grandiosen Endsieg inszeniert werde, so lange funktioniere das mit dem Filmmaterial.

»Wenn wir dem Professor nichts mehr hinstellen können, was er filmen kann«, sagt Trappel, »dann heißt das hier: Zugemacht, aus, Ende, die Frauen in die Waffenindustrie und die Herren an die Front, wenn wir bitten dürfen. Du kennst Reiter. Also streng dich an, Paul.«

Weiss und Köppel schieben das Motorrad durch das große Scheunentor nach draußen. Auf der Wiese vor der Scheune grasen Schafe, es ist Herbst, dünne Nebelschwaden liegen über der Heidelandschaft, die Spitze der Dorfkirche des kleinen Ortes Altenburg ragt aus ihnen hervor, eine unglaublich friedliche Herbststimmung, die auch zwei Flugzeugwracks, die neben dem Hangar stehen, nicht trüben können.

Auf der Wiese, wie ein bunter Hühnerhof, lagern die Statisten um ein Lagerfeuer.

»Jaja, euer Paul lässt euch nicht verkommen. Irgendwo in Berlin wird es Zündkerzen geben, sakrament nochmal.«

Er flucht gerne mal auf seine bayerische Art.

Weiss bietet Köppel eine Zigarette an. Der staunt.

»Wo hast’n die her?«

»Requisite! Eiserner Bestand.«

»Gut, tausche Zündkerze gegen Zigarette.«

Sie rauchen, stehen nebeneinander.

»Paul, um uns herum geht gerade die Welt unter. Wir befinden uns, wie Eisleben sagt, auf einer Arche Noah, weißt du das?«

Köppel nickt, zieht an seiner Zigarette.

»Leider muss ich sie ab und zu verlassen. Scheißberlin verreckts.«

Er schickt noch ein paar bayerische Flüche hinterher, die Siggi Weiss nicht versteht.

»Für Zündkerzen – was für ein Wahnsinn.«

»Und Filmmaterial und Proviant.«

»Dass es das überhaupt noch gibt.«

Sie schweigen.

»Erzähl mir, Paul, wie sieht’s aus in Berlin?«

»Ich weiß es nicht, Siggi, ich mach immer die Augen zu, wenn ich dort bin, und stell mir vor, wie es mal ausgeschaut hat.«

9

Franz Seibert hat schon bei drei Filmen Eislebens assistiert. Er schätzt seine Gründlichkeit, seine Seriosität, sein Auftreten, die Tatsache, dass er zwar dem System mit seiner Arbeit dient, sich aber nicht damit gemeinmacht. Nie tritt er so martialisch auf wie Wagner und Reiter. Man weiß eigentlich nichts über seine politische Haltung. Dennoch glaubt Seibert bei seinem Chef eine gewisse Verachtung zu spüren gegenüber den hundertprozentigen Nazis. Ein ›Heil Hitler‹ kommt ihm jedenfalls nicht über die Lippen. Dieser Film, diese banale Siegestaumelschnulze, die irgendein nicht namentlich genannter Apparatschik aus dem Propagandaministerium zusammengeschustert hat, ist nicht Eislebens Niveau. Auch das weiß Seibert. Warum er sie trotzdem dreht? Das fragt sich Seibert, und er kann sich die Frage selbst beantworten: Weil in diesen Zeiten von Goebbels nichts anderes mehr genehmigt wird. Und Eisleben will und muss drehen, um jeden Preis. Ob Goebbels der Autor des Treatments ist, aus dem Eisleben langsam, sehr langsam, ein Drehbuch erstehen lässt? Man weiß es nicht, sagt es aber hinter vorgehaltener Hand. Ein Gerücht. Ob Eisleben mehr weiß? Man wird es aus ihm nicht herausbekommen.

Seibert sitzt in dicker Winterjacke im improvisierten Produktionsbüro und studiert die neuen Szenen des Drehbuchs, die ihm Eisleben hingelegt hat. Ein gültiges Drehbuch gibt es nicht. Das Ministerium hat nur eine Folge von Szenenbeschreibungen geliefert, eher eine Inhaltsangabe. Also schreibt der Regisseur jeweils das, was er gerade drehen will oder den Umständen entsprechend drehen kann.

»Herr Seibert, was ist jetzt mit den Juden? Wann können wir das drehen?«, fragt Reiter.

»Ich weiß nicht. Der Professor hat sich noch nicht genau geäußert. Er denkt noch drüber nach.«

»Der denkt zu viel nach und dreht zu wenig. Wir liegen ganz schlecht in der Zeit.«

»Ich glaube, wir haben mehr Zeit, als Sie denken, Herr Reiter.«

Reiter wird laut, brüllt.

»Von wegen! Für Sie, Herr Seibert, und Ihresgleichen gilt: Abdrehen und an die Front.«

»Es wird – wenn wir hier fertig sind – keine Front mehr geben, Herr Reiter.«

»Sie mit Ihren lockeren Reden, seien Sie vorsichtig. Wie dem auch sei, die Order aus Berlin lautet: Fertig drehen um jeden Preis. Das Volk braucht in diesen schweren Zeiten einen aufbauenden Film, der es an den Sieg glauben lässt.«

»Ob es davon satt wird?«

»Ich sag es Ihnen nochmal, Herr Seibert, sparen Sie sich solche Reden, ja.« Reiter geht.