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ISBN 978-3-7751-7186-1 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5531-1 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2014
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Originally published in English under the title: Trouble in store
Copyright © 2013 by Carol Cox
by Bethany House,
a division of Baker Publishing Group,
Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.
Cover art used by permission of Baker Publishing Group.
All rights reserved.
Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Übersetzung: SunSide Übersetzung
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: Mike Habermann Photography, LLC
Autorenbild: Photo courtesy of A Portrait Park by J
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Illustrationen: shutterstock.com





Für Wyatt,
den jüngsten Bürger Arizonas in unserer Familie





Vertraue von ganzem Herzen auf den Herrn
und verlass dich nicht auf deinen Verstand.
Denke an ihn, was immer du tust,
dann wird er dir den richtigen Weg zeigen.

Sprüche 3,5-6

Inhalt

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Nachwort der Autorin

Anmerkungen

Kapitelornament1Kapitelornament

Marietta, Ohio
April 1885

»Sind die Kinder fertig, Miss Ross?«

»Ja, Ma’am.« Mary-Lou Ross nickte eifrig und bemühte sich, bei dem barschen Ton ihrer Arbeitgeberin nicht zusammenzuzucken. Dann warf sie rasch einen Blick auf Mrs Deavers Sohn und Tochter, um sicherzugehen, dass das Erscheinungsbild der beiden seit ihrer letzten Inspektion nicht gelitten hatte.

Die fünfjährige Olivia stand zu Mary-Lous Linken. Um ihr engelhaftes Gesichtchen flossen blonde Locken in großzügigen Wellen über den breiten Kragen des rosafarbenen Kleidchens mit dem tiefen Taillenansatz, das Mary-Lou gestern Abend noch so sorgfältig gebügelt hatte. Die Augen der Kleinen leuchteten in Vorfreude und als sie ihre Mutter jetzt strahlend anlächelte, vertiefte sich das niedliche Grübchen auf ihrer linken Wange.

Mrs Deavers Gesichtszüge glätteten sich gerade genügend, dass sie das Lächeln ihrer Tochter erwidern konnte.

Zu Mary-Lous Rechten grub Clarence Harrington Deaver junior die Spitze seines schwarzen Lacklederschuhs in den Aubussonteppich. In seinem düsteren Blick lag die grenzenlose Verachtung des Neunjährigen für den blauen Samtanzug mit dem Spitzenkragen, den er heute Nachmittag hatte auf Wunsch seiner Mutter anziehen müssen.

Seine Mutter verzog den Mund zu einer wenig überzeugenden Parodie eines Lächelns. »Du siehst aus wie ein richtiger kleiner Gentleman, Clarence. Es wird ein hübscher Nachmittag für uns alle werden.«

Der Junge schob seine Unterlippe noch ein wenig weiter vor. Als sie das sah, beugte sie sich zu ihm hinunter und sagte, plötzlich mit einem unüberhörbaren Anflug von Härte in der Stimme: »Ich möchte, dass du dich heute von deiner besten Seite zeigst. Das wirst du doch für deine Mutter tun, nicht wahr?«

Als die Haltung des kleinen Clarence sich auch daraufhin nicht im Geringsten veränderte, wechselte sie ihre Taktik. »Wenn du ein guter Junge bist, darfst du auch noch ein bisschen reiten, sobald die Gäste wieder fort sind.«

Das Gesicht des Jungen verdüsterte sich noch mehr. »Ich will Prince aber jetzt gleich reiten.«

Mary-Lou beschloss einzuschreiten, bevor es zu einer offenen Meuterei kam. »Ich bin sicher, uns fällt genügend ein, was wir heute Nachmittag tun können, Clarence. Jetzt bist du erst einmal ein guter Junge und widersprichst deiner Mutter nicht«, sagte sie in bestimmtem Ton. Dabei hielt sie seinen Blick fest, bis er widerwillig nickte. Mrs Deaver seufzte erleichtert auf.

Doch in dem Moment, in dem seine Mutter den Blick abwandte, nahm Clarence’ Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck an, der Mary-Lou sofort in Alarmbereitschaft versetzte.

Mrs Deaver musterte ihren Sohn noch ein letztes Mal und nickte beifällig. Dann wandte sie sich an Mary-Lou und sagte: »Sie können jetzt mit ihnen die Haupttreppe hinuntergehen. Unsere Gäste werden in Kürze eintreffen und ich möchte, dass die Kinder sie gleich begrüßen können. Außerdem«, fügte sie mit einem schiefen Lächeln hinzu, »möchte ich, dass unsere Gäste sie sehen, solange ihre Kleidung noch sauber ist, das heißt, bevor sie den Nachmittag über draußen gespielt haben.«

Mary-Lou, die ihre Schützlinge gerade zur Treppe führen wollte, blieb stehen. Sie musste sich verhört haben. Ein Nachmittag draußen – in diesen Kleidern? Sie mochte gar nicht daran denken, wie Olivias rosafarbenes Kleidchen nach stundenlangem Herumtollen im Freien aussah – ganz zu schweigen von Clarence’ Samtanzug.

Sie drehte sich zu ihrer Arbeitgeberin um und fragte mit so viel Takt, wie ihr in dieser Situation möglich war: »Sind Sie sicher, dass die beiden nicht lieber drinnen spielen sollten, damit sie den Gästen nicht im Weg sind? Es ist schließlich ein ziemlich wichtiges Ereignis.«

Da war er wieder, der Anflug von Härte, diesmal in Mrs Deavers Augen. »Unsinn. Es ist ein perfekter Tag, um unser Treffen im Freien abzuhalten, und die vielen fröhlich auf dem Rasen spielenden Kinder werden ein ganz entzückendes Bild bieten, an das so mancher unserer Gäste sich mit Sicherheit erinnert, wenn es darum geht, die Kandidatur meines Mannes zu unterstützen.«

»Die vielen Kinder?« Mary-Lou konzentrierte sich auf das Wort, das ihr die meisten Sorgen machte.

»Sagte ich das nicht?« Mrs Deavers trällerndes Lachen klang etwas gezwungen. »Die Martins und die Templetons bringen ihre Kinder mit.«

Mary-Lou wählte ihre nächsten Worte mit großer Sorgfalt. »Und Sie möchten, dass sie alle draußen spielen? Mitten unter den Gästen?«

Mrs Deavers gezwungenes Lächeln blieb unbeirrt. »Es wäre doch sicher sehr viel schwieriger, sie alle an einem so herrlichen Frühlingstag drinnen einzusperren, meinen Sie nicht?«

Mary-Lou presste die Lippen zusammen; sie wusste sehr gut, dass ihre Meinung nicht gefragt war. Während sie versuchte, ihre Bestürzung zu verbergen, rechnete sie rasch nach: Die Templetons hatten zwei Kinder, die Martins drei, das bedeutete, dass sie auf sieben Kinder aufpassen musste statt nur auf zwei.

Sie unterdrückte ein Seufzen. Clarence allein konnte schon genügend Ärger machen, aber wenn noch Johnny Martin dazukam, wurde das Ganze völlig unberechenbar. Die beiden Jungen hatten schon immer versucht, sich bei ihren Streichen gegenseitig zu übertreffen. Ihr fiel ein, wie sie ausprobiert hatten, wer mit den Händen geformte Schlammbälle höher an das frisch geweißte Haus der Deavers werfen konnte. Sie würde mehr als genug zu tun haben, um die beiden vom Schlimmsten abzuhalten.

Sie warf Clarence noch einen Blick zu und fing dabei den seinen auf, der besagte: »Ich mache, was ich will, und du kannst mich nicht daran hindern« – so deutlich, als er hätte er die Worte laut ausgesprochen.

»Ja, Ma’am.« Sie schüttelte ihre böse Vorahnung ab und führte die beiden Kinder die breite Treppe hinunter durch die überladene Eingangshalle zum vorderen Säulengang, wo die Kutschen bereits vorfuhren und ihre Fahrgäste entließen.

Mary-Lou trat zurück, als Mrs Deaver ihre Kinder an die Hand nahm und mit ihnen zu ihrem Mann trat, der bereits an der Tür stand und die Gäste begrüßte.

Ein beleibter Mann lächelte die kleine Gruppe an, dann klopfte er Mr Deaver kräftig auf die Schulter. »Eine prachtvolle Familie haben Sie da, Deaver. Das ist genau das Bild, das wir von unserem nächsten Kongressabgeordneten im Kopf haben.«

Clarence Deaver senior schien bei diesen Worten förmlich zu wachsen. »Dann stehen Sie also hinter mir, Richter Conners? Ihre Unterstützung in der bevorstehenden Wahl würde mir viel bedeuten.«

»Durchaus möglich. Ich hoffe, wir können heute Nachmittag noch über ein paar Einzelheiten Ihrer Haltung in bestimmten Fragen reden.« Der Richter beugte sich vor und kniff Olivia in die Wange, die daraufhin in Kichern ausbrach. Dann drehte er sich zu Clarence um und verstrubbelte ihm das Haar. »Und hier haben wir den Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt.«

Mary-Lou sah, wie der Junge die Augen zusammenkniff und die kleinen Hände zu Fäusten ballte. Sie trat vor, bereit, ein Unglück zu verhüten, doch Mrs Deaver hatte die Anzeichen ebenfalls erkannt. Sie legte ihrem Sohn einen Arm um die Schultern, wandte sich um und winkte Mary-Lou herbei.

»Ein paar von den anderen Kleinen treffen gerade ein, Miss Ross. Wenn Sie so nett sein wollen, sie mit den Kindern zusammen zu begrüßen.« Sie wartete, bis Mary-Lou näher gekommen war, dann fügte sie hinzu: »Und sorgen Sie bitte dafür, dass auf gar keinen Fall jemand in die Nähe des Stalles geht. Ich will nicht, dass meine Gesellschaft ruiniert wird, nur weil die Kinder nach Pferd riechen.«

Mary-Lou neigte gehorsam den Kopf und nahm die Kinder an den Händen; bei Clarence griff sie ziemlich fest zu, damit er nicht weglaufen konnte. Dann ging sie mit ihnen zur Auffahrt hinunter, wo Olivia die Töchter der Templetons und Johnny Martins Schwestern mit Freudenschreien begrüßte.

Clarence schlenderte betont lässig zu Johnny hinüber, um seine Verlegenheit wegen des blauen Samtanzugs zu überspielen. Die Jungen steckten die Köpfe zusammen und fingen an, leise miteinander zu reden. Dabei warfen sie Mary-Lou und den anderen Kindern angelegentlich Blicke zu.

Mary-Lou, der klar war, dass sie die sieben Kinder unbedingt beschäftigt halten musste, klatschte in die Hände und setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Kommt, wir gehen in den Schatten und spielen Fangen.« Sie deutete auf einen kleinen Walnusshain zwischen dem Stall und dem Fluss Muskingum. Der Bereich war von den Tischen her, die auf der weitläufigen südlichen Rasenfläche aufgestellt waren, gut einzusehen und trotzdem weit genug entfernt, dass die Kinderstimmen bei der wichtigen Versammlung niemand stören würden.

Die fünf kleinen Mädchen fassten sich an den Händen und rannten los, um die niedrige Feldsteinmauer herum, die die Auffahrt vom Rasen trennte. Johnny und Clarence hingegen kletterten sofort auf die Mauer und balancierten oben entlang, die Arme ausgestreckt wie Seiltänzer.

Mary-Lous Innerstes zog sich zusammen. »Kommt sofort herunter«, befahl sie. »Wenn ihr runterfallt und euch die Kleider schmutzig macht, wird mir das ewig vorgeworfen.«

Die Jungen murrten, gehorchten aber. Nur Clarence streckte ihr noch die Zunge heraus. Dann rannten sie zu den Mädchen.

Mary-Lou folgte ihnen und wünschte sich nur noch, dass die Zeit möglichst schnell verginge. Es würde ein langer Nachmittag werden.

Ornament

Wird dieser Tag denn nie ein Ende nehmen? Mary-Lou steckte eine Strähne kastanienbraunen Haars, die sich aus dem Knoten in ihrem Nacken gelöst hatte, wieder fest und überlegte, ob sie wohl genauso ramponiert aussah, wie sie sich fühlte, nachdem sie den Nachmittag damit verbracht hatte, sieben Kinder bei Laune zu halten. Sie war ständig auf dem Sprung, das Schlimmste zu verhüten. Nach mehreren Runden Fangen hatten sie Schmetterlinge gejagt und beobachtet, wie Ameisen Getreidekörner in ihre Bauten trugen. Mary-Lou hatte sie zum Fluss hinuntergehen lassen, wo sie unter ihren wachsamen Blicken zugeschaut hatten, wie eine Entenmutter ihre Babys lehrte, nach Nahrung zu tauchen. Und alle fünfzehn Minuten hatte sie Clarence’ Bitte, Prince reiten zu dürfen, abgelehnt. Einen Sack Flöhe zu hüten wäre leichter gewesen.

Jetzt rüsteten die Gäste sich zum Aufbruch, in der Auffahrt fuhren bereits die Kutschen vor. Mary-Lou atmete erleichtert auf, weil das Ende in Sicht war. Johnny und Clarence hatten die letzte halbe Stunde einen Ameisenhügel inspiziert und die Mädchen saßen im Kreis zusammen und erzählten sich Geschichten. In ihren pastellfarbenen Kleidchen sahen sie aus wie ein bunter Blumenkranz auf der grünen Wiese.

»Wo ist denn Clarence, Miss Ross?«, drang Olivias Stimme in Mary-Lous Gedanken. »Er soll uns eine Geschichte über König Artur und seine Ritter erzählen.«

Mary-Lou wandte den Kopf, um auf den Ameisenhügel am Fuß des größten Walnussbaums zu deuten. »Da ist er doch …« Aber die Antwort blieb ihr im Hals stecken. Johnny lag auf dem Bauch und quälte die Ameisen, indem er ihnen Kieselsteine in den Weg legte. Aber Clarence …

Wo war er? Mary-Lou konnte sich zumindest eines denken. Er war weggelaufen, der kleine Halunke.

Sie bezwang ihren Drang, mit dem Fuß aufzustampfen, und blickte rasch zu den Kindern hinüber, um festzustellen, ob sie es nur mit einem einzigen Ausreißer zu tun hatte. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs …

Nur Clarence fehlte. Mary-Lou presste die Lippen zusammen und schaute sich um. Wo war er wohl hingegangen?

Sie drehte sich langsam im Kreis. Ihr Ärger wuchs. Den ganzen Nachmittag hatte sie ihn im Auge gehabt. Wo steckte er bloß?

Oben beim Haus gingen aufmerksame Diener zwischen den Tischen herum, während die Deavers sich ihren Gästen widmeten. Mary-Lous Blick wanderte über die sanft vom Haus zum Flussufer abfallende Rasenfläche.

Plötzlich krampfte sich ihr Magen angstvoll zusammen. Nicht der Fluss. Bilder von Clarence, der hineingefallen und in den Fluten den Tod gefunden hatte, überwältigten sie. In heller Panik rannte sie zum Ufer hinunter.

»Da ist er ja!« Olivias helle Stimme durchschnitt die Stille des Nachmittags.

Mary-Lou, noch ganz in ihren grausigen Befürchtungen gefangen, reckte den Kopf auf der Suche nach einem dunklen Haarschopf, der über den wirbelnden Wellen auf und ab hüpfte.

»Nein, Miss Ross! Dort!«

Andere Stimmen nahmen den Ruf auf und Mary-Lou fuhr herum. Sie sah, wie sechs Kinder wie wild herumhüpften und auf die andere Seite des Wäldchens auf eine Stelle deuteten, die für sie nicht einsehbar war. Sie lief um die Bäume herum und dann sah sie es: Ein scheckiges graues Pony, das über den Rasen stürmte, und Clarence, der sich auf seinem Rücken festklammerte.

Die Hufe des temperamentvollen Ponys rissen Erdklumpen auf, während es über den Rasen galoppierte. Clarence klammerte sich mit beiden Händen in der hellen Mähne fest. Er hob den Kopf; seine Augen leuchteten auf, als er Mary-Lou erblickte.

»Ja! Ja! Schauen Sie nur, was ich mache!«

Mary-Lous Hand flog an ihren Hals. Er würde sich das Genick brechen, der kleine Dummkopf. »Clarence Deaver, bring sofort das Pony zum Stehen!«

Die einzige Reaktion des Jungen war ein freches Grinsen. Er lenkte das Pony von ihr fort, direkt auf die Tische zu, wo seine Eltern mit ihren Gästen plauderten und noch nichts von der Szene mitbekommen hatten, die sich auf dem Rasen hinter ihnen abspielte.

»Nein, komm zurück!« Mary-Lou raffte ihre Röcke zusammen und rannte hinter ihm her, wohl wissend, dass sie das leichtfüßige Tier nicht einholen konnte, aber in der Hoffnung, ihm irgendwie den Weg abschneiden und so ein größeres Unglück verhüten zu können.

Doch noch während sie lief, sah sie, wie das Unglück seinen Lauf nahm wie in einem schlechten Traum. Sie wurde Zeuge, wie die Gäste aufblickten und erkannten, was da auf sie zukam. Ihre Münder öffneten sich – zuerst vor Überraschung, dann vor Entsetzen –, während das Pony und sein Reiter auf sie zujagten wie eine Kavallerieabteilung. Die Schreie der Frauen durchschnitten die Luft. Hinter Mary-Lou kreischten die aufgeregten Kinder.

Die niedrige Feldsteinmauer lag jetzt direkt vor Clarence. Mary-Lou rannte, so schnell sie konnte, und rief wieder seinen Namen, doch sie wusste, dass er sie bei dem Geräusch der wirbelnden Hufe und den Schreien der Anwesenden unmöglich hören konnte.

Sie rannte weiter und hatte das Gefühl, dass ein Gewicht an ihr hing, als versuche sie, durch die Fluten des Muskingum zu laufen. Einen Moment lang glaubte sie, dass Clarence das Pony noch in letzter Sekunde umlenken würde, doch stattdessen rammte er ihm die Fersen in die Flanken und beugte sich vor, um über die Mauer zu setzen. Doch statt zu springen, scheute das Pony und brach nach rechts aus.

Wie durch einen Nebel beobachtete Mary-Lou, wie Clarence sich von dem Pferderücken löste und über die Mauer geschleudert wurde. Das Pony kam zum Stehen und Mary-Lou hörte den Aufprall, mit dem Clarence auf dem Rasen landete. Sein Körper schien noch einmal vom Boden abzuprallen, dann blieb er reglos liegen.

Auf der anderen Seite der Mauer lief Mr Deaver zu seinem Sohn, seine Frau war direkt hinter ihm. Mehrere Diener bildeten die Nachhut.

Die Deavers erreichten den Jungen ein paar Sekunden vor Mary-Lou, die erst über die Mauer klettern musste. Clarence’ Mutter warf einen Blick auf die leblose Gestalt ihres Sohnes, schrie auf und fiel in Ohnmacht. Ihr Mann fing sie auf und hielt sie fest.

»Arthur«, rief er einem der Diener zu, »trag Master Clarence ins Haus und hol den Arzt. Bertram, hol Riechsalz für Mrs Deaver.«

Seine Frau noch im Arm haltend, drehte er sich um und sah Mary-Lou an. Seine besorgte Miene gefror zu einer eisigen Maske. »Miss Ross, kümmern Sie sich um die anderen Kinder. Dann kommen Sie in Clarence’ Zimmer.«

Kapitelornament2Kapitelornament

Bis Mary-Lou ihre verängstigten Schützlinge beruhigt, sie zu ihren ebenso verstörten Eltern gebracht und Olivia einem der Hausmädchen anvertraut hatte, war der Arzt eingetroffen und hinauf in Clarence’ Zimmer geführt worden.

Jetzt stieg sie die Hintertreppe hinauf in den dritten Stock. Ihre Füße wurden mit jedem Schritt schwerer. Was würde sie vorfinden, wenn sie die Tür zum Zimmer des Jungen öffnete? Sie schauderte, als sie an das Geräusch dachte, mit dem Clarence auf dem harten Boden gelandet war … und an die schreckliche Stille, die dem Aufprall gefolgt war.

Unheilvolle Gedanken jagten durch ihren Kopf. War Clarence noch am Leben? Oder war er vielleicht verkrüppelt? Die Angst packte sie; sie stolperte. Clarence war ein kleiner Tunichtgut, daran bestand überhaupt kein Zweifel, und nie glücklicher, als wenn er den Dienern, seiner Schwester oder Mary-Lou einen Schabernack spielen konnte. Aber er war doch noch ein Kind, ein viel geliebter Sohn.

Und sie hatte die Verantwortung für ihn gehabt.

Sie hatte das Ende des Flurs erreicht und blieb vor der offenen Tür stehen, um ihren ganzen Mut zusammenzunehmen. Aus dem Zimmer drangen leise Stimmen.

»Wird er es überleben?« Mrs Deavers Stimme klang schrill vor Angst.

»Natürlich, Eleanor.« Mary-Lou erkannte die barsche Stimme des Arztes. »Eine verstauchte Schulter hat noch keinen umgebracht, jedenfalls nicht, solange ich praktiziere. Soweit ich es sehe, hat er lediglich ein paar Beulen und Kratzer davongetragen. Ihr Sohn hat großes Glück gehabt.«

Mrs Deavers dankbares Schluchzen war wie ein Echo der ungeheuren Erleichterung, die Mary-Lou empfand. Ein wenig zuversichtlicher holte sie tief Luft und betrat das Zimmer.

Clarence lag auf dem Bett, sein Gesicht fast so weiß wie das Laken. Sein Körper war zum Teil verbunden, sein rechter Arm an der Seite fixiert. Seine Mutter kniete neben dem Bett, hielt seine freie Hand und weinte. Der Arzt stand mit dem Rücken zu Mary-Lou und legte gerade seine Instrumente wieder in seine schwarze Ledertasche.

Am Fußende des Bettes stand Clarence senior, drohend aufgerichtet wie ein Raubvogel, das Gesicht angespannt vor Zorn. »Wie konnte das passieren, mein Sohn? Sag es mir.«

»Sei nicht zu streng mit ihm, mein Lieber«, bat Mrs Deaver. »Er muss sich ausruhen.«

Clarence’ Lippen zitterten, als er dem eisigen Blick seines Vaters begegnete. Er sagte mit jämmerlicher Stimme: »Miss Ross hat es mir erlaubt.«

Mary-Lou schnappte nach Luft. Die drei Erwachsenen im Zimmer drehten sich zu ihr um; sie erwarteten eine Erklärung. Mary-Lou war sprachlos; sie stand da wie erstarrt. Dann schüttelte sie hilflos den Kopf.

Auf der anderen Seite des Bettes schluchzte Mrs Deaver laut auf. »Nachdem wir solches Vertrauen in Sie gesetzt haben? Wie konnten Sie nur!«

Mary-Lou versuchte, die Unwirklichkeit der Szene abzuschütteln. Sie blickte von den anklagenden Gesichtern auf Clarence hinunter, der sie aus unschuldsvollen blauen Augen ansah.

Seine dreiste Lüge löste ihr die Zunge. »Mr Deaver, so war es nicht. Sag ihnen die Wahrheit, Clarence.«

Nach einem verstohlenen Blick auf seine Eltern, um sicherzugehen, dass sie ihn gerade nicht anschauten, sah Clarence Mary-Lou mit einem unverschämten Grinsen direkt in die Augen. Es war dasselbe Grinsen, mit dem er geleugnet hatte, dass er seiner Schwester eine Spinne in den Halsausschnitt gesteckt hatte.

Damals war er damit durchgekommen, doch das würde sie nicht noch einmal zulassen.

Mr Deavers barscher Ton durchschnitt ihre Gedanken. »Und was ist die Wahrheit, Miss Ross?«

Mary-Lou spürte, wie sie rot wurde. »Ich habe auf die Kinder – auf alle sieben – aufgepasst, wie man mir aufgetragen hatte, und dafür gesorgt, dass die Jungen dem Stall fernblieben. Doch plötzlich war Clarence verschwunden. Dann sah ich auch schon das Pony, das auf Sie und die Gäste zustürmte. Ich wollte es aufhalten, doch er spornte es nur zu noch schnellerer Geschwindigkeit an.« Sie breitete die Hände aus. »Sie wissen, was dann passierte.«

Mr Deaver schien der Wind ein wenig aus den Segeln genommen worden zu sein. Er drehte sich zum Bett seines Sohnes um. »Stimmt das, Junge?«

Clarence verzog das Gesicht zu einer Grimasse und ließ ein klagendes Stöhnen hören. Seine Mutter schluchzte wieder auf.

»Stimmt das?«, wiederholte Mr Deaver. »Hast du das Pony genommen, ohne dass Miss Ross davon wusste?«

Clarence schob die Unterlippe vor und blinzelte die Tränen fort, die ihm in die Augen gestiegen waren. »Ich weiß, dass ich es nicht hätte tun dürfen, Vater. Ich wollte dir doch nur zeigen, wie gut ich reiten kann, damit du stolz auf mich bist.« Er wimmerte wieder. »Es ging ja auch alles gut, bis sie hinter mir herlief, mit den Armen wedelte und schrie. Daraufhin hat Prince gescheut und ich bin runtergefallen. Es wäre nie passiert, wenn sie uns beide nicht so erschreckt hätte.«

Mary-Lou starrte den kleinen Tatsachenverdreher mit offenem Mund an. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie dachte an den Moment, in dem sie Clarence mit dem Pony gesehen hatte. Sie hatte die Szene deutlich vor Augen – wie sie über den Rasen gelaufen war, so schnell sie konnte, die Röcke mit den Händen gerafft, und den Namen des Jungen gerufen hatte, damit er anhielt.

Eine Welle der Übelkeit überkam sie, ihre Sicherheit schwand. War sie vielleicht wirklich für den Unfall verantwortlich?

Mr Deaver schien ihre Unsicherheit zu spüren, er presste die Lippen zusammen. »Wir haben Ihnen die Kinder anvertraut, weil wir glaubten, uns auf Sie verlassen zu können. Anscheinend haben wir uns in Ihnen getäuscht. Der Vorfall des heutigen Nachmittags ist bestenfalls ein Beweis für Ihre mangelnde Urteilskraft … und schlimmstenfalls für Ihre grobe Fahrlässigkeit.«

»Aber … aber …« Mary-Lou rang nach Worten. Sie streckte die Hand nach Mrs Deaver aus. Sie hatten immer einen recht herzlichen Umgang miteinander gepflegt; ganz sicher würde sie ihr jetzt beistehen.

Doch der Blick, mit dem Mrs Deaver sie bedachte, zeigte Mary-Lou, dass sie sich getäuscht hatte. Dies war nicht mehr das Gesicht einer Frau, die wollte, dass jemand auf ihre Kinder aufpasste, während sie von einem Fest zum anderen flatterte, einzig darauf bedacht, die politischen Ziele ihres Mannes zu unterstützen. Es war das Gesicht einer Tigermutter, deren Lieblingsjunges verletzt worden war. Mrs Deaver zog Clarence an sich und sah Mary-Lou mit eisiger Miene an. »Ich kann Ihnen nie mehr wieder meine Kinder anvertrauen. Niemals mehr. Sie haben ja offensichtlich keine Ahnung, was Sie tun.«

Mary-Lou schwankte, als hätte man ihr einen Schlag in den Magen versetzt.

Mr Deaver deutete auf die Tür. »Packen Sie Ihre Sachen, Miss Ross. Ich möchte, dass Sie unser Haus noch heute verlassen.«

Mary-Lou tastete nach dem Türrahmen und klammerte sich daran fest. Vor ihren Augen schien alles zu verschwimmen, doch durch den Nebel, der in dem Zimmer aufgestiegen zu sein schien, hörte sie klar und deutlich die Stimme des Mannes. »Ich werde persönlich dafür sorgen, dass Sie nie wieder eine Stelle als Gouvernante finden – weder in Marietta noch sonst irgendwo im Staat Ohio.«

Mary-Lou stieß sich vom Türrahmen ab und blinzelte den Nebel fort. Er hob sich gerade noch rechtzeitig, dass sie das triumphierende Aufleuchten in Clarence’ Augen sehen konnte, bevor sie sich abwandte.

Ornament

Dreißig Minuten später legte Mary-Lou die letzte ihrer ordentlich gefalteten Blusen auf ihre übrigen Kleidungsstücke in dem kleinen Koffer und schloss ihn. Dann nahm sie ihr zusammengeknülltes Taschentuch von der Frisierkommode und betupfte sich die Augen, doch das feuchte Leinen konnte die Tränen nicht mehr aufnehmen. Sie griff in ihre offene Tasche, um ein frisches Taschentuch herauszuholen, und fuhr sich damit über das Gesicht.

Dabei fiel ihr Blick in den ovalen Spiegel über der Kommode. Sie betrachtete die rot geränderten Augen und das geschwollene Gesicht und schüttelte den Kopf. Tränen konnten ihr jetzt auch nicht mehr helfen. Wenn das möglich gewesen wäre, hätte die Menge, die sie seit dem Verlassen von Clarence’ Zimmer vergossen hatte, ihre Situation schon längst dramatisch geändert. Doch es hatte sich überhaupt nichts verändert, seit Mr Deaver ihr befohlen hatte, das Haus zu verlassen. Ihr Schicksal schien besiegelt.

Aus den Reaktionen der anderen Diener, denen sie auf dem Weg in ihr Zimmer begegnet war, hatte sie schließen können, dass eines der Mädchen vor der Tür gelauscht und keine Zeit verloren hatte, die Nachricht von ihrer Entlassung weiterzuerzählen. Ein mitfühlendes Lächeln hätte ihr wohlgetan, doch die gleichmütigen Mienen und abgewandten Augen, als sei sie eine Ausgestoßene, hatten ihr selbst diesen geringen Trost versagt.

Wieder einmal wurde sie an die Distanz zwischen einer Gouvernante und den übrigen Bediensteten eines Haushalts erinnert. Sie stand nicht hoch genug, um als Familienmitglied zu gelten, aber doch zu hoch, als dass sie Freunde unter den anderen Dienstboten hätte gewinnen können.

Mr Deaver hatte es unmissverständlich gesagt: Ihre Zeit als Gouvernante war vorüber. Er schmeichelte sich, einen nicht unbeträchtlichen Einfluss zu haben, und seine Drohung, sie in der ganzen Gegend hier zu verunglimpfen, war durchaus ernst gemeint gewesen. Er hatte die Macht, seine Drohung wahr zu machen, und Mary-Lou wusste, dass er sich nicht davon abbringen lassen würde. Hier in Marietta würde sie niemals mehr eine Anstellung finden.

Doch wo sollte sie hingehen? Sie schlug die Hände vor den Mund und erstickte ein Aufschluchzen. Wie gern hätte sie ihr Herz ihren geliebten Großeltern ausgeschüttet, deren weiser Rat ihr in ihrer Jugend so oft geholfen hatte. Doch wenn ihre Großeltern noch lebten, wäre sie gar nicht erst in diese Situation geraten.

Ein leises Stöhnen entrang sich ihren Lippen. Ohne familiäre Bindungen und gute Freunde waren ihre Aussichten nicht nur begrenzt, sondern schlicht und einfach hoffnungslos. Was sollte sie jetzt anfangen? Mary-Lou spürte, wie ihr abermals die Tränen in die Augen stiegen, und presste die Handballen gegen die Augäpfel.

Der Gedanke an eine Familie erinnerte sie an die wenigen, zärtlich gehegten persönlichen Erinnerungsstücke, die sie ganz unten in ihren Koffer gelegt hatte. Sie kramte zwischen ihren Toilettenartikeln ganz unten in ihrer Tasche, zog ein schmales Kästchen hervor und breitete den Inhalt auf der Frisierkommode aus. Als sie die Kollektion betrachtete, wurde ihr ganz eng ums Herz: die Kameenbrosche ihrer Mutter, ein paar blaue Haarbänder, ein Päckchen mit Briefen – Erinnerungen an hoffnungsvolle Mädchenjahre und glücklichere Zeiten.

Mary-Lou zog den obersten Briefumschlag unter dem Band hervor, das den Stapel zusammenhielt, und musste trotz ihres Kummers lächeln, als sie die vertraute Handschrift sah. Dies war der letzte Brief von ihrem Cousin George, geschrieben vor etwa einem Jahr, kurz nachdem sie ihre Stelle bei den Deavers angetreten hatte. Er war zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefs ihr letzter lebender Verwandter gewesen und acht Monate später verstorben, was ihr seinen letzten Brief doppelt kostbar machte.

Obwohl sie wusste, dass sie lieber zu Ende packen sollte, als in Erinnerungen zu schwelgen, zog Mary-Lou das dünne Blatt Papier aus dem Umschlag, getrieben von der schmerzlichen Sehnsucht, die letzte Verbindung zu jemandem, der sie geliebt hatte, wiederherzustellen.

Liebe Mary-Lou,

es ist lange her, dass ich dir geschrieben habe. Ich habe keine Entschuldigung dafür, bis auf die Tatsache, dass es hier in Cedar Ridge viel zu tun gab. Die Leitung des Ladens hält Alvin und mich ganz schön auf Trab.

Du hast in deinem letzten Brief ein bisschen einsam geklungen, Melly-Mädchen. Ich weiß, dass du in letzter Zeit ein paar schwere Schläge einstecken musstest, aber vergiss nicht, solange ich lebe, hast du einen Menschen, der dich liebt. Was mir gehört, gehört auch dir. Wann immer du dich aus Ohio absetzen und zu uns nach Arizona kommen willst – hier warten Obdach und eine Beschäftigung auf dich. Dein hübsches Gesicht würde dem Laden bestimmt guttun und Hilfe können wir sowieso immer gebrauchen.

Ich habe dir schon ein paar neue Bänder für dein Haar weggelegt, es sei denn, du bist zu erwachsen, um so etwas noch zu brauchen. Wenn ja, darfst du dir im Laden aussuchen, was immer du willst. Für mein Melly-Mädchen ist das Beste gerade gut genug.

Dein dich liebender Cousin

George

Mary-Lou presste den Brief an ihre Brust und unterdrückte ein Schluchzen. Der Sohn des ältesten Bruders ihres Vater, George, stand rein altersmäßig ihren Eltern näher als ihr und war ihr deshalb immer eher ein Onkel als ein Cousin gewesen. Wie hatte sie seine seltenen Besuche geliebt, bei denen er ihr stundenlang von seinen Reisen und Abenteuern in den Goldgräberlagern im Westen erzählte. Und auch als er sich mit seinem langjährigen Schürfpartner Alvin Nelson niederließ und einen Laden eröffnete, waren seine Briefe stets ein Lichtblick in ihrem Leben gewesen.

Wenn er doch nur noch am Leben wäre! Nach dem Tod ihrer Großeltern hatte sie überlegt, ob sie zu George gehen und bei ihm leben sollte. Doch stattdessen hatte sie sich entschlossen, eine Stellung als Gouvernante anzunehmen – eine der wenigen Beschäftigungen, die als passend für junge Damen aus guter Familie, aber mit beschränkten Mitteln galten. Sie hatte geglaubt, sich eine gewisse Kontinuität und Sicherheit bewahren zu können, wenn sie in der ihr vertrauten Gegend blieb, in der sie aufgewachsen war. Jetzt blickte sie auf ihren gepackten Koffer hinunter und spürte, wie ihr schon wieder die Tränen kamen. So viel zum Thema Sicherheit.

Sie legte die Hände in den Schoß und sah aus dem Fenster. »Gott, warum hast du ihn mir genommen?« Wenn George noch lebte, würde sie sich sofort auf den Weg in den Westen machen.

Mary-Lou seufzte auf. Wieder neigte sie den Kopf und las den Brief ein weiteres Mal. Als sie sah, welche Liebe aus jeder einzelnen Zeile sprach, musste sie wider Willen lächeln. Und als sie an die Stelle mit den Haarbändern kam, vertiefte sich ihr Lächeln noch. Dazu das Versprechen, ihr ein Dach über dem Kopf zu bieten, und der Vorschlag, bei ihm und seinem Partner im Laden mitzuarbeiten – wäre das nicht wunderbar?

Sie hatte nie daran gedacht, George beim Wort zu nehmen, doch allein das Wissen, dass es ein Zuhause für sie gab, sollte sie je eines brauchen, war ihr ein Trost gewesen, vor allem in den Zeiten, in denen ihr das Dasein als Gouvernante fast unerträglich geworden war. Und unter den gegenwärtigen Umständen wäre es ihr sogar weit mehr als nur ein Trost – es würde ihr das Leben retten und wieder ein Stück Sicherheit geben.

Sie schob den Brief wieder in den Umschlag und legte ihn zurück in das Briefbündel. Dabei schob sich ein anderer Brief ein Stückchen heraus. Sie zog ihn ganz heraus und legte ihn auf den Tisch; als sie den Absender erkannte, fing ihr Herz an, heftig zu klopfen.

Diesen Brief hatte sie kurz nach dem letzten Weihnachtsfest bekommen; er stammte von Alvin Nelson, Georges Partner im Ross-Nelson-Handelsunternehmen. Alvin hatte ihr Georges Tod mitgeteilt und damit das Band zu ihrem letzten noch lebenden Verwandten durchtrennt.

Sie überflog rasch den ersten Teil des Briefs; an die schmerzliche Nachricht erinnerte sie sich nur allzu gut. Dann blieben ihre Augen an einem der unteren Abschnitte hängen:

George war der beste Partner, den man sich vorstellen konnte, und ich möchte ihm ein ebenso guter Freund sein, wie er es mir war. Ich weiß, wie viel Sie ihm bedeutet haben. Jedes Mal, wenn er mir die Ferrotypie von Ihnen als kleinem Racker zeigte, hörte ich den Stolz in seiner Stimme. Sein Melly-Mädchen hat er Sie genannt. Sie sollen wissen, dass ich alles aufbewahrt habe, was er hinterlassen hat, und dass es Ihnen gehört. Ich werde es aufheben, falls Sie irgendwann kommen und es abholen wollen – was ich sehr hoffe. Ich würde Sie sehr gern kennenlernen; er hat viel von seiner kleinen Cousine erzählt.

Ihr gehorsamer Diener

Alvin Nelson

In ihrem ersten Kummer über den Tod ihres Cousins hatte sie Alvins Einladung gar nicht richtig zur Kenntnis genommen, doch jetzt fasste sie den Brief in ihrer Hand unwillkürlich fester, während sie wie blind auf die Wand vor sich starrte und ihr Wendungen aus dem Brief durch den Kopf gingen.

»Ich habe alles aufbewahrt, was er hinterlassen hat … Ich werde es aufheben, falls Sie irgendwann kommen und es abholen wollen.«

Leise regte sich die Hoffnung in ihr. Cousin George mochte seine sterbliche Hülle abgelegt haben, aber vielleicht hatte seine Einladung noch immer Gültigkeit. George hatte Alvin Nelson gemocht und er hatte ihm vertraut. Alvin Nelsons Brief selbst klang sehr mitfühlend. Immerhin hatte er Georges Einladung nach Arizona bestätigt und ihr vorgeschlagen abzuholen, was George ihr hinterlassen hatte.

Mary-Lous Atem beschleunigte sich. Wenn sie erst einmal dort war, würde die Einladung vielleicht erweitert zu dem Angebot, zu bleiben und im Laden mitzuarbeiten! George hatte in seinem Brief angedeutet, dass sie zusätzliche Hilfe immer gebrauchen konnten. Und das galt doch jetzt, wo Alvin ganz allein mit dem Laden war, sicher doppelt?

Ihre Fantasie gaukelte ihr die schönsten Bilder vor, angefangen bei ihrer Ankunft im Laden und Mr Nelsons warmherziger Begrüßung. Sie konnte beinahe hören, wie er sie bat zu bleiben, ihr eine Stellung anbot und ein Dach über dem Kopf. Alles würde gut werden. Es musste einfach gut werden. Und war das Ganze nicht sowieso ein wunderschöner Gedanke? Sie brauchte einfach nur nach Arizona zu reisen …

Die Erinnerung an ihre tatsächliche Situation ließ die glückliche Szene, die sie sich gerade ausmalte, genauso wirkungsvoll zerplatzen wie eine Nadel den Ballon eines Kindes. Alvin Nelson mochte vielleicht bereit sein, sie aufzunehmen und ihr ein Heim zu geben, wie sie hoffte, doch es blieb immer noch die Tatsache, dass sie dafür erst einmal nach Arizona gelangen musste. Und das war ihr unmöglich, weil sie kein Geld für die Zugfahrt hatte.

Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Ihre Anstellung umfasste Unterkunft und Verpflegung zuzüglich einer kleinen monatlichen Summe für persönliche Ausgaben. Sie musste nicht erst in ihrer Börse nachsehen, um zu wissen, dass sie sich auf keinen Fall eine Zugfahrkarte leisten konnte. Der Kauf eines dringend benötigten Mantels im Januar hatte ihre Ersparnisse weitgehend aufgezehrt, und der kleine Betrag, den sie seither beiseitegelegt hatte, würde kaum für eine Übernachtung reichen, geschweige denn für eine Fahrt mit dem Zug quer durch das Land.

Sie rang die Hände und zerknüllte dabei Alvin Nelsons Brief. »Was soll ich nur tun, Gott? Ich habe keinen Ort, wo ich hingehen könnte, und keinen, an den ich mich wenden kann, außer dir. Mein Großvater hat immer gesagt, dass du die Gebete der Menschen hörst, deshalb höre mich jetzt, bitte!«

Ein scharfes Klopfen an der Tür ließ sie zusammenschrecken. Mary-Lou trocknete sich rasch die Augen, dann stand sie auf und öffnete die Tür. Draußen stand Jarvis, der Butler.

Er hielt ihr einen versiegelten Umschlag hin. »Mr Deaver schickt Ihnen diese Nachricht. Er möchte wissen, ob Sie fertig sind zur Abreise.«

Aus Jarvis’ zurückhaltendem Ton und seiner steifen Haltung schloss Mary-Lou, dass er das Schlimmste befürchtete – Tränenausbrüche und verzweifelte Bitten um mehr Zeit. Nun, diesen Gefallen würde sie ihm nicht tun. Sie zwang sich zu einem würdevollen Nicken, nahm den Brief und wandte sich ab, um ihn zu öffnen, damit der Butler nicht sah, wie ihre Hände zitterten.

Was konnte Mr Deaver ihr noch zu sagen haben? Er hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie keine Empfehlung von ihm zu erwarten hatte. Mit leichter Befremdung öffnete sie den Umschlag und sog scharf die Luft ein, als sie ein kleines Bündel Banknoten sah, in ein Blatt Papier eingeschlagen. Die Nachricht war kurz und bündig:

Betrachten Sie das als Abfindung.

Von dem beschriebenen Blatt starrte sie auf das Geld und wieder zurück. War jemals ein Gebet so schnell erhört worden? Die Summe, die sie in der Hand hielt, würde ihr kein Leben in Müßiggang ermöglichen, doch sie konnte damit die Fahrt in ein neues Zuhause bezahlen … und mehr brauchte sie nicht.

Sie flüsterte einen tief empfundenen Dank und drehte sich wieder zu Jarvis um. »Sagen Sie Mr Deaver, dass ich gepackt habe und bereit bin zur Abreise.«

Dann sammelte sie ihre Erinnerungsstücke ein, steckte sie – zusammen mit dem vom Himmel geschickten Bargeld – in ihre Tasche und ließ das Schloss zuschnappen. Dann streifte sie sich den Griff über den Arm und sah Jarvis mit einem ruhigen Lächeln an. »Bitte sorgen Sie dafür, dass mein Koffer zum Bahnhof gebracht wird.«

Die Brauen des Butlers flogen fast bis zum Haaransatz hoch. »Sie verlassen Marietta? Aber Sie können doch unmöglich so rasch eine neue Anstellung gefunden haben!«

Mary-Lous Lächeln vertiefte sich. Sie presste ihre Tasche fest an sich und sagte: »Meine Zeit als Gouvernante ist vorüber, Jarvis. Ich fahre nach Arizona.«

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Cedar Ridge, Arizona

Caleb Nelson kniete neben einer Packkiste und lehnte sich auf die Brechstange. Er keuchte vor Anstrengung, als er den letzten Nagel aus dem Deckel zog. Mit einem protestierenden Quietschen löste sich der hartnäckige Nagel schließlich, flog hoch in die Luft wie ein Korken, fiel wieder herunter und kullerte im Anschluß unter die Ladentheke.

Caleb lehnte den Kistendeckel an die Theke, bückte sich und schaute unter den Tisch. In dem trüben Licht konnte er den Umriss des Nagels ausmachen … und einen Fetzen Papier. Er angelte den Nagel hervor, dann streckte er die Hand nach dem Stück Papier aus.

Nicht noch eine. Caleb starrte auf die ungelenke Schrift auf dem zusammengeknüllten Papier, das er in der Hand hielt, und wünschte, er wüsste, was hinter der unverhüllten Drohung steckte.

Verschwinde aus Cedar Ridge. So was wie dich wollen wir hier nicht haben.

Ein leicht abgeänderter Wortlaut diesmal, aber im Ton doch ganz ähnlich wie die anderen Nachrichten, die er erhielt, seit er nach dem Tod seines Onkels das Ross-Nelson-Handelsunternehmen übernommen hatte. Sie kamen in regelmäßigen Abständen. Anfangs hatte ihn die unverhüllte Feindseligkeit erschreckt. Onkel Alvin war ein grundgütiger Mensch gewesen, dessen Hauptanliegen im Leben es gewesen war, seinen Mitmenschen zu helfen. Caleb konnte sich nicht vorstellen, dass er irgendetwas getan hatte, was solche Reaktionen hervorrief.

Und selbst wenn er ein Unrecht begangen hätte, das derartige Racheandrohungen provozierte – warum trafen sie auch nach seinem Tod noch ein? Caleb runzelte die Stirn, während er die Nachricht las, und überlegte, was wohl hinter den Drohbotschaften stecken mochte … und ob der Verfasser sich damit zufriedengeben würde, anonyme Briefe zu schreiben, oder ob die Drohungen eines Tages in ebenso bösartige Taten umgesetzt würden.

»Papa?«

Das dringliche Flüstern unterbrach seine Überlegungen. Caleb knüllte das Papier zusammen und schob es in seine Tasche. Dann bemühte er sich, den Ausdruck der Sorge aus seinem Gesicht zu tilgen, bevor er sich zu seinem Sohn umwandte. »Ja, Levi? Was ist?«

Schokoladenbraune Augen – Corinnas Augen – strahlten ihn fasziniert an. »Da drüben, Papa. Da ist die Dame, die wie ein S aussieht.«

Caleb drehte den Kopf und folgte dem ausgestreckten Zeigefinger des Sechsjährigen mit dem Blick. Aus seiner gebückten Haltung heraus konnte er auf der anderen Seite der Theke Ophelia Pike erkennen, die bei den Regalen neben dem Kanonenofen stand.

»Die Dame, die wie ein S aussieht.« Calebs Innerstes zog sich zusammen angesichts der anschaulichen Beschreibung der Gattin des Bürgermeisters. Seit die Schule vorübergehend geschlossen worden war, weil die Lehrerin mit einem Offizier aus Fort Verde durchgebrannt war, verbrachte Caleb seine Abende damit, Levi Lesen und Schreiben beizubringen. Er war stolz auf seine Fähigkeiten und wusste, dass Corinna seine Bemühungen gebilligt hätte. Im Moment befiel ihn allerdings Unsicherheit, ob seine Lehrmethoden tatsächlich den gewünschten Erfolg zeitigten.

»Mr Nelson, ich brauche Ihre Hilfe.« Die scharfe Stimme der Frau drang wie eine Feuersirene durch den Laden. »Diese Konserven stehen viel zu hoch, ich kann sie nicht erreichen.«

»Ich bin sofort bei Ihnen, Mrs Pike.« Caleb stand auf und klopfte sich den Staub von den Knien seiner Arbeitshose. Dann bückte er sich noch einmal und schob die Kiste an die Theke, damit kein unvorsichtiger Kunde darüber stolperte. Er klaubte noch ein paar Fäden Holzwolle auf, die auf den Boden gefallen waren, und steckte sie wieder zurück in den offenen Behälter.

Dann richtete er sich auf, wischte sich die Hände ab und wollte gerade zu Mrs Pike gehen, als ihm auffiel, wie sein Sohn die neu eingetroffene Ware interessiert musterte. Caleb deutete auf die Kiste und bedachte Levi mit einem strengen Blick. »Rühr das nicht an«, befahl er. »Und sorge dafür, dass Freddie in seiner Schachtel bleibt. Ich will nicht, dass er die Kunden erschreckt.« Über Levis Haustier, den Frosch Freddie, hatten sich schon viele Frauen des Städtchens beklagt.

»Ja, Papa.« Levi schenkte ihm ein engelhaftes Lächeln.

Caleb, der dem unschuldigen Gesicht nicht eine Sekunde traute, warf dem Jungen noch einen warnenden Blick zu und ging dann rasch zu seiner Kundin hinüber. Es würde nicht lange dauern, ihr ein oder zwei Konserven aus den oberen Regalen zu holen. Dann würde er gleich mit der Kiste weitermachen, bevor Levis Forscherdrang siegte und es zu einem Unglück kam. Der Kleine war neugierig wie eine Katze und Caleb malte sich lieber nicht aus, wie er ihm half, eine Sendung Geschirr auszupacken.

Caleb ging quer durch den Laden zu der wartenden Mrs Pike, die in einem Winkel vor dem Regal stand, der es ihm gestattete, sie ungehindert von der Seite zu betrachten. Da sie sich als Vorreiterin in Modefragen betrachtete, trug sie seit Kurzem eine Turnüre. Der Rock, den sie heute ausführte, wölbte sich unterhalb ihrer Taille so jäh nach hinten wie ein spitzer Vorsprung. Mit ihrem vorstehenden Kinn, den gestrafften Schultern und der stark betonten Rückfront glich ihre Silhouette in der Tat dem Buchstaben S. Im gleichen Augenblick, in dem ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss, wandte Caleb die Augen ab und er spürte, wie eine Hitzewelle seinen Hals hinaufkroch.

Er räusperte sich. »Was kann ich für Sie tun, Mrs Pike?«

»Geben Sie mir bitte zwei Dosen eingelegte Tomaten.« Sie deutete auf das oberste Regalfach und murrte, während er die Dosen herunterholte: »Es wäre wirklich eine große Hilfe, wenn Sie die Sachen nicht so weit oben hinstellen würden. Wie soll man denn da herankommen? Aber ich setze natürlich voraus, dass Sie Ihre Waren verkaufen und nicht nur ausstellen wollen.«

Caleb verzog das Gesicht zu einer Grimasse und blickte sich verstohlen im Laden um in der leisen Hoffnung, dass seine anderen Kunden diese Tirade nicht gehört hatten. Doch als er die mitfühlenden Blicke sah, verflog diese Hoffnung; Mrs Pikes Stimme klang wie die einer ausgebildeten Bühnenschauspielerin und füllte mühelos den Raum.

Sie starrte ihn vorwurfsvoll an. »Mein Mann möchte, dass ich mit Ihnen über die Wimpel spreche, die wir für die Stadtgründung brauchen. Haben Sie sie schon bestellt?«

»Noch nicht«, musste Caleb zugeben. »Aber bis zur Feier ist es doch noch über einen Monat; wir haben also noch genügend Zeit.«

Mrs Pike schnaubte. »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Saumseligkeit ist ein Zeichen für einen schwachen Charakter.«

Caleb schluckte. »Ja, Ma’am. Hat der Bürgermeister noch einmal darüber nachgedacht, ob er auch Feuerwerkskörper für das Ereignis haben möchte? Ich könnte sie auf die Liste mit den Wimpeln setzen.«

Mrs Pike hob das Kinn. »Bürgermeister Pike hat seine Meinung nicht geändert. Er hat die Absicht, das Versprechen zu halten, das er den Bürgern von Cedar Ridge gegeben hat, und die öffentlichen Gelder vernünftig zu verwalten. Die Wimpel kann man jahrelang verwenden, ein Feuerwerk dauert nur einen kurzen Augenblick – keine besonders sinnvolle Verwendung städtischer Geldmittel. Von meinem Mann könnten Sie noch viel für Ihr Geschäft lernen, junger Mann!«

Caleb setzte sein versöhnlichstes Lächeln auf und hielt ihr die Dosen entgegen. »Ist das alles oder brauchen Sie sonst noch etwas?«

Die Nasenspitze von Mrs Pike zitterte wie die eines Kaninchens. »Das ist aber nicht die Marke, die ich immer kaufe.«

Es ist aber die einzige Marke, die ich im Moment vorrätig habe. Caleb hatte Mühe, sich diese Bemerkung zu verkneifen. Onkel Alvin hatte größten Wert darauf gelegt, seine Kunden respektvoll zu behandeln, ganz gleich, wie sie sich benahmen. Das Wohlwollen der Kunden war von entscheidender Bedeutung für den Erfolg des Ladens, vor allem jetzt, da im letzten Herbst noch ein Konkurrenzunternehmen in der Stadt eröffnet hatte. Er konnte es sich nicht leisten, Kunden zu verprellen … auch nicht die anstrengende Mrs Pike. Also reckte er sich, um die Dosen wieder ins Regal zu stellen.

»Junger Mann, habe ich vielleicht gesagt, dass ich sie nicht haben will? Stellen Sie sie auf die Theke, ich möchte mich noch ein bisschen umschauen …« Mrs Pike hielt plötzlich mitten im Satz inne, schnappte nach Luft und starrte mit entsetztem Ausdruck an Calebs linker Schulter vorbei.

Caleb drehte sich hastig um. Eine große Staubwolke verdeckte beinahe den Blick auf seinen Sohn, der neben der offenen Kiste kniete. Seine dünnen Arme bewegten sich wie Dreschflegel, während er ganze Hände voll Holzwolle in die Luft schleuderte.

»Es schneit, Papa!«, rief er begeistert, während die feinen Holzspäne auf seinen Kopf niederrieselten. »Du hast doch gesagt, dass wir wahrscheinlich nie wieder Schnee sehen würden, wenn wir nach Arizona ziehen, aber jetzt mache ich Schnee. Guck mal!« Und er warf die nächste Handvoll Holzwolle in die Luft.

Caleb sah ungläubig zu, wie die Fädchen herunterschwebten und sich auf seinen Sohn, den Boden rund um ihn und die umstehenden Regale legten.

Mrs Pike räusperte sich. »Wirklich, Mr Nelson, Sie sollten besser auf den Jungen achtgeben.« Ihre Nase bebte schon wieder und unterstrich ihren nächsten Satz: »Wenn es mein Sohn wäre, wüsste ich, wie ich solchem Benehmen ein Ende setze.«

Mit einem Schnauben wandte sie sich zur Tür. »Ich sehe schon, Sie haben alle Hände voll zu tun, um hier erst einmal Ordnung zu schaffen. Ich komme ein andermal wieder … wenn ich nicht beschließe, lieber bei Mr O’Shea einzukaufen.«

»Und was ist mit den Tomaten?« Caleb hielt eine der Dosen hoch, doch Mrs Pike war schon durch die Tür. Durch das Fenster sah er, wie sie die Straße überquerte und den direkten Weg zu O’Sheas Kaufhaus am anderen Ende der Stadt einschlug.

Er seufzte, stellte die Dosen zurück ins Regal und wandte sich der Holzwolle zu, die in dicken Schichten auf dem Boden lag. Levi war es offensichtlich müde geworden, Schneesturm aufzuwirbeln; im Moment stellte er gerade seine Zinnsoldaten auf dem Regal unter der Theke auf. Caleb massierte seinen Nasenrücken. Er wünschte, er wäre ein besserer Vater und könnte Levi besser im Zaum halten.

Er konnte nicht leugnen, dass Mrs Pike bis zu einem gewissen Grad recht hatte. Wie sollten die Kunden sich in seinem Laden wohlfühlen, wenn sie nie wussten, was der Junge im nächsten Augenblick anstellen würde?

Aber wie sollte er seinen quirligen Sohn im Zaum halten? Die Tage hier im Laden waren kein Leben für einen aktiven Sechsjährigen. Normalerweise sollte Levi seine überschüssige Energie verbrauchen, indem er unter den wachsamen Augen seiner Mutter draußen spielte. Doch genau das war Calebs Problem. Die einzigen Augen, die Levi überwachen konnten, waren seine eigenen, und offenbar gelang es ihm nicht besonders gut, dem Jungen Vater und Mutter zugleich zu sein.

»Mach dir nichts draus.«

Caleb schrak zusammen, als er plötzlich die Stimme neben sich hörte. Er fuhr herum. An der Theke lehnte Earl Slocum, ein Grinsen im graubärtigen Gesicht. »Wie bitte?«

»Die Pike. Ich hab gehört, was sie gesagt hat.«