Erster Teil

Inhaltsverzeichnis

II

Inhaltsverzeichnis

Oliver heiratete Eliza im Mai. Sie machten eine Hochzeitsreise nach Philadelphia und zogen dann in das Haus an der Woodson Street, das er ihr gebaut hatte.

Mit seinen großen Händen hatte er Fundamente gelegt, tiefe Keller ausgegraben, Wände mit glattem, warm-braunem Mörtel verkleidet. Er hatte sehr wenig Geld, dies Haus aber ward zum Spiegelbild seiner reichen Phantasie. Schließlich stand es – mit behaglichen Stuben im Innern, in denen er nach Laune auf und ab gehen konnte – mit einer großen weitbauchigen Veranda nach außen – an der Berglehne, nahe bei der hügeligen Straße. In der mulmigen Erde des Vorgartens legte Oliver Blumenbeete an; das kurze Stück Wegs zur Veranda pflasterte er mit viereckigen Buntmarmorplatten; er errichtete einen Staketenzaun zwischen seinem Heim und der Welt.

Im Garten hinterm Haus, der vierhundert Fuß den Abhang hinauf reichte, pflanzte er Obstbäume und Reben. Was er auch anrührte, gedieh. Mit den Jahren wuchsen die Bäume – Pfirsich, Pflaume, Kirsche und Apfel – hoch und trugen schwer. Die Rebhölzer wurden zäh, schlangen, wanden und schraubten sich an den Drähten, trieben üppig in Blätter, Ranken und Trauben. Sie umzogen das Grundstück in doppeltem Spalier, klommen zur Veranda vor, umrahmten die Fenster des Obergeschosses dicht mit Laub. Die Gartenblumen wucherten in wildem Tumult: sammelblättriges Nasturtium mit hundert gelb-goldnen Farben gefleckt, Rosen, Schneeballblüten, rotkelchige Tulpen und Lilien. Dichtes Geißblatt belud den Zaun. Was auch immer Olivers große Hände berührten, gedieh.

Für ihn war das Haus ein Bild seiner Seele, ein Gewand seines Lebenswillens. Aber für Eliza war es ein Stück Hab und Gut, dessen Wert als Grundstock zu einem Vermögen sie klug einschätzte. Wie alle älteren Kinder des Majors Pentland hatte sie seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr langsam angefangen, Boden zu erwerben. Sie besaß bereits ein oder zwei Stücke Land, die sie vom Ersparten ihres kargen Verdiensts als Lehrerin und Buchagentin gekauft hatte. Sie überredete Oliver, sich auf einem dieser Grundstücke, einem kleinen Eckchen am Rand des Stadtplatzes, eine Werkstatt zu bauen. Mit eignen Händen und der Hilfe von zwei Negerarbeitern errichtete er einen Backsteinschuppen mit einer breiten Holztreppe, die von einer marmorgepflasterten Veranda auf dem Platz hinunter führte. Auf der Veranda lagerte er die Steinklötze. Neben der hölzernen Tür stellte er eine alberne, plumpe Engelsfigur aus.

Aber Eliza war mit seinem Geschäft nicht zufrieden. Am Tod war kein Geld zu machen. Die Leute stürben zu langsam, dachte sie. Sie sah voraus, daß ihr Bruder Will, der mit fünfzehn Jahren als Lehrling in den Holzhandel eingetreten war und nun bereits ein eignes Geschäft besaß, mit der Zeit ein reicher Mann werden würde. Sie überredete Gant, Will Pentlands Geschäftspartner zu werden. Nach einem Jahr jedoch ging Gants Geduld aus; sein Egoismus brach durch. Er schrie, daß Will sie alle ruinieren würde. Will, der seine Stunden im Geschäft abwechselnd damit zubrachte, mit einem Bleistiftstummel auf verschmutzte Briefumschläge Zahlen zu kritzeln, an seinen Nägeln herumzuschnipseln und blöde Witze zu reißen, kaufte stillschweigend Olivers Geschäftsanteil aus und baute weiterhin an seinem Vermögen. Gant zog sich in den einsamen Werkschuppen zu seinen verstaubten Marmorengeln zurück.

Die seltsame Gestalt Oliver Gants warf ihren Schatten durch die Stadt. Die Leute hörten, wie er früh und spät Eliza pathetisch verfluchte, sahen ihn, wie er vom Haus zur Werkstatt rannte, wie er sich über seinen Marmorblöcken beschäftigte, wie er fluchend und heulend mit leidenschaftlichem Eifer an seinem Heim baute. Sie lachten über die Großspurigkeit seiner Redensarten, seiner Fühlweise, seiner Gebärden. Sie verstummten vor der manisch-trunksüchtigen Wut, die ihn fast pünktlich alle zwei Monate befiel und zwei bis drei Tage dauerte. Stinkend und bewußtlos fanden sie ihn in der Gosse und schleppten ihn heim ... der Bankier, der Schutzmann, ein ihm ergebner, schäbiger Juwelier namens Jannadeau, ein stämmiger Schweizer, der eine kleine, ausgezäunte Ecke von Gants Grabmalschuppen gemietet hatte. Sie behandelten ihn zart und sorgfältig, sie empfanden das Seltsame, Stolze und Glorreiche in ihm. Er blieb ihnen fremd. Niemand – nicht einmal Eliza – nannte ihn je beim Vornamen. Er war und blieb für immer »Mister« Gant.

Was Eliza an Schmerz, Angst und Herrlichkeit ausstand, weiß kein Mensch. Über alles atmete Gant seine Gier, seine Wut. Wenn er betrunken war, trieb ihn ihr weißes, zusammengezogenes Gesicht mit den kleinen, langsamen Anzeichen des Mißmuts zum hellen Wahnsinn. Sie war dann tatsächlich in Lebensgefahr und mußte ihr Zimmer vor ihm absperren. Von allem Anfang an führten die beiden einen dunklen, unheimlichen Krieg miteinander. Wenn er fluchte, flennte Eliza oder blieb stumm. Auf seine hochtrabenden Reden antwortete sie mit trocknem Genörgel. Sie war nachgiebig wie eine Weide im Sturm ... und langsam, unwiderstehlich setzte sie ihren Willen gegen ihn durch. Jahr um Jahr, trotz seines brüllenden Protests, erwarben sie – er wußte nicht wie – kleine Stücke Land, zahlten die verhaßten Grundsteuern und kauften von dem übrigen Geld neuen Boden hinzu. Über die Ehefrau hinweg, über die Mutter hinaus, entwickelte sich in Eliza eine Person männischen Wesens: die Grundstücksspekulantin.

In elf Jahren gebar sie ihm neun Kinder, von denen sechs am Leben blieben. Das erste, ein Mädchen, starb im zwanzigsten Monat an Kindercholera. Zwei andre starben bei der Geburt. Die übrigen überstanden die grimmen Anfälligkeiten der ersten Lebenszeit. Das älteste, ein Junge, war 1885 geboren und wurde Steve getauft. Das zweite, fünfzehn Monate später geboren, war ein Mädchen: Daisy. Das nächste, gleichfalls ein Mädchen, kam drei Jahre später. Dann, 1892, kamen Zwillingsbuben, denen Gant, der stets Geschmack an der Politik fand, die Namen der Präsidenten Grover Cleveland und Benjamin Harrison gab. Der letzte, Luke, war zwei Jahre später, 1894, geboren.

Zweimal in dieser Zeitspanne – in fünfjährigen Intervallen – artete Gants periodische Trunksucht in wochenlang ununterbrochene Sauferei aus. Er verkam. Beide Male schickte ihn Eliza zur Kur in eine Trinkerheilstätte in Richmond. Einmal erkrankten sie und vier ihrer Kinder zu gleicher Zeit an Typhus. Während einer langwierigen Rekonvaleszenz schürzte sie die Lippe und fuhr mit den Kranken zur Erholung nach Florida.

Schwerfällig rang sich Eliza in diesen Jahren der Liebe, der Widerwärtigkeiten und des Verlusts zum Sieg durch. Sie ertrug das wilde Flackern von Gants fremdem, leidenschaftlichem Sein. Stumpf und grausam war er oft, aber sie erinnerte sich immer an das Herrliche, die ungeheure Leuchtkraft des Lebens in ihm, sie dachte stets an das Verlorne, Verschüttete in ihm, das er nicht finden konnte. Furcht und wortloses Mitleid packten sie, wenn sie manchmal beobachtete, daß seine kleinen unruhigen Augen still und dunkel wurden vom sinnlos-gierigen Hunger, der alten Qual. O verloren!

III

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In der Prozession der Jahre, in denen die Geschichte der Familie Gant sich vollzog, sind nur wenige mit Schmerz, Schrecknis und Elend so beladen gewesen wie das, mit dem das 20. Jahrhundert begann. 1900 wurde Gant fünfzig. Er wußte, daß er halb so alt war wie das ausgegangne Jahrhundert, daß Menschen nur selten ein Jahrhundert alt werden. Eliza, die mit dem letzten Kind, das sie gebären sollte, schwanger ging, überstand ihre letzte verzweifelte Angst. In der üppigen Dunkelheit von Sommernächten, als sie ausgestreckt, die Hände auf dem verschwollenen Leib, im Bett lag, begann sie, ihr Leben für die Jahre, in denen sie nicht mehr Mutter werden würde, zu planen. Der Golf, an dessen gegenüberliegenden Küsten ihr und Olivers Leben gegründet waren, lag weit offen vor ihr. Mit unendlicher Geduld und instinktiv prophetischer Gefaßtheit spähte sie aus.

Die fast buddhistische Stille ihres Wesens, die sie weder unterdrücken noch verleugnen konnte, brachte Gant, da er sie am wenigsten verstehen konnte, am meisten in Wut. Er war fünfzig, war sich seines Alters tragisch bewußt. Er sah, daß die leidenschaftliche Fülle der Lebenskraft für ihn entschwand, und benahm sich sinnlos wie ein gereiztes Biest. Eliza hatte vielleicht mehr Grund zur Stille als er. Sie hatte von Kind auf Schweres durchgemacht, hatte in der Ehe Tod und Elend, Kinderkriegen und Krankheit überstanden. Nun war sie zweiundvierzig. Das letzte Kind regte sich in ihrem Leib. Sie war abergläubisch davon überzeugt – und die blinde Eitelkeit der Pentlands, die aller Welt Ende, nur nicht das ihrer Sippe, voraussahen, bestätigte sie hierin –, daß sie zu etwas Besonderem bestimmt sei.

Da lag sie in ihrem Bett und sah durchs Fenster einen großen Stern am Westhimmel brennen. Sie bildete sich ein, daß der Stern langsam steige. Und obschon sie unmöglich zu sagen vermocht hatte, zu welchem Gipfel ihr Leben nun führte, so sah sie doch in der ungekannten zukünftigen Freiheit die Fülle von Besitz und Wohlstand für sich. Die Lust danach brannte ihr unauslöschlich im Blut. Sie erging sich in der Vorstellung, sie schürzte die Lippe im Dunkeln, sie schaute sich selber im Geiste, wie sie im Karneval des Lebens aus den Händen der Narrheit leichthin das Gut nahm, das noch nie ein Mensch zu halten wußte.

»Ich werd' es kriegen, ich werd' es kriegen!« dachte sie. »Will hat es. Jim hat es. Und ich bin gescheiter als sie.« Mit bitterem, peinigendem Bedauern dachte sie an Gant. »Schauderhaft! Nicht einen Nickel hätte er, wenn ich mich nicht um ihn gekümmert hätte. Um jede Kleinigkeit habe ich kämpfen müssen. Sonst hätten wir nicht einmal ein eignes Dach überm Kopf und müßten auf unsre alten Tage in Miete wohnen.« In Miete wohnen müssen aber war für sie die endgültige Schande, die Verschwender und unfürsorgliche Menschen befällt.

»Für das Geld allein, das er jährlich für Whisky ausgibt«, dachte sie weiter, »könnte man einen schönen Bauplatz kaufen. Ach, wir könnten es zu wahrem Wohlstand gebracht haben, wenn wir gleich angefangen hätten. Aber er hat immer schon den bloßen Gedanken an Besitz gehaßt. Er sagte mir einmal, er könne ihn nicht ertragen, seit er bei dem Handel in Sidney all sein Geld verlor. Wenn ich nur damals schon bei ihm gewesen wäre! Meinen letzten Dollar will ich wetten, daß die andern statt seiner verloren hätten«, fügte sie trotzig hinzu.

Da lag sie, die Frühherbstwinde fegten mit dem Rauschen ferner großer Bäume und welkem Laub ins nächtige Tal. Sie dachte an den Fremdling, der in ihrem Leib zu leben begonnen hatte, und an den anderen Fremdling, den Urheber von so viel Leid, der nun fast zwanzig Jahre mit ihr gelebt hatte. So oft ihre Gedanken auf Gant kamen, spürte sie ein schmerzlich-elementares Wundern über die wüste offne Fehde und den großen heimlichen Kampf, den ihre Habgier gegen seinen unverständlichen Haß auf Besitz führte. »Ich schwör' es«, flüsterte sie, »einen solchen Menschen gibt es nicht zweimal.« An ihrem Endsieg zweifelte sie nicht.

Gant stand dem Abklingen seiner sinnlichen Genußfähigkeit gegenüber. Er merkte, daß dem Unmaß im Essen, Trinken und Lieben nun Dämme gesetzt waren, und wußte um keinen Gewinn, der diese Einbuße aufwiegen könne. Audi er spürte den Stachel der Reue. Er hatte Kraft vergeudet. Er hatte gute Gelegenheiten – zum Beispiel die Partnerschaft mit Will Pentland, die ihm Ansehen und Reichtum gebracht hätte – verpaßt. Die besten Jahre seines Lebens waren vertan. Mehr denn je empfand er die Fremdheit und Einsamkeit unsres kleinen Abenteuers auf Erden. Er dachte zurück an seine Kindheit auf der Farm bei den Pennsylvania-Deutschen, an seine Lehrzeit in Baltimore, an seine ziellosen Wanderjahre über den Kontinent, an die auffallende Verknüpfung seines Daseins mit einer Kette von Zufällen. Die riesenhafte Tragödie des Zufalls hing wie eine graue Wolke über ihm. Klarer denn je sah er ein, daß er fremd unter Fremden in der Fremde lebte. Am fremdesten aber kam ihm seine Ehe vor, in der er Kinder, abhängiges Leben, gezeugt hatte, diese Verbindung mit einer Frau, die ihm so völlig wesensfern war.

Er wußte nicht, ob das Jahr 1900 einen Anfang oder ein Ende für ihn bedeute. Mit der bekannten Schwäche des Sensualisten beschloß er, es als ein Ende zu betrachten und die Reste der Lebenskraft in einer lodernden Flamme zu verbrennen. In der ersten Hälfte des Januar zeugte er ein Kind. Im Frühling, als Elizas Schwangerschaft offenbar war, stürzte er sich in eine heftige Whiskyorgie, mit der verglichen selbst seine sechzehnwöchige Sauferei im Jahre 1896 nichts war. Tag um Tag war er wahnsinnig besoffen, die Trunksucht artete in dauernde Raserei aus. Im Mai schickte ihn Eliza in eine Heilstätte in Piedmont. Die Kur bestand darin, daß er sechs Wochen lang schlechtes billiges Essen bekam und jeglichem Alkohol ferngehalten wurde. Er kam Ende Juni zurück, äußerlich gebessert, innerlich wütend vor Hunger und Durst.

Am Tag vor seiner Heimkehr ging die hochschwangere Eliza mit entschlossenem Gesicht in jede der vierzehn Bars im Städtchen, suchte den Eigentümer oder Schankhalter hinter der Theke auf und sprach laut und vernehmlich vor der dumpfen Gesellschaft der Gäste:

»Hören Sie, ich bin hereingekommen, um Ihnen zu sagen, daß Mister Gant morgen zurückkehrt, und ich möchte Sie alle wissen lassen, daß ich jeden, der ihm etwas ausschenkt, vor Gericht und ins Gefängnis bringen werde!«

Diese Drohung, das wußten sie alle, war hochstaplerisch. Aber das strenge weiße Gesicht, die gedankenvoll geschürzte Lippe, die männisch-gehaltene Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger verliehen der Ankündigung einen unheimlichen Nachdruck. Bierdumpf hörten die Männer sie an; höchstens daß einer oder der andre eine überraschende Zustimmung ihr nachmurmelte, während sie hinausging.

»Wahrhaftiger Gott!« bemerkte ein Mann aus dem Gebirg und sandte einen langen Kautabakspritzer aus dem Mundwinkel in den hohen Messingspucknapf, »die wär dazu imstand! Die macht Ernst.«

»Teufel auch«, sagte Tim O'Donnell und wackelte komisch mit seinem Affenkopf hinterm Schanktisch, »ich würde mich nicht trauen, dem Gant was auszuschenken, und wenn der Whisky nur fünfzehn Cents das Quart wäre und es säßen keine Zeugen dabei. Ist sie weg?«

Die Männer lachten angeheitert und laut.

»Wer ist sie?« fragte jemand.

»Will Pentlands Schwester.«

»Bei Gott, dann macht sie Ernst!« riefen mehrere, und die Bar dröhnte vor Gelächter.

Will Pentland saß in Loughrams Bar, als Eliza eintrat. Sie grüßte ihn nicht. Als sie hinausgegangen war, wandte er sich an einen der Herumsitzenden und bemerkte nach einem vogelhaften Nicken und Zwinkern:

»Ich wette, daß Sie das nicht fertigbrächten.«

Dem heimgekehrten Gant wurde in den Bars nichts ausgeschenkt. Er tobte vor Wut. Natürlich war es ihm ein leichtes, sich Whisky holen zu lassen: er schickte einen Fuhrmann, der bei ihm zu tun hatte, oder irgendeinen Neger danach. Aber er war mit den Jahren, obschon er wußte, daß sein Benehmen eine klassische Mythe für die Kinder im Städtchen war, äußerst empfindlich für jeden Hinweis auf seinen Leumund geworden. Auch schämte er sich insgeheim seiner Trunksucht, besonders wenn er verkatert war. Nun war sein Stolz aufs bitterste verletzt. Er schrie, daß Eliza ihn böswillig vor aller Öffentlichkeit herabgesetzt und gedemütigt hätte, und schimpfte maßlos mit ihr.

Den ganzen Sommer lebte Eliza in einer weißen, ahnungsvollen Stille dahin. Sie war nun schon an die Schrecken gewöhnt. Mit furchtbarer Ruhe erwartete sie allabendlich die Wiederkehr ihrer Angst. Gant, den ihre Schwangerschaft verdroß, ging jeden Abend in Elisabeths Freudenhaus in Eagle Crescent, wo er dann in später Stunde von ein paar verbrauchten und erschreckten Huren der Obhut seines ältesten Sohns Steve übergeben wurde. Steve verstand bereits, mit den Weibsleuten dieses Distrikts frech und frei umzugehen. Sie verhöhnten ihn mit vulgärer Gutmütigkeit, lachten über seine schlüpfrigen Anspielungen und machten sich nichts daraus, wenn er ihnen einen festen Klaps auf den Hintern gab und dann ihren plumpen Haschversuchen gewandt entschlüpfte.

»Junge, Junge«, sagte Elisabeth und gab Gants Kopf einen Stoß, daß er wackelte, »gib ja acht, daß Du nicht nach diesem alten Gockel gerätst. Er kann auch ganz nett sein, wenn er sich Müh gibt«, fuhr sie fort, und während sie Gant auf die Glatze küßte, ließ sie die gefüllte Brieftasche, die er ihr zuvor in heftig aufwallender Freigebigkeit geschenkt hatte, in Steves Hand gleiten. Sie nahm's mit der Ehrlichkeit sehr genau.

Steve wurde auf diesen Gängen meist von Jannadeau und dem Neger Tom Flack, einem Kutscher, begleitet. Die beiden pflegten vor dem Gattertor zu warten, bis der Radau anzeigte, daß Gant zum Aufbruch bewegt worden war. Sie brachten ihn durch die allzu stillen Stadtstraßen heim. Manchmal ging Gant schwerfällig und fluchte pathetisch auf seine Begleiter. Manchmal war er jovial und willfährig und grölte ein unanständiges Lied:

»Droben im Hinterzimmer
Ja, da droben, ihr Buben
Hüpfen die Wanzen und Flöh ...«

Zu Hause angekommen, ließ er sich die Verandatreppe hinaufhelfen und zu Bett bringen. Manchmal aber war er nicht zurückzuhalten; dann suchte er das abgeschlossene Schlafzimmer Elizas auf und tobte vor der Tür. Er beschimpfte sie aufs gemeinste, er bezichtigte sie sogar der Unkeuschheit, denn mit dem Abflauen der geschlechtlichen Lebenskraft stiegen dunkle, neidische Verdachte in ihm auf. Die furchtsame Daisy floh dann in eines der Nachbarhäuser, zu Sudie Isaacs oder zu den Tarkintons. Die zehnjährige Helene aber, das Kind, das er am meisten liebte, meisterte ihn. Sie löffelte ihm heiße Suppe ein, und wenn er sich störrisch anstellte, ohrfeigte sie ihn fest mit ihrer kleinen Hand.

»Hier wird Suppe gegessen! Vorwärts! Geschluckt!«

So etwas gefiel ihm ungemein. Diese Tochter und er waren aus demselben Holz geschnitzt.

Manchmal nahm er überhaupt keine Vernunft an. Völlig von Sinnen, wie er dann war, schichtete er ein großes Holzfeuer im offnen Kamin des Wohnzimmers, goß Petroleum aus einer Kanne auf die lodernden Scheite und spuckte wild in die aufzischenden Flammen. Dazu sang er, bis er es müde wurde, oft dreiviertel Stunden lang, etwa dies:

»Ohe! Goddam, Goddam,
Goddam, Goddam,
Oho! Goddam, Goddam,
Goddam, Goddam«

meist in dem langgezogenen Tonfall, in dem Uhren die ganze Stunde schlagen.

Draußen auf dem Zaun hockten wie Affen Sandy und Fergus Duncan, Seth Tarkinton ... – manchmal machten auch Ben und Grover den Spaß mit – und sangen als Gegenstrophe:

»Der alte Gant
Besoffen kommt er,
Besoffen kommt er,
Kommt er nach Haus.«

In der guten Stube der Nachbarin weinte Daisy vor Scham und Angst. Helene aber, das kleine, schmächtige, zornige Wesen, gab nicht nach. Schließlich bequemte Gant sich in einen Sessel und nahm grinsend heiße Suppe und feste Ohrfeigen von ihr an. Droben lag Eliza mit bleichem, aufmerksam gespanntem Gesicht.

Der Sommer ging. Es war Ende September. Fern blies der Wind. Die letzten Trauben hingen in runzligen und angefaulten Perkeln an den Rebstöcken.

Eines Abends stellte der vertrocknete Doktor Cardiac beim Weggehn fest: »Morgen abend, denk ich, wird wohl die ganze Sache vorüber sein.« Eine tüchtige, ländliche Hebamme in mittleren Jahren blieb im Haus zurück.

Um acht Uhr kam Gant allein nach Haus. Steve hatte dableiben müssen, um für Eliza, falls es nötig sein würde, Botengänge zu tun. Niemand kümmerte sich um den Hausherrn; die Aufmerksamkeit galt Eliza, die in den Wehen lag.

Drunten im Wohnzimmer sang Gant mit voller Stimme Obszönitäten, so daß es bis zu den Nachbarn schallte. Als Eliza das plötzliche wilde Aufzischen der Flammen im Kamin hörte, winkte sie Steve zu sich ans Bett:

»Er wird das Haus in Brand stecken, Steve«, flüsterte sie heiser.

Sie hörten, wie unten ein Stuhl umgeschmissen wurde, und Gants Fluch. Sie hörten, wie er mit schwerem Schritt durchs Speisezimmer und über die Diele stapfte, wie die Treppenstufen knarrten und sein Körper gegen das Geländer krachte.

»Er kommt 'rauf, Steve, er kommt 'rauf! Schließ die Tür ab!«

Steve schloß die Tür ab.

»Sind Sie drinnen?« brüllte Gant und trommelte mit seinen großen Fäusten an die Tür. »Miss Eliza! Sind Sie drinnen?« heulte er. Er hatte die Angewohnheit, sie in solchen Augenblicken ironisch als »Miss« anzusprechen.

»Das hätte ich nicht gedacht ...«, fing er mit hochstaplerischer Rhetorik an, »... das hätte ich nicht gedacht, als ich Sie vor achtzehn bittern Jahren das erstemal sah, als Sie mir wie eine Schlange auf dem Bauche kriechend entgegenkamen ...« und endete lahm, »... das hätte ich nicht gedacht, daß es dazu käme.« Er wartete auf eine Antwort. Er wußte, daß sie still mit weißem Gesicht hinter der Tür lag. Er barst fast vor Wut, denn er wußte genau, daß sie ihm nicht antworten würde.

»Bist du da?« brüllte er. »Ich frage, ob Du da bist, Weib?« Er bombardierte die Tür mit Fausthieben.

Da war nichts als weiße, lebendige Stille.

»Weh mir! Weh! Weh!« stöhnte er selbstmitleidig auf. Er brach in erzwungenes, dumpfes Seufzen aus. »Gnädiger Gott«, weinte er. »Es ist furchtbar. Es ist entsetzlich. Es ist grausam. Was habe ich getan, daß Gott mich so heimsucht?«

Keine Antwort kam.

»Cynthia! Cynthia!« heulte er plötzlich auf. Er meinte seine erste Frau, jene dürre, tuberkulöse alte Jungfer, deren Leben seine Aufführung angeblich nicht verlängert hatte, deren Gedächtnis er aber nun, um Eliza zu kränken, gerne anzurufen pflegte. »Cynthia! o Cynthia! Blicke herab auf mich in dieser Stunde der Not! Sende mir Kräfte! Leihe mir Beistand! Schütze mich vor dieser Teufelin! Steige hernieder und rette mich! Ich verderbe!! Ich flehe Dich an, ich bitte Dich, ich beschwör Dich um Hilfe!«

Es blieb still.

Er nahm seine Klage wieder auf. Er variierte das Thema. »Undankbar seid ihr! Undankbarer als die wilden Tiere des Walds. Gott im Himmel wird Euch strafen. Tretet den alten Mann! Schlagt ihn! Werft ihn auf die Straße! Schleift seine müden Knochen über das Pflaster! Schickt ihn ins Armenhaus! Zum Geldverdienen taugt er nichts mehr. Ah, ah! Du sollst Deinen Vater ehren, auf daß Du lange lebest in dem Land, das Dir der Herr, Dein Gott, gibt.« Dann zitierte er pathetisch unter schnupfendumpfen, burlesken Seufzern Mark Antons Anklagerede aus Shakespeares Julius Cäsar.

In diesem Augenblick sagte die Nachbarin, Mistress Duncan, zu ihrem Gatten: »Jimmy, Du mußt rübergehen. Er rast wieder, und sie steht vor der Entbindung.«

Der Schotte Duncan schob seinen Stuhl zurück und verließ festen Schritts das warme Behagen des wohlgeordneten Familienlebens samt dem Geruch von frischgebacknem Brot. Am Gittertor vor Gants Hause traf er den geduldigen Jannadeau, den Ben geholt hatte. Sie tauschten ein paar sachliche Bemerkungen aus. Als sie im Haus ein lautes Krachen und den entsetzten Aufschrei einer Frau hörten, stürmten sie die Verandatreppe hinauf. Eliza öffnete ihnen die Haustür. Sie war im Nachthemd.

»Schnell! Schnell!« flüsterte sie.

Gant stürzte die Treppe herunter und fiel. »Bei Gott! Ich bring sie um!« schrie er. »Ich bring sie um. Ich mache Schluß mit meiner Misere.«

Er hatte einen schweren Schürhaken in der Hand. Duncan und Jannadeau packten ihn und hielten ihn fest. Der stämmige Schweizer entwand ihm den Schürhaken mit festem Griff.

Steve kam gerade die Treppe herunter. »Mutter!« rief er, »er hat sich den Kopf an der Bettstelle aufgeschlagen.« Es stimmte. Gant blutete am Kopf.

»Geh und hol Deinen Onkel Will, Steve!« befahl Eliza. Steve sauste ab wie ein Jagdhund.

»Es war ihm Ernst mit dem Umbringen diesmal«, flüsterte Eliza.

Duncan machte die Haustür zu, um die Gaffer, die sich vor dem Tor versammelt hatten, auszuschließen. »Sie werden sich erkälten, Mistress Gant«, bemerkte er.

»Lassen Sie ihn nicht an mich!« wimmerte Eliza verzweifelt.

»Sie können sich auf mich verlassen«, sagte der Schotte fest.

Schwerfällig stieg sie die Treppe hinauf. Auf der zweiten Stufe brach sie in die Knie. Die Hebamme, die sich im Badezimmer eingesperrt hatte, kam heraus und war ihr behilflich. Auf sie und Grover gestützt schleppte Eliza sich in ihr Zimmer zurück. Draußen ließ sich Ben von dem niederen Verandadach auf das Lilienbeet herunterfallen. Seth Tarkinton, der auf dem Drahtzaun saß, rief ihm vergnügt »Hallo« zu.

Gant, ein wenig verdutzt, ließ sich von den beiden Männern zu einem Schaukelstuhl führen. Er streckte alle Glieder von sich; sie zogen ihm die Kleider aus. Helene war bereits in der Küche; nun erschien sie mit kochend heißer Suppe. Ein Leuchten kam in Gants Augen, als er sie erblickte.

»Mein Lenchen«, dröhnte er und machte eine leere Armbewegung in der Luft. »Wie geht's Dir, mein Kind?« Sie stellte die Suppe nieder. Er umarmte sie. Er drückte ihren schmächtigen Körper an sich, rieb seinen borstigen Schnurrbart an ihren Wangen, blies ihr seinen faulen, widerlichen Whiskyatem ins Gesicht.

»Ach! Er hat sich geschnitten!« Die Kleine weinte fast.

»Ja, schau nur, wie sie mit mir umgegangen sind«, greinte Gant und betastete die Wunde.

Will Pentland, echtgeborner Sohn jener Sippe, die immer zusammenhält und einander nur in Zeiten von Tod, Pestilenz und Terror besucht, kam herein.

»Guten Abend, Mister Pentland«, sagte Duncan.

Will grüßte die beiden Nachbarn gutmütig. »Na, es geht zum Aushalten«, bemerkte er. Er stellte sich vors Kaminfeuer und schnipselte nachdenklich mit einem scharfen Messer an seinen stumpfen Nägeln herum. Sein Grundsatz war, daß niemand die Gedanken eines Mannes, der an seinen Fingernägeln herumschnipselt, erraten könne. Er pflegte es stets in Gesellschaft zu tun.

Wills Anblick hatte Gant sofort aus seiner Lethargie hochgerissen. Er haßte die Pentlandsippe. Er haßte ihre schnippische Gefaßtheit, ihre unaufhörliche Witzelei, ihre Geschäftstüchtigkeit.

»Bankerte aus dem Gebirg! Elendes Geschmeiß! Gemeinstes Gezücht!« brüllte er.

»Aber Mister Gant!« beschwichtigte Jannadeau flehentlich.

»Was ist los mit Dir, Schwager?« fragte Will und sah unschuldig von seinen Fingernägeln auf. »Hast Du vielleicht was Unverträgliches gegessen?« Er zwinkerte keck zu Duncan hinüber und machte sich wieder an seine Fingernägel.

»Dein elender alter Vater«, heulte Gant, »ist auf dem Stadtplatz öffentlich ausgepeitscht worden, weil er seine Schulden nicht bezahlt hat.« Dies war eine völlig aus der Luft gegriffne Behauptung, die sich irgendwie in Gants Kopf als Wahrheit festgesetzt hatte. Er brachte sie bei allen möglichen Gelegenheiten vor, vermutlich weil die Vorstellung ihm eine wahre Herzensbefriedigung war.

Will konnte es sich nicht versagen, auf diese Eröffnung einzugehn. »So? Ausgepeitscht worden ist er? Hier auf dem Stadtplatz? Ei, ei! Das müssen sie aber streng geheim gehalten haben, nicht?« Er verzog die Mundwinkel und fuhr fort, an seinen Fingernägeln zu schaben.

»Aber etwas will ich Dir von ihm sagen«, bemerkte er nach einer Weile. »Er hat seine Frau eines natürlichen Todes im Bett sterben lassen. Er hat nie auch nur den Versuch gemacht, sie umzubringen.«

»Nein! Bei Gott nein!« brüllte Gant dagegen. »Er hat sie verhungern lassen. Wenn die alte Frau je eine anständige Mahlzeit bekam, dann war es sicher hier an meinem Tisch. Sie hätte zweimal zur Hölle und zurück laufen müssen, ehe sie eine vom alten Tom Pentland oder einem seiner Söhne bekam.«

Will klappte sein Taschenmesser zusammen und steckte es ein.

»Der alte Pentland hat in seinem ganzen Leben nicht einen Tag ehrlich gearbeitet!« schrie Gant gellend.

»Ruhig, seien Sie doch ruhig! Mister Gant!« mahnte Duncan vorwurfsvoll.

»Still, still!« zischte Helene energisch. Sie trat mit der Suppe vor ihn hin und hielt ihm einen Löffelvoll an die Lippen. Gant wandte sich weg. Er wollte eine neue Beleidigung hervorstoßen und verschüttete den Löffelvoll. Sie schlug ihm fest auf den Mund.

»Hier wird Suppe gegessen! Vorwärts! Geschluckt!«

Er grinste demütig. Sein Blick ruhte lange auf ihr, während er sich die Suppe einlöffeln ließ.

Will Pentland sah Helene eine Weile aufmerksam zu. Dann warf er nickend und zwinkernd einen Blick auf Duncan und Jannadeau. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Zimmer. Er ging nach oben. Eliza lag weiß und still zu Bett.

»Nun, Eliza, wie geht's?«

Das Zimmer roch stark nach morschen Birnen. Ein Feuer aus Tannenknüppeln brannte ausnahmsweise im Kamin. Will stellte sich davor und arbeitete an seinen Fingernägeln.

Eliza brach unvermittelt in Tränen aus. »Kein Mensch ahnt auch nur, was ich durchgemacht habe.« Sie trocknete sich die Augen mit einem Zipfel der Bettdecke. Ihre breitangesetzte Nase ragte feuerrot aus dem bleichen Gesicht.

»Hast Du was Gutes zu futtern?« fragte Will gierig und zwinkerte wie ein Clown.

»Nebenan in der Kammer liegen Birnen auf dem Gestell. Vorige Woche gebrochen. Ich hob sie auf, daß sie mürbe werden.«

Er ging hinaus, kam gleich mit einer großen gelben Birne zurück, trat vors Feuer, klappte die kleine Klinge seines Taschenmessers auf.

»Das ist mehr als ich aushalten kann. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist. Du kannst getrost Deinen letzten Dollar wetten, daß ich das nicht mehr lang mitmach'«, sagte Eliza ruhig nach einer Weile.

Will schwieg. »Ich kann mich selbst durchschlagen«, setzte sie trocken hinzu in jenem Ton, den Will gut an ihr kannte.

Er stand im Begriff, ihr ein großzügiges Angebot zu machen. »Schau her, Eliza«, begann er, »wenn Du an Bauen denkst, da könnte ich Dir ...« – hier bremste er noch rechtzeitig und schloß: »ja, da könnte ich Dir das Baumaterial zum billigsten Preis geben.« Er schob schnell einen Birnenschnitz in den Mund.

Sie schürzte mehrmals rasch hintereinander die Lippen.

»Nein«, entschied sie, »es ist noch nicht so weit, Will. Wenn es dazu kommt, kriegst Du Bescheid.«

Das Holzfeuer im Kamin rutschte leise zusammen.

»Ja, dann kriegst Du Bescheid«, versicherte sie nochmals.

Will klappte sein Taschenmesser zu und steckte es in die Hosentasche.

»Gutnacht also, Eliza«, sagte er. »Pett wird morgen mal nach Dir gucken. Ich werde ihr ausrichten, daß es gut um Dich steht.«

Will verließ leise das Haus. Im Vorgarten traf er Duncan und Jannadeau.

»Wie geht's ihm?« erkundigte er sich.

»Tadellos jetzt«, versicherte Duncan vergnügt. »Er schläft tief und fest.«

»Den Schlaf des Gerechten?« fragte Will zwinkernd.

Der Schweizer fühlte sich durch den Spott auf seinen Titanen verletzt. »Jammerjammerschade«, gurgelte er, »daß Mister Gant trinkt. Er hätte es weit gebracht mit seinem Verstand. Wenn er nüchtern ist, dann gibt's keinen feineren Kerl als ihn.«

»So? Wenn er nüchtern ist?« Will zwinkerte im Dunkeln. »Na, und wenn er schläft?«

»Es ist alles sofort in Ordnung, sobald ihn Helene in die Hand bekommt«, sagte Duncans tiefe volle Stimme. »Erstaunlich, was das Mädel mit ihm vermag.«

»Ja, ja«, kicherte Jannadeau, »das Kind kennt sich am besten mit ihm aus.«

Helene saß im Lehnstuhl und las, bis das Feuer heruntergebrannt war. Dann schaufelte sie leise Asche auf die Glut. Gant lag auf dem Sofa in klaftertiefem Schlaf. Sie hatte ihn in einen Wollkolter eingewickelt. Nun legte sie ein Kissen auf einen Stuhl, schob den Stuhl ans Fußende des Sofas und legte seine Füße darauf. Er stank übel, nach Whisky. Er schnarchte, daß die Fenster schepperten.

So, in Vergessenheit versunken, verging ihm die Nacht. Er verschlief die kreißenden Wehen, die Eliza um zwei Uhr befielen. Er verschlief all die Mühe, die Geduld, die Qual des Arztes, der Hebamme, der Wöchnerin.

IV

Inhaltsverzeichnis

Die Geburt dauerte unendlich lange.

Als Gant am nächsten Morgen kurz nach zehn aufwachte und verkatert und beschämt den heißen Kaffee schlürfte, den ihm Helene brachte, hörte er aus dem Obergeschoß ein lautes, langes, lüngiges Schreien.

»Mein Gott!« stöhnte er entsetzt und deutete nach oben. »Ist's ein Mädchen oder ein Bub, Lenchen?«

»Ich hab's noch nicht gesehn, Papa«, antwortete Helene. »Wir dürfen nicht rein. Aber Doktor Cardiac ist vorhin herausgekommen und hat gesagt, wenn wir brav wären, würde er uns ein Brüderchen zeigen.«

Auf dem Verandadach war Radau. Steve, der von dort ins Zimmer der Wöchnerin gespäht hatte, sprang wie eine Katze aufs Lilienbeet herunter. Die Hebamme schalt.

Der Hausherr brüllte: »Steve, verdammter Bengel, was hast Du dort oben zu suchen?!«

Steve kletterte über den Zaun.

»Ich hab's gesehen!« gellte er zurück.

»Ich auch! Ich auch!« jauchzte Grover, kam ins Zimmer gerannt und lief wieder hinaus.

»Wenn ich Euch Lausbuben nochmal auf dem Dach hier erwische«, keifte die Hebamme, »dann versohle ich Euch das Fell.«

Die Kunde, daß sein jüngster Erbe ein Junge sei, hatte Gant einen Augenblick lang gefreut. Nun aber schritt, er wehleidig im Zimmer auf und ab und klagte in einem fort:

»Mein Gott! Mein Gott! Muß auch das noch mich auf meine alten Tage treffen? Wieder ein Maul mehr zu stopfen! Es ist furchtbar, es ist entsetzlich, es ist grausam!« Er flennte. Plötzlich wurde er gewahr, daß niemand da war, den er mit seiner Klage rühren könne. Er ging über die Diele und blökte kläglich die Treppe hinauf:

»Eliza! Mein Weib! Verzeih mir! Verzeih!«

Unter lautem Seufzen stapfte er treppauf.

Eliza nahm ihre Kraft zusammen. »Nicht reinlassen!« stieß sie hervor.

»Sagen Sie ihm, daß er jetzt nicht ins Zimmer kann«, befahl Doktor Cardiac der Hebamme und starrte auf die Waage. »Hier gibt's ohnedies nur Milch zu trinken«, setzte er trocken hinzu.

Gant stand vor der Tür.

»Eliza, mein Weib, hab Mitleid mit mir, ich bitte Dich! Wenn ich gewußt hätte ...«

Die Hebamme riß die Tür auf und raunzte: »Ja, wenn der Hund nicht das Bein gehoben hätt', dann hätt' er den Has' gefang'n.« Sie schmiß ihm die Tür vor der Nase zu. Belämmert stieg Gant die Treppe hinunter. Er ließ den Kopf hängen, aber die Antwort der Hebamme lockte ein flüchtiges Schmunzeln auf seine Miene. Schnell leckte er den Daumen mit der Zunge.

»Barmherziger Gott!« sagte er grinsend und brach wieder in Klagen aus.

»Das genügt jetzt«, bemerkte Cardiac. Er hielt ein rotleuchtendes Körperchen hoch, reckte es an den Fersen und gab ihm einen kleinen Klaps auf den Popo.


Der Säugling hatte sein Debüt gemacht, ausgestattet mit allem Getriebe und Zubehör, mit den Einsätzen und Auswüchsen, den Bindungen und Zargen, den Wasserhähnchen, Augen und Nägeln, die man zur vollkommenen Erscheinung, der Harmonie der Teile und der Einheit der Wirkung auf dieser tathaft regsamen und kampferfüllten Welt für nötig hält. Er war ein ausgemachtes Männchen im kleinen, die winzige Eichel, aus der die mächtige Eiche werden soll, der Enkel aller Zeitalter, der Erbe des uneingelösten Ruhms, das Kind des Fortschritts, der Liebling der knospenden goldnen Aera. Was mehr ist: Fortuna und ihre Feen hatten ihn für den Zeitpunkt aufgespart, in der der Fortschritt vor lauter Ruhm und Reife schon am Verfaulen war.

»Na, und wie wird der Bengel heißen?« fragte Cardiac mit der ruppigen Sachlichkeit des Mediziners.

Eliza war auf kosmische Schwingungen eingestellt. Mit einer vollen, wenn auch ungenauen Vorahnung dessen, was dem Glückskind verhängt war, nannte sie es »Eugen«. Dieser schöne Name bedeutet »Wohlgeboren«, »Gut zur Welt gekommen«, was freilich nicht ganz mit »Hochgezüchtet«, »Wohlgezogen« oder »Aus gutem Blut stammend« identisch ist.


Das erlauchte Wesen, das schon einen Namen trug, und von dem aus die Ereignisse dieser Chronik betrachtet werden sollen, war, wie schon gesagt, auf dem äußerst zugespitzten Endpunkt der Weltgeschichte geboren. Vielleicht hat der Leser das schon bemerkt. Nicht? Nun, dann frischen wir sein historisches Gedächtnis auf.

Um 1900 hatten Oscar Wilde und James Whistler die meisten der ihnen nachgesagten Gescheitheiten schon gesagt. Die großen Männer der viktorianischen Epoche waren stark im Aussterben begriffen, ehe noch die Moralkulissen ihrer Zeit bombardiert wurden. William McKinley war zum zweitenmal Präsident der Vereinigten Staaten. Seesoldaten, die im Spanisch-Amerikanischen Krieg gekämpft hatten, waren auf Frachtdampfern in ihre Heimat zurückgekehrt. Das altgrimme Großbritannien hatte 1899 ein Ultimatum an die Südafrikaner geschickt: Lord Roberts (der bei seinen Leuten »Little Bobs« hieß) war nach verschiedenen Rückschlägen für die britischen Streitkräfte zu deren Generalkommandanten ernannt worden. Großbritannien hatte im September 1900 Transvaal annektiert, im Monat von Eugens Geburt wurde die Annektion offiziell. Zwei Jahre später fand eine Friedenskonferenz statt.

Was ging derweil in Japan vor? Das erste Parlament trat 1891 zusammen. 1894–1895 war Krieg mit China, Formosa wurde 1895 abgetreten. Außerdem: Warren Hastings. Generalgouverneur von Indien, war längst vor Gericht gestanden. Papst Sixtus V, war gekommen und gegangen, Dalmatien war von Tiberius unterjocht, Belisar war von Justinian geblendet. Die Hochzeits- und die Begräbniszeremonien der Wilhelmine Charlotte Karoline von Brandenburg-Ansbach und Georgs II. von England waren feierlich begangen, während jener der Berengeria von Navarra und Richards I. nur noch ungenau gedacht wurde. Diokletian, Karl V. und Victor Amadeus von Sardinien hatten auf ihre Throne verzichtet. Henry James Pye, Poeta Laureatus von England, war daheim bei seinen Vätern. Cassiodor, Quintilian, Juvenal, Lucretius, Martial und Albrecht der Bär hatten das Zeitliche gesegnet. Die Schlachten von Antietam, Smolensk, Drumclog, Inkerman, Marengo. Cawnpore. Killiecrankie, Sluys, Actium, Hohenlinden, Salamis, Lepanto, Tewsbury und Brandywine waren zu Wasser und zu Land geschlagen. Alkämoniden und Lakonier hatten Hippias aus Sparta vertrieben. Simonides, Mänander, Strabo, Moschus und Pindar hatten ihre Rechnung auf Erden abgeschlossen. Die Heiligen Eusebius, Athanasius, Chrysostemus hatten in ihren Himmelsnischen Platz genommen. Menkaura hatte die dritte Pyramide gebaut. Aspalta hatte siegreiche Heere geführt. Die Bermudas, Malta und die Windward Isles waren kolonisiert. Ferner: die spanische Armada war geschlagen. Präsident Abraham Lincoln war ermordet. Die Halifax Fisheries Award hatten für Fischrechte auf zwölf Jahre 5 ½ Millionen Dollar gezahlt. Schließlich waren vor vierzig oder fünfzig Millionen Jahren unsre ältesten Ahnen aus dem Urschleim gekrochen, und da sie zweifelsohne den Wechsel unangenehm empfanden, waren sie wieder in ihn zurückgekehrt.

So war der Stand der Weltgeschichte, als Eugen im Jahre 1900 die Lebensbühne betrat. Gern würden wir einen ausführlichen Bericht geben davon, wie er die Welt in seinen ersten Jahren, sozusagen aus der Perspektive der Wiege und des Fußbodens, erfuhr. Aber diese Eindrücke sind, soweit sie sich überhaupt in Worte fassen lassen, gewissermaßen unterdrückt, weil dem Wesen die Kraft zur Artikulation fehlt, weil Einsamkeit, Kummer, Abschweifung und vollkommene Leere dauernd das Ordnungsbewußtsein überfluten und verschwemmen.


Gewaschen, gepudert und gesättigt, lag er in der Wiege und dachte dunkel über vieles nach, ehe er im Schlaf völliges Vergessen fand. Er erschrak bei der Vorstellung der öden Weite aus Unbehagen, Schwäche, Dumpfheit und tiefstem Mißverständnis, die er überwinden müsse, um zur Freiheit des Körpers zu gelangen. Es wurde ihm peinlich übel, wenn er an den Mangel an Koordination in den Kontrollzentren des Gehirns dachte, an die undisziplinierte Blase, an die Schaustellung der eignen Hilflosigkeit vor den naserümpfenden Geschwistern, wenn seine Windeln gewechselt wurden.

Er lag in Agonie, denn er war sterbensarm an Ausdruckssymbolen. Seine Vernunft war in Netze verstrickt, weil sie nicht mit Worten zu arbeiten verstand. Er hatte nicht einmal Namen für die Sachen, die ihn umgaben. Vermutlich bezeichnete er sie für sich selber in einem Jargon, worin er durch das ihn umdröhnende Sprechen, dem er angestrengt lauschte, bestärkt wurde. Er merkte wohl, daß die erste Flucht ins Gesprochne geht. So schnell er nur konnte, bezeigte er seinen gierigen Hunger für Bild und Schrift. Manchmal brachten sie ihm große Bilderbücher; er gebärdete sich entzückt und jauchzte, um ihnen verständlich zu machen, daß sie das wiederholen möchten.

In wilder Verwunderung fragte er sich, wie sie sich wohl benehmen würden, wenn sie wüßten, was er wirklich von ihnen hielt. Er mußte über sie, über die ganze verrückte Komödie der Irrungen lachen, wenn sie zu seiner Belustigung Tänze aufführten, mit den Köpfen wackelten, ihn kitzelten, um ihn zum Quietschen zu bringen. Es kam ihm blödsinnig und närrisch vor, wenn er da auf dem Boden sitzend merkte, wie ihre Mienen albern, ihre Stimmen kitschig wurden.

Wenn er allein im verdunkelten Zimmer lag und das Sonnenlicht in Bohlen durch die Spaltluken der Fensterläden fiel, überkam ihn klaftertief das Gefühl der Einsamkeit und der Trauer. Er sah sein Leben vor sich wie einen Weg durch düsteren Wald; er wußte, daß er immer einsam sein würde. In diesem kleinen Rundschädel gefangen, in dieses geheimnishafte, pochende Herz gesperrt, würde sein Leben immer einsame Wege gehn. Verloren! Er verstand, daß die Menschen einander fremd sind; daß keiner je um den andern weiß; daß wir aus der Haft der mütterlichen Wamme entlassen werden, ohne der Mutter Angesicht zu kennen; daß wir als Fremdlinge an ihre Brust gelegt werden ... daß wir nie aus dem Gefängnis des Wesens ausbrechen können, gleichviel, wessen Arm uns umfängt, wessen Mund uns küßt, wessen Herz uns erwärmt.. Nie, nie, nie, nie, nie.

Er merkte, daß die großen Gestalten, die sich furchterweckend über seine Wiege beugten, die mit lauten Stimmen über ihn hinwegdröhnten, kein besseres Verständnis untereinander aufbrachten, als sie es für ihn bezeigten. Er merkte, daß selbst ihr Sprechen, selbst die fließende Leichtigkeit ihrer Bewegungen nur ärmliche Mittler ihrer Gefühle und Gedanken seien und oft, anstatt Verständnis zu stiften, dazu dienten, Streit, Bitterkeit und Vorurteil zu erzeugen.

Sein Gemüt verdunkelte sich vor Entsetzen. Er merkte, daß er ein hilfloser Fremdling sei, ein amüsanter kleiner Clown, den unheimliche, verständnislose Wesen hätschelten und tätschelten. Er war aus einem Mysterium in ein anderes geraten. Irgendwo, innerhalb oder außerhalb seines Bewußtseins, leise, als wäre sie ins Meer versunken, hörte er eine große Glocke klingen. Und wenn er lauschte, ging das Gespenst der Erinnerung in ihm um, ein paar Augenblicke lang war ihm, als hätte er das Verlorne fast wiedergewonnen.

Manchmal stemmte er sich an den steilen Wänden seiner Wiege hoch und sah schwindligen Blicks auf das Muster des Teppichs hinunter. Die Welt schwamm aus und ein in seinem Bewußtsein wie die Gezeiten des Meers. Kaum hatte er ein scharfes Bild des Ganzen, dann verebbte alles wieder ins Trübe und Schläfrige. Zuweilen versuchte er, das Wahrgenommene wie Stöcke eines Rätsels zusammenzustellen: den tanzenden Feuerschein auf den Messinggriffen, den Schürhaken und das Kakeln und Glucken der Hennen draußen in der fernen verzauberten Welt. Manchmal hörte er morgens den Weckruf der Hähne und war ganz wie ein starker, wacher Erdenbürger. In Wechselwogen von Phantasmen und Fakten vernahm er einen lauten Zauberdonner in Daisys Klavierspiel im Wohnzimmer. Viele Jahre später hörte er dieselbe Musik wieder. Er fragte. Sie sagte ihm, es sei Paderewskis Menuett.

Seine Wiege war ein großer Weidenkorb, mit Matratzen und Kissen gut gepolstert. Als er an Kraft zunahm, konnte er wahre Akrobatenstücke in ihr ausführen: sich fallen lassen, einen Reifen aus seinem Körper machen, sich kerzengrad ausstrecken. Mit Geduld und Anstrengung gelang es ihm, aus der Wiege herauszuklettern. Dann kroch er auf dem gemusterten Teppich herum, angezogen von großen, fröhlichen-bunten Holzklötzen, die durcheinander geworfen auf dem Fußboden herumlagen. Diese Klötze gehörten seinem Bruder Lukas; die Buchstaben des ABC waren darauf ausgeschnitzt.

Er hielt sie mühsam in seinen winzigen Händen und studierte die Sinnzeichen der Rede. Er wußte, daß er hier die Bausteine zum Tempel der Sprache habe. Er gab sich verzweifelt Müh, den Schlüssel zu finden, der Sinn und Ordnung in diese Anarchie brächte. Große Stimmen dröhnten über ihm; mächtige Gestalten hoben ihn in schwindelnde Höhe und setzten ihn wieder ab. Die ins Meer versunkne Glocke erklang.

Der Frühling der Südstaaten hatte sich üppig entfaltet. Die gelockerte schwarze Gartenerde sproß mit zartem Gras, war mit taufeuchten Blumen bedeckt. Die Rinde des Kirschbaums schwitzte Saft in dicken Bernsteinklumpen. Reifende Kirschen hingen dicht im Laub. Da hob Gant ihn eines Tags aus der Wiege, nahm ihn auf die sonnige Veranda mit, trug ihn an den Lilienbeeten vorbei ums Haus zum äußersten Ende des Hintergartens, wo die Erde in trocknen, vom Pflug gefurchten Schollen in der Sonne lag.

Eugen merkte an der Stille, daß es Sonntag war. Vom Drahtzaun her kam der beizende Geruch eines Unkrauts. Jenseits des Zauns malmte Swains Kuh das kühle harte Gras. Von Zeit zu Zeit hob sie den Kopf und sang vor sonntäglichem Behagen. In der klaren lauen Luft vernahm Eugen alle Geräusche der nachbarlichen Hintergärten, die ganze Umwelt drang unmittelbar in ihn ein. Als Swains Kuh wieder sang, tat sich das bedrängte Tor in ihm weit auf. Er antwortete »Muh«. Er brachte den Laut zögernd aber vollkommen hervor und wiederholte ihn einen Augenblick später, als Swains Kuh wieder muhte.

Gant war außer sich vor Begeisterung. So schnell er konnte, rannte er zum Haus zurück. Unterwegs rieb er seinen borstigen Schnurrbart zärtlich an Eugens Nacken und machte »Muh«. Jedesmal bekam er Antwort.

»Barmherziger Heiland! Wie er rennt. Eines Tags wird er dem Kind noch den Hals brechen!« rief Eliza, die ihn durchs Küchenfenster sah. Sie trat ans Geländer des Küchenbalkons, die Hände mit Mehl bestaubt, die Nase rot vom Herd. »Was ist los?« fragte sie.

»Muh!« machte Gant. »Er hat gemuht!«

Eugen, antwortete sofort. Er fand es bereits ziemlich albern, zu muhen. Er sah voraus, daß er nun wohl mehrere Tage lang die Kuh nachahmen müsse. Aber trotzdem war er ungeheuer erregt. Er spürte, daß ein Wall niedergelegt war.

Auch Eliza war begeistert. Ihre Art und Weise, dies zu zeigen, bestand darin, daß sie zum Herd zurückging und ungerührt bemerkte, sie hätte ihr Lebtag noch so keinen Kindernarren gesehen wie Gant.

Später lag Eugen aufmerksam in seinem Korb. Der Duft sonntäglicher Speisen drang zu ihm ins Wohnzimmer. Eliza pflegte damals unerhört zu kochen, und ein Sonntagsmittagessen war eine durchaus denkwürdige Sache. Die drei kleineren Brüder waren seit zwei Stunden aus dem Kindergottesdienst zurück und trieben sich hungrig im Haus herum. Ben stand würdig mit zusammengezogenen Brauen auf der Küchenveranda und spähte durchs Fliegenfenster, wie weit es mit der Mahlzeit sei. Grover wagte sich in die Küche vor und sah interessiert beim Kochen zu, bis er hinausgejagt wurde. Lukas – sein breites, gutmütiges Gesicht klaffte von einem glückhaften Lachen – marschierte durch die Zimmer und jubelte:

»Weni, widi, wiki
Weni, widi, wiki
Weni, widi, wiki
Wi, wi, wi.«

Er hatte zugehört, wie Daisy und Josephine Brown Schulaufgaben zusammen machten; der Gesang war seine Interpretation von Cäsars berühmtem Schlachtenbericht: »Veni, vidi, vici.«

Eugen hörte das Geklapper der Teller im Speisezimmer, den Radau der Buben, den Klang von Wetzstahl und Klinge, als Gant, das große Tagesereignis ohne Variation aber mit zunehmendem Eifer mehrmals wiederholend, das Messer zum Bratenschneiden schärfte. Die guten Düfte aus der Küche lockten stärker. Eugen bekam Lust auf üppige, unbekannte Speisen »Nicht allzu lange mehr, und ich werde drinnen mit ihnen essen«, dachte er.

Den ganzen Nachmittag erzählte Gant die große Neuigkeit. Er rief die Nachbarn auf die Terrasse, und der Kleine mußte muhen. Eugen verstand alles, was an diesem Tag geredet wurde. Er konnte nicht darauf antworten, spürte aber, daß er nah am Sprechen war.

Solcherart, in glänzenden Bruchstücken, sah er später seine ersten beiden Lebensjahre. Seiner zweiten Weihnachten erinnerte er sich dunkel als einer Zeit großer Festlichkeit. An die dritten war er schon gewöhnt. Mit der wunderbaren Fähigkeit von Kindern, sich einzufinden, dachte er, er hätte von jeher Weihnachten gekannt.