image

Mirco von Juterczenka

WIR
WOCHENEND
REBELLEN

Ein ganz besonderer Junge und sein Vater
auf Stadiontour durch Europa

image

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

Inhaltsverzeichnis

Jasons Anpfiff

Kapitel 1: Mannschaftsbesprechung

Kapitel 2: Jason siegt nach Verlängerung

Kapitel 3: Stadionidylle in Aue

Kapitel 4: Sitzen ist für’n Arsch

Kapitel 5: Die Diagnose und neue Spieleraufstellung

Kapitel 6: Dortmund − Manndeckung auf der Süd

Kapitel 7: Der Salatblatt-Pakt

Kapitel 8: »Gib Frieden, Friedel!«

Kapitel 9: Welcome to the hell of St. Paulis Sanitärbereich

Kapitel 10: Jasons Löffelhaushalt

Kapitel 11: Rollenspiele

Kapitel 12: Ohne Sieg ist alles nichts

Kapitel 13: Haarausfall bei den Bayern

Kapitel 14: Abwehrchefin und Dribbelkönigin

Kapitel 15: Mitfiebern in Aalen

Kapitel 16: Erfolgreiche Saisonbilanz

Kapitel 17: Wir bleiben Rebellen

Jasons Glossar

Nachspielzeit

Jasons Anpfiff

Ich bin Jason, bin 2005 geboren und seit 2012 mit Papsi als Wochenendrebell in Fußballstadien unterwegs. Ich arbeite im Forschungszentrum der Universität an meinem Projekt zur Chaostheorie, gehe aufs Gymnasium und ich bereise gerne die Welt.

In der Schule schreibe ich nur gute Noten, komme aber mit der nervigen Art meiner Mitschüler nicht klar. Sie alle gehören nicht in meine Umgebung. Sie tun unlogische Dinge und lassen sich nicht gerne von mir korrigieren. Mich nervt, wenn man den Dativ mit dem Akkusativ vertauscht oder wenn in jedem Satz das Verb »gehen« vorkommt. Sie nehmen darauf keine Rücksicht. Wieso sollte ich dann Rücksicht auf sie nehmen?

Sie setzen sich absichtlich auf meinen Platz im Bus, obwohl sie wissen, dass mir dieser Platz aus vielen Gründen besonders wichtig ist. Sie wissen auch, dass mein Tag dahin ist, wenn ich ihn nicht bekomme. Man kann mir den Tag ziemlich einfach zerstören. Wenn mich beispielsweise jemand ungefragt anfasst und ich mein Notfalldesinfektionsmittel aufgebraucht habe. Wenn ich einen ganzen Schultag meine Hände nicht desinfizieren kann, bin ich selbst für einfache Bruchrechnungen nicht mehr zu gebrauchen. Ich verstehe einfach nicht, wieso sie solche Dinge tun, wenn ich doch sogar einen ganzen Vortrag über meine Probleme vor der gesamten Klasse gehalten habe. Tun sie das, um mich zu ärgern, oder beabsichtigen sie gar nicht, mich zu ärgern? Egal, sie alle gehören nicht hierhin.

Sie sagen selber, dass ich, wenn ich verärgert bin, unausstehlich bin. Wenn zwei Schüler auf dem Schulhof Händchen halten, frage ich oft Außenstehende, ob es angebracht wäre, ihnen Desinfektionsmittel anzubieten und sie über die Gefahr resistenter Bakterien aufzuklären. Die Antwort bringt mich oft wenig weiter. Erst Ömchen (meine liebe Oma) hat mich dann aufgeklärt. Kurz: Andere Menschen sind sehr komisch. Deshalb habe ich beschlossen, sie zu ignorieren und mich auf mich zu konzentrieren. Dies funktioniert auch ganz gut.

Ich hasse Veränderungen. Ich habe beispielsweise bis heute damit zu kämpfen, dass die S-Bahn in München einfach ihre Liniennummerierung geändert hat.

Das alles hat einen Grund. Ich bin Asperger-Autist. Das bedeutet für mich, dass ich mich über so ziemlich alles aufregen kann. Darüber, dass das Google-Bild jeden Tag wechselt, darüber, dass wir ein neues Autokennzeichen bekommen, über die neuen Häuser, die schräg gegenüber in unserem Dorf entstehen sollen, und und und. Die Liste ist endlos.

Doch abgesehen von mir bedeutet das Asperger-Syndrom für Papsi, dass er sich in Urin knien muss, für Mami, dass sie dazu aufgefordert wird, sich mitten in der Nacht meine PowerPoint-Präsentation über Ackerbau anzusehen, für meine Schwester, dass sie sich stundenlang Vorlesungen über meinen neuen Entwurf für unsere Familienvereinbarung anhören darf.

Andererseits leide ich viel mehr unter ihren Gewohnheiten als sie unter meinen. Ich bin für sie vielleicht schwer zu verstehen, doch sie sind für mich noch viel schwerer zu verstehen.

Ich bin ein angenehmer Zeitgenosse. Ich hätte gerne einen Bruder wie mich. Ich kann allerdings den Blick gut aufs große Ganze richten. Viele meiner Mitmenschen kommen in den Genuss meiner ungewöhnlichen Gewohnheiten. Die einen mehr, die anderen weniger.

Meine Lehrerin ist sehr verständnisvoll. Ich darf in den großen Pausen im Klassenzimmer bleiben und habe meinen festen Platz in der Umkleidekabine. Außerdem habe ich einen festen Einzelsitzplatz, während der Rest der Klasse immer rotiert und jeden Monat mit jemand anders zusammensitzt. Sie akzeptiert, dass ich mich nicht integrieren möchte und alleine glücklich bin.

Neben meinem Platz in der Schule hängt eine tolle Weltkarte, mit der ich mich in den Pausen beschäftige. Mein Platz ist nah an meiner eigenen Heizung, über die ich bestimmen darf, und nah an meinem Fenster, über das ich ebenfalls bestimmen darf, sodass ich meine Umgebungstemperatur quasi frei regulieren kann. Er ist nah am Lehrerpult, sodass ich meine Tests, Diktate und so weiter dem Lehrer oder der Lehrerin direkt geben kann und ich mich nicht anstellen muss. Er liegt so, dass ich bei Präsentationen jeden im gesamten Raum ansehen kann, und er liegt in einem guten Winkel zur Tafel. Ich muss mich nicht ins Gedrängel stürzen, um mir Dinge aus meiner Kiste zu holen – normalerweise sind alle in einem Schrank. Meine Kiste steht direkt auf der Fensterbank, und an meinem Platz hängen noch drei Tüten mit Sachen, die nicht weggeschmissen werden dürfen. Es ist der perfekte Sitzplatz.

Wenn die Schule dann vorbei ist, gehe ich am Freitag ins Forschungszentrum. Dort arbeite ich an einem Projekt namens »Ordnung und Chaos«. Es geht um deterministisches Chaos, also um chaotische physikalische Systeme. Öfter gibt es auch Vorträge, zu denen Experten aus ganz Europa kommen und ihre Themengebiete präsentieren. Danach gibt es immer die Gelegenheit, Fragen zu stellen. Wann hat man schon die Gelegenheit, mit Professoren zu sprechen? Seit Neuestem fahre ich auch immer alleine und klimaschonend mit dem Bus dorthin.

Wie ich schon gesagt habe, mögen es meine Mitmenschen, wenn ich ihnen etwas erkläre. Dies ist auch meine Aufgabe in diesem Buch. Ich kümmere mich um das Glossar, in dem ich Begrifflichkeiten, die man vielleicht kennt, aber nicht mehr in Erinnerung hat, oder von denen man noch nie zuvor gehört hat, kurz und knapp erkläre.

In diesem Buch geht es um die Reisen von mir und Papsi und um die Abenteuer, die wir dabei erleben. Oft geht es dabei nur nebensächlich um das eigentliche Spiel, sondern um Dinge wie die Summe der Rückennummern der Spieler, um die Länge des Bahnsteigs oder um den Aufbau des Stadions.

Ich mag lieber alte, verrottete Stadien, wo überall das Gras sprießt, als moderne Stadien mit riesigen LED-Leinwänden. Es gibt viel schönere Details, wie zum Beispiel einklappbare Flutlichtmasten oder Anzeigetafeln aus Holz. Solche Stadien sind meistens sehr schön. Das Karl-Liebknecht-Stadion in Babelsberg hatte beispielsweise die einklappbaren Flutlichtmasten, ich mag auch die Alte Försterei in Berlin-Köpenick, da sie mitten im Wald liegt und die Geschäftsstelle tatsächlich eine alte Försterei ist. Auch das Erzgebirgsstadion ist schön, da es mitten in den Bergen liegt und man diese aus dem Stadion heraus sehen kann. Natürlich war auch das San Siro in Mailand beeindruckend, jedoch mag ich eine andere Art von Stadion lieber, wie zum Beispiel den Ludwigspark in Saarbrücken mit seinen rostigen Flutlichtmasten.

Abgesehen von Fußball geht es im Buch auch um den Alltag, den ich, Papsi, Mami und meine Schwester leben, und darum, was das Asperger-Syndrom für mich und meine Mitmenschen bedeutet.

Gäbe es ein Medikament, mit dem man das Asperger-Syndrom »heilen« könnte, müsste ich nicht lange überlegen, um zum Schluss zu kommen, es nicht zu nehmen. Das liegt daran, dass das Asperger-Syndrom Behinderungen, aber auch Vorteile beinhaltet. Das Behindernde an den Behinderungen ist nicht die Behinderung selbst, denn ein Problem entsteht erst, wenn andere Menschen meine Regeln verletzen, sei es aus Unwissenheit, aus Desinteresse oder aus purer Gemeinheit. Leider kann ich nicht unterscheiden, ob jemand gemein zu mir sein will oder vielleicht einfach vergessen hat, dass ich beispielsweise nicht berührt werden möchte. Im Gegenzug zu den Behinderungen gibt es natürlich auch viele Vorteile, ich nenne sie »Behilflichkeiten«, wie die, dass ich mir Dinge nur für eine halbe Minute ansehen muss und sie dann nie wieder vergesse (das kommt mir allerdings nicht immer zugute) oder dass ich logische Algorithmen, solange sie geordnet sind, sehr schnell erfasse und verstehe. Schwierig wird es natürlich, wenn etwas anders läuft als geplant. Auch wenn viele sagen, ich würde mir damit das Leben unnötig schwer machen, betrachte ich meine Hygieneticks wie das wöchentliche Putzen meines Stuhls in der Schule oder die Tatsache, dass ich immer Desinfektionsmittel in meiner Schultasche habe, als klaren Vorteil.

Es gibt viele Dinge in der Schule, die mir deutlich leichter fallen als anderen. Obwohl Deutsch zu meinen Lieblingsfächern gehört, langweile ich mich dort oft, weil der Unterrichtsstoff zu einfach ist, ganz zu schweigen von Englisch oder Erdkunde und Naturwissenschaften.

Ich habe oft einen anderen, differenzierten Blickwinkel auf Situationen, die zuerst aussehen, als wären sie eindeutig. Außerdem kann ich mir Dinge sehr gut einprägen und komplexe Dinge in kürzester Zeit verstehen. Diese Vorteile sind viel größer als alle Nachteile und bringen mich heute in der Schule und im Forschungszentrum und später im Beruf bedeutend weiter.

Nein, das Asperger-Syndrom ist nicht nur Behinderung, wie es die meisten, die schon einmal davon gehört haben, meinen.

Begonnen hat nämlich alles damit, dass ich keinen voreiligen Schluss darüber ziehen konnte, welcher Verein mein Lieblingsverein werden sollte. Erst musste ich also alle sehen, um mich zu entscheiden. Das ist doch logisch – oder?

Auch heute sind mir die Touren noch sehr wichtig, denn auf den Touren habe ich schon so manches Wichtige gelernt, habe viele Leute kennengelernt, viel gesehen und natürlich macht es auch einfach Spaß. Die Touren helfen mir dabei, besser mit den Dingen, die mir Schwierigkeiten bereiten, umzugehen und sie besser zu verarbeiten. Die üblichen Probleme des Alltags sind auf den Touren so gut wie verschwunden. Deswegen gibt es dann auch selten Streit. Früher hatten unsere Touren das Ziel, meinen Lieblingsverein zu finden, heute möchte ich hauptsächlich einfach nur ein schönes Stadion sehen und natürlich viel und weit reisen.

Im Stadion habe ich schon lustige, aber auch blöde Dinge erlebt. Die Bierdusche in Dortmund und Pyro in Hoffenheim. Außenstehende würden dies wohl unter lustige Erlebnisse einordnen, ich hatte dort jeweils eher gemischte Gefühle. Cool waren allerdings die Toiletten in Stuttgart, von denen man das Spielfeld beobachten konnte und so nie etwas vom Spiel verpasst hat, oder die Nachtzugfahrt, die zwar nicht im Stadion, sondern in einem Schlafwagenabteil, prall gefüllt mit leicht angetrunkenen Hannover-96-Fans, endete. Und als Papsi fast verprügelt worden ist oder als er um Tickets gebettelt hat, das war auch sehr lustig. Es gab allerdings auch Spiele, bei denen ich mir 80 Minuten lang die Muster im Beton einer Mauer ansah, weil der aktuelle Spielstand mir nicht passte. Auch dies kann man nicht klar als lustig oder blöd einordnen. So etwas liegt oft im Auge des Betrachters.

Der Spielstand hat mir nicht gepasst, weil ich zwar von keinem Verein ein Fan bin, es allerdings einige Vereine gibt, die ich gut finde. Beispielsweise den FC Augsburg, da ich in Augsburg geboren bin, und Fortuna Düsseldorf, weil ich, wenn Düsseldorf verliert, Papsi ärgern kann und wenn sie dann mal gewinnen, ich mich mit ihm freuen kann. Somit kann ich mich bei jedem Spielstand freuen. Bei keinem Verein geht die Sympathie jedoch so weit, dass ich Fan bin oder dass eine Niederlage meine ganze Woche zerstört und ich unbedingt jedes neue Ergebnis innerhalb von Minuten mitgeteilt bekommen muss.

Ich bin sicher, dass andere Menschen, wenn sie mir zuhören und mich ernst nehmen, viel von mir lernen können. Beispielsweise kann ich Dinge aus einem Blickwinkel sehen, der anderen verschlossen bleibt. So kann ich ihnen eine andere Sichtweise auf die Welt eröffnen, mit der sie besser umgehen können. Das Problem ist, dass mir viele Menschen nicht zuhören oder mich einfach nicht für voll nehmen. Wenn sich jeder nur ein kleines bisschen von meinem Blickwinkel inspirieren ließe, hätten wir eine deutlich coolere und lebensfrohere Gesellschaft und viele Probleme wären gelöst.

Papsi hat versprochen, die Welt ein bisschen besser zu machen, dabei ist mein größter Wunsch für unsere Welt ein sehr allgemeiner. Ich möchte, dass Menschen aufhören, sich an alten Gewohnheiten festzuklammern, die nicht mehr in unsere Zeit hineinpassen. Man sollte unser komplettes Wirtschaftssystem, das nur auf Wachstum beruht, überdenken. Wir sollten Risiken eingehen, um die sonst unausweichlichen Katastrophen wie den Klimawandel aufzuhalten. Auch unsere Religionen und unsere Sitten passen absolut nicht mehr in unsere Zeit. Wir denken und handeln zu konservativ, zu nationalistisch und mit zu wenig Weltoffenheit. Alles würde sich verändern, wenn wir dies überdenken. Wir würden endlich ernsthafte Schritte zur Erhaltung unserer Umwelt machen, uns stünde das gesamte Sonnensystem zum Erforschen frei und es gäbe keine isolierten, voneinander abgeschotteten Länder, die mit den anderen nichts zu tun haben wollen, nur weil sie sich für etwas Besseres halten. Die lächerlichen kleinen Differenzen zwischen den Menschen auf der Erde würden verschwinden. Es ist eine echte Traumwelt. Zwar sind wir davon noch Lichtjahre entfernt, doch es gibt erste gute Ansätze, die für eine offenere und bessere Welt in Zukunft sorgen können, wenn sie nur ernsthaft von allen Menschen verfolgt werden. Das wäre gut.

So, nun aber erst einmal viel Spaß mit unseren Abenteuern als Wochenendrebellen, und denkt daran, wenn ihr etwas nicht versteht, könnt ihr in meinem Glossar am Ende des Buches nachschauen.

Kapitel 1

Mannschaftsbesprechung

Jason hasst laute Umgebungen, Menschenmengen, Kinder, Salami und Gedränge.

Er schüttelt sich bei dem Gedanken, dass jemand neben ihm ein Butterbrot isst, und würde Kinder gerne von dieser Welt verbannen, obwohl er gemäß gesetzlichen Bestimmungen selbst noch ein Kind ist.

Er interessiert sich für unterschiedliche Blickwinkel der allgemeinen Relativitätstheorie, beschreibt die String-Theorie (Glossar 1) so, dass sogar ich sie verstehe, und lernt gerne spannende Dinge auswendig, wie das Periodensystem oder Ähnliches. Er kann sich nicht die Schuhe binden, er ist ungern alleine in einem Raum und er ist der konsequenteste und ehrlichste Mensch, den ich kenne. Jason ist heute elf und ich lerne von ihm seit seinem fünften Lebensjahr.

Wenn ich nicht von ihm lerne, kümmere ich mich um die Befriedigung seiner Interessen, um den Schutz meiner Tochter vor ihm oder ich unterdrücke meinen Drang, ihm eine Tracht Prügel zu verpassen. Es ist kompliziert.

Jason und ich reisen zu Fußballspielen mit bis zu 80 000 Zuschauern, fahren mit Betrunkenen im Schlafwagenabteil quer durch Deutschland, stranden in kleinen Zweitliganestern und dürfen niemals eine Minute eines Fußballspiels verpassen. Wir lieben wohl den Fußball, sind aber nicht einmal echte Fans und ich bin eigentlich kein schlechter Vater.

Die Suche nach einem Lieblingsverein für Jason wurde zu unserem Projekt, und dieses Abenteuer hat mein Leben bereichert, mir geholfen, meinen Sohn zu verstehen, und mich dazu bewegt, dieses Buch zu schreiben.

Aber eins nach dem anderen.

Es begann mit Opas Geburtstagsgeschenk und es sollte unser erster generationsübergreifender gemeinsamer Stadionbesuch werden. Es war nicht so, dass wir dies akribisch geplant hatten. Ich war bis dato sehr wenig in Fußballstadien unterwegs. Das ein oder andere Mal war ich mit meiner Frau bei einem Champions-League-Spiel ihres Lieblingsvereins, der Dortmunder Borussia. Alles aber jeweils weit vor der Geburt unseres Sohnes und wohl eher auf der Event-Fan- und Rosinen-picker-Ebene anzusiedeln.

Mit meinem Dad fuhr ich seit 2002 einmal im Jahr ins Stadion. Meistens waren es die besagten Geburtstagsgeschenke, die uns gemeinsam zum Fußball führten. Und dieses Mal nahmen wir meinen Sohn im Alter von fünf Jahren einfach mit. Völlig ungeplant und ohne größere Hintergedanken. Er genoss das Spiel, die Umgebung und die Anreise als gemeinsames Erlebnis, und auf der Rückfahrt aus dem Stadion verarbeitete er das Gesehene auf seine schon damals sehr spezielle Art und Weise. Dies fand damals nicht auf hohem fußballerisch-intellektuellem Niveau statt – er war gerade einmal fünf geworden und glänzte schon die Jahre zuvor mit scheinbar klugen Fragen.

»Wieso gibt man nicht jedem einen Ball?«

»Warum hatten manche Spieler das gleiche Trikot an?«

»Warum versteckt sich nicht einfach einer mit einem Ball hinterm Tor und schießt dann heimlich rein, wenn der Torwart nicht hinschaut?«

»Warum gibt es nur eine Halbzeit und keine Vollzeit?«

»Wie groß sind die Löcher im Tornetz?«

Er interessierte sich aber auch für diese beiden schreienden, Krach machenden Gruppen. Ihn faszinierten die in unterschiedlichen Farben mit Fahnen, Bannern und Schals bewaffneten Fans der beiden Mannschaften.

Geduldig ließ er sich erklären, was es mit den Herrschaften auf sich hatte, und begriff nach meinen Ausführungen eigentlich schon eine der elementaren Bedingungen für die Liebe zum Fußball: Du musst wohl Fan eines Vereins sein, um die Faszination Fußball zu verstehen. Sonst kannst du dich ja nie freuen, nie mitfiebern, niemals die Angst spüren, die eine Ecke des Gegners kurz vor Spielende auslösen kann. Gut, du musst dich auch nie ärgern, nie hadern, dir nie das ganze verdammte Wochenende versauen lassen, weil dein Team wieder einmal nicht gewonnen hat.

»Oder kann man einfach immer am Schluss des Spiels für den Gewinner sein?«

Mein Sohn wollte das pragmatisch lösen, und vielleicht hätte ich dies damals einfach zulassen müssen. Ich weiß nicht, warum ich damals seine Frage verneinte, aber es führte zu der logischen Reaktion, dass er nun auch Fan sein wollte, aber einfach nicht wusste, von welchem Verein.

Ich erklärte ihm, dass es viele Mannschaften gibt, in unterschiedlichen Farben, mit Spielern aus verschiedensten Ländern, die innerhalb eines Systems aus mehreren Ligen in einem Land spielen. Ich beschrieb ihm, dass es Auf- und Abstiege gibt und die sich daraus verändernde Zusammensetzung der Ligen. In meinen Ausführungen erklärte ich, dass eigentlich jede Stadt einen Fußballverein mit einer Historie hat, die 100 Jahre und mehr zurückreicht und dessen Bedeutung für die Bewohner und das Umfeld dieser Stadt, aber auch über Stadtgrenzen hinweg unterschiedlich intensiv ausgeprägt ist.

Wir saßen auf der Rückbank, es war mittlerweile kurz vor Mitternacht und der Sohn faselte inzwischen mehr rum, als dass er wirklich interessiert fragte. Er lauschte kopftaumelnd, die Augen kaum noch offenhalten könnend, meinen Ausführungen rund um den Fußball, um abschließend vor dem Schlafen klarzustellen:

»Dann müssen wir uns die alle anschauen, bevor ich mich entscheiden kann.«

Ich stimmte zu, wohl wissend, dass er das am nächsten Morgen auf keinen Fall vergessen haben würde, aber doch ohne mir der vollen Konsequenz bewusst zu sein.

Ich war nachlässig, vielleicht fahrlässig oder einfach noch unwissend im Umgang mit meinem Sohn. Es war klar, dass er mich die nächsten Tage daran erinnern würde. Er bohrte und hakte nach, jeden Tag, immer und immer wieder, bis mir ein weiterer Fehler unterlief – den ich heute gar nicht mehr als Fehler beurteilen würde.

Ich versprach ihm, die Zusage zu halten und mit ihm alle Stadien zu befahren und alle Vereine zu besuchen, die notwendig sind, bis er Fan eines oder besser seines Vereins werden würde. Wir gaben uns die rechte Hand und besiegelten unsere Versprechen. Na ja, und Versprechen sind eben Versprechen. Die muss man halten. Versprechen geschehen ja nicht zufällig. Die heißen ja nicht Versehen, klärte mich Jason auf. Versprechen sind uns heilig.

Und deswegen sind wir nun, gute sechs Jahre später, immer noch unterwegs und haben über 50 Stadien dieses Landes und einige sogenannte Grounds (Glossar 2) über unsere Landesgrenzen hinaus besucht. Wir saßen bei Minusgraden in Aalen, um uns den Zweitliga-Klassiker gegen den SV Sandhausen anzuschauen, wir haben die alte Dame Juventus gegen den FC Bayern kläglich eingehen sehen, wir sahen Tim Wieses (Glossar 3) letztes Spiel für die TSG Hoffenheim, folgten im strömenden Regen dem Eliteverein, der wunderbaren Fortuna aus Düsseldorf, zum Freundschaftsspiel in die rheinische Bezirksklasse und sahen Zanettis (Glossar 4) Abschiedsspiel im San Siro Stadion. Wir erlebten sehr bewegende Stadionbesuche im Rahmen des »Refugees Welcome Day« in Babelsberg und fuhren mit schwer alkoholisierten Hannover-Fans im Schlafwagenabteil des Nachtzuges vom Freitagabendspiel in Freiburg zum Hamburger Millerntor. DFB-Pokal (Glossar 5), Champions League (Glossar 6), Relegationsspiele (Glossar 7), Abschiedsspiele, wir nehmen mit was kommt und ein Ende ist nicht in Sicht.

Noch eine Vater-&-Sohn-Story? Ja, sorry. Noch ein Fußballbuch? Nein, nicht unbedingt.

Es gibt einige amüsante Verknüpfungen zum Spiel, dem eigentlichen Highlight. Die Zugfahrt zum Spielort, die Planung vorab, die mögliche Übernachtung und alle die Geschehnisse innerhalb des Stadions, meistens aber außerhalb des eigentlichen Spielgeschehens. Das alles bot das Futter für den Inhalt dieses Buches.

Mein Sohn ist der Wochenendrebell und wir werden unsere Abenteuer, unsere Probleme, unsere gemeinsam gesuchten Ansätze, unsere Differenzen und Auseinandersetzungen schonungslos offen darlegen. Vielleicht kann es als Anregung dienen, vielleicht zeigt es manchem Vater, was man wie am besten falsch macht, vielleicht brauche ich dieses Buch irgendwann für mich als Ausrede oder als Erklärung für Außenstehende, warum mein Sohn so ist, wie er ist. Die Präsentation von Erlebnissen, die man mit einem behinderten Kind erlebt, könnte für viele Grund genug sein, um dieses Buch nicht zu lesen, trotzdem ist genau dies für mich auch ein Antrieb, es zu schreiben, auch wenn eine Buchreihe im Harry-Potter-Ausmaß nicht ausreichen würde, um die Liebe, die ich meinem Sohn und meiner Familie gegenüber empfinde, zu beschreiben und all unsere schrägen Erlebnisse festzuhalten. Mein Sohn käme da sicherlich schneller zum Punkt. Er ist sehr direkt.

»Ich hasse dich und ich wünschte, du müsstest arbeiten gehen und kämst nie wieder.«

Mein Sohn ist im Herzen ein liebenswürdiger Kerl. Liebenswürdig. Ein grausames Prädikat für ein Kind – insbesondere für das eigene.

Nachdem ich ihm sagte, er solle nicht so mit mir reden, stellte sich aber auch umgehend Besserung ein. Er redete nun gar nicht mehr mit mir.

Meistens geschah dies in den Situationen, wenn eine Kleinigkeit, eine minimale Abweichung einer erlernten Routine zur Eskalation führte und er seine Frustration nicht mehr zurückhalten konnte.

Er sprach dann indirekt mit mir, auch wenn ich nur einen Meter von ihm entfernt stand.

»Ich hoffe, der ist bald wieder weg«, erzählte er einem seiner Kuscheltiere, die zeitweise keine Kuscheltiere waren, sondern für Jason real handelnde Individuen, mit denen er sprach. Die ihm immer zustimmten, zuhörten und seine Ansichten teilten. Ich stand dann meistens ratlos daneben.

Jason ist Autist (Glossar 8). Dies ist keinesfalls ein Grund, in den Mitleidsmodus zu verfallen. Jegliche Form von Betroffenheit ist fehl am Platz. Wir haben den besten Sohn auf der Welt.

»Ich hoffe, ich sehe den Arsch nie wieder«, versucht er weiter das Gespräch mit seinem Stofftier zum Laufen zu bekommen. Oftmals gelingt es ihm und er erzählt dann später, was das Stofftier geantwortet hat oder wo es gestern war, was es so gemacht hat oder eben, welche Seite der Plüschaffe bei der Diskussion eingenommen hat.

Jason ist schmerzhaft direkt und brutal ehrlich und das ist nicht einmal sein größtes Problem, wenn man eine radikale Offenheit überhaupt als Problem erachten möchte. Aber selbst dann gilt ja: Probleme habe ich auch. Jeder vermutlich auf seine eigene Art und Weise, und bei Jason sind dies eben Probleme, deren Lösung langatmig, anstrengend und kraftraubend ist, was aber noch eine gute Situation darstellt, denn manche Probleme lassen sich nicht in ihrer Ursache lösen, sondern man muss lernen, sich mit ihnen zu arrangieren.

Seine besondere Artikulation und Herangehensweise sorgen immer wieder für skurrile Situationen und stellen uns vor absurde Herausforderungen auf unseren Touren sowie im Alltag. Einerseits ist es mir ein Bedürfnis, dass auch Jason rückblickend nicht nur weiß, was wir erlebt haben, sondern auch einen Eindruck bekommt, was daran außergewöhnlich oder ein wenig unüblich war. Vielleicht hilft es ihm einmal in der Zukunft, Eigenarten, deren Zustandekommen, aber auch deren spätere Überwindung besser zu reflektieren. Das Buch soll ihm Halt geben in problematischen Situationen oder ihm freudige Erinnerungen schenken in schwierigeren Zeiten.

Er hat auf unseren Touren Situationen gemeistert, an denen er im alltäglichen Leben mehrfach scheiterte. Es ist, als bräuchte er den außergewöhnlichen Rahmen, um Außergewöhnliches zu leisten. Das Außergewöhnliche sind oftmals Banalitäten für Kinder seines Alters, die aber keine »Entwicklungsstörung« zum festen Bestandteil ihres Lebens zählen. Entwicklungsstörung. Ein häufig verwendeter Fachbegriff vermeintlicher Autismus-Experten, der nicht nur meine Frau und mich ratlos zurücklässt. Wir sehen da nichts Störendes in seiner Entwicklung.

Vielleicht hilft dieses Buch aber auch anderen Menschen.

Das Leben mit einem autistischen Kind unterliegt besonderen Rahmenbedingungen, und selbst Eltern mit Kindern ohne Behinderung wissen ein Lied von den Problemen zu singen, die sie alltäglich umgeben. Von Alleinerziehenden mal ganz zu schweigen, die auch bezüglich ihres Zeitmanagements und ihrer Kraftreserven vor noch völlig anderen Herausforderungen stehen.

Ich bin kein Pädagoge und kein Therapeut, also erwarten Sie bitte keine wissenschaftlich unterlegten Verhaltensempfehlungen. Ich bin auch kein Psychologe, kein ausgebildeter Erzieher, kein Mediziner, kein Autismus-Experte. Man darf dies also auch nicht als allgemeingültige Anleitung verstehen, dafür ist insbesondere das Autismus-Spektrum viel zu breit gefächert.

Dies ist ein ziemlich egoistisches Buch, aber ich schreibe es direkt aus dem Herzen heraus. Ich schreibe es, weil es mir hilft, Erlebtes zu verarbeiten, Negatives nach dem Niederschreiben als abgehakt zu akzeptieren und um Positives möglichst lange festzuhalten. Ich habe keine journalistische Ausbildung, und wenn man diesen Text vor dem Lektorat zu Gesicht bekommen hätte, hätte man wohl die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Ich bin nicht nur kein Pädagoge, ich bin auch kein Schriftsteller.

Bei meinem Sohn drückte sich seine »besondere Logik«, so nannten wir das Asperger-Syndrom (Glossar 9) ihm gegenüber zur Erklärung, zu Beginn unter anderem durch einen ausgeprägten Regelzwang aus.

Es gibt Regeln. Unglaublich viele Regeln, seltsame Regeln, belastende Regeln – und Regeln werden nicht gebrochen. Also so gar nicht gebrochen. Regelbruch bedeutet Eskalation. Am besten lässt sich dies veranschaulichen beim Thema Nahrungsaufnahme, auf das wir später noch detaillierter eingehen wollen.

Einzelne Bestandteile eines Mittagessens dürfen sich nicht berühren. Punkt.

Da gibt es nicht einen Millimeter Grat, auf dem zu wandern möglich wäre. Ein Tropfen Soße, ein Bruchteil von einem Milliliterchen, vielleicht gerade noch so groß, dass es mit bloßem Auge sichtbar ist, reicht aus. Dieses Tröpfchen, versehentlich am Fleisch oder am Rand eines Kartoffelkloßes gelandet, genügt und man erlebt sehr schnell eine Situation, die dazu führt, dass er mich nur wenige Sekunden später mit den eingangs zitierten Beleidigungen und Attacken konfrontiert. Schließlich habe ich das Essen bestellt, angerichtet oder dem zubereitenden Koch nicht die Wichtigkeit der Trennung der Bestandteile verdeutlicht. Ich bin schuld! Immer! Deswegen hasst er mich. Zumindest manchmal.

Der Tropfen Soße reicht zur völligen Eskalation und nun ist es so, dass die Heftigkeit des Ausrasters nicht mit der Schwere des Regelverstoßes proportional wächst. Ich könnte ihm einen versifften Plastikeimer mit dem Inhalt der Biotonne vorsetzen. Es macht keinen Unterschied zu dem Milliliter Soße, der an dem Kloß hängt. Beide Formen der Nahrungsaufnahme sind für ihn nicht zumutbar, und diese beiden Arten, einen Regelverstoß zu begehen, begegnen sich auf Augenhöhe, wenn man nur ihre Auswirkungen betrachtet. Regelverstoß ist Regelverstoß, egal wie verhältnismäßig klein der Auslöser ist.

Wenn die Situation mit unserem Sohn eskaliert, kommt es zu einer hohen Diskrepanz zwischen Ursache und seinem daraus resultierenden Verhalten. Das ist der Rahmen dieses Buches, ich habe ihn nicht geschaffen, sondern er ist so vorgegeben und irgendjemand hat sich ganz sicher etwas dabei gedacht, dass alles so ist, wie es ist.

Diese Lektüre könnte derbe, drastisch, rüde, ruppig und unfair werden. Sie spiegelt eventuell ein verzweifeltes, rückgratloses Verhalten meinerseits wider. In manchen Fällen mag man unser Handeln vielleicht als verantwortungslos, idiotisch, inkonsequent und selbstgerecht bezeichnen. Meine Frau und ich sind es aber gewöhnt, eher als schwache, unfähige und freakige Eltern wahrgenommen zu werden. Wir entscheiden, was unseren Sohn angeht, nicht immer zwingend mit dem Kopf, sondern oft mit dem Herzen, und ob das dann nur situativ oder auch langfristig richtig ist, vermag ich im Moment der Entscheidung nicht immer zu beurteilen.

Ich schreibe, was ich denke, was ich fühle und manchmal vielleicht auch, was ich glaube, was unser Sohn denkt und fühlt. Das muss nicht immer richtig sein. Ich schreibe, denke und fühle da vielleicht, und das meine ich wertfrei, in anderen Maßstäben, aus einem anderen Paradigma, aus meinem ganz persönlichen Blickwinkel heraus. Ich bin wie gesagt kein Asperger-Experte oder Autismus-Fachmann, ich bin kein Therapeut, kein Mediziner, kein Autor, kein Professor, Doktor oder Pädagoge. Ich bin Vater.

Kapitel 2

Jason siegt nach Verlängerung

»Die Scheiße kannst du alleine fressen.«