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Deena

So frei bin ich
nur hier

Mein zweites Leben in Afrika

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger
Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.
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1. Auflage

© 2017 Benevento Publishing,

eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Gesetzt aus der Palatino, Canvas Script

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Lektorat: Martina Paischer

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries

ISBN 978-3-7109-0025-9
eISBN 978-3-7109-5043-8

Eine Geschichte
voller Musik und Verwirrung

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Safari Sana

Das Land der tausend Hügel

Kinder, you are not serious!

Nachtbus nach Kampala

Mish Mash – Mash it up

Glitzer und Bling-Bling

Sabrina im Wunderland

Mumulete

»The Beat«

Nalumansi

Enkuuka

Mbarara

Die Sache mit den Perspektiven

»Deutsche erobert Afrika« − representing German sausage

Alpha und Omega

Twokya

Ugly sisters of the pineapple in a submarine driven by pineapple juice

Vielen Dank/Mwebale nnyo/Asante sana/Murakoze/Thank you very much

Einleitung

Twabyirukanye nk’impanga.

Wir sind miteinander aufgewachsen, seit wir jung waren.

Twaruhanye uwakavuna.

Wir sind eins, durch dick und dünn.

Ntacyari icyawe ntakitwaga icyanjye.

Du hast nichts, was ich nicht habe.

None dore uranyigaritse.

Doch heute wendest du dich einfach ab.

MWUNGERI – KNOWLESS BUTERA

Ein tiefer Atemzug.

Ich spüre, wie sich die Wasseroberfläche über meinem Kopf schließt und wie meine noch müden Muskeln langsam warm werden und sich strecken. Unter mir ragt der Kivusee viele, viele Meter in die Tiefe. Für mich ist es nur ein Meer aus Dunkelheit. Einatmen, kaltes Wasser, ausatmen. Mit starken Zügen schiebe ich das Wasser hinter mich. Der See macht mich nicht nervös, ich muss diese Strecke wohl gefühlte tausend Mal geschwommen sein.

Es ist kurz vor halb sieben, und wie immer erreiche ich nach einem Kilometer die kleine Insel inmitten der Bucht der Brasserie. Ich spüre die runden Steine unter meinen Füßen und setze mich auf einen der Felsblöcke im Wasser – das Gesicht dem entfernten Ufer zugewandt.

Ich atme gleichmäßig ein und aus, als ich zu meiner Linken das leise Gleiten eines Paddels im ruhigen Wasser wahrnehme. Drei Fischerboote sind nach einer erfolgreichen, fischreichen Nacht auf dem Weg zurück zum Hafen. Wir grüßen uns auf Kinyarwanda, der hiesigen Regionalsprache. Wir kennen uns gut, denn ich bin die Einzige, die regelmäßig morgens auf dieser Insel sitzt. Die Fischer freuen sich, sie hätten mich lange nicht gesehen. Das ist wahr, ich war viel unterwegs.

Mein Blick wandert zum oberen Teil des Hügels, hinter dem in ein paar Minuten die Sonne aufgehen wird. Sie wird mich auch an diesem Morgen nicht enttäuschen. Während es heller wird, nehme ich aus der Ferne wahr, wie am Ufer Leben erwacht. Gelächter, eine Ziege meckert, Kinder auf dem Weg in die Schule, Frauen, die am Ufer die Wäsche waschen.

Hier draußen bin ich der einzige Mensch weit und breit. Ich spüre den Frieden und die meditative Ruhe des Umfelds in mir, es wirkt immer wieder aufs Neue. Viele Dinge jagen mir durch den Kopf. Die letzten vier Jahre waren unglaublich und sind rasend schnell an mir vorbeigezogen. Bühne, Spotlight, Kamera, Fernsehen, Menschen, Smartphones, Reporter, Freude, Schmerz, laute Musik. Bevor ich wusste, was und wie es passiert ist, war ich mittendrin gewesen, und nun sitze ich wieder auf meiner kleinen Insel an der Brasserie.

Über dem Hügel vor mir tauchen die ersten Strahlen der Sonne auf und wärmen mein morgenfrisches Gesicht.

Hallo, mein Name ist Deena, und ich bin Popstar in Uganda.

Stopp. Langsam. Von vorn.

Safari Sana

Pole, pole mama.

Langsam, langsam Mama.

Wakati wangu umefika.

Meine Zeit ist gekommen.

Mimi napona.

Ich bin geheilt.

I’m free, kama hewa.

Ich bin frei wie die Luft.

Africa mahewa.

Die afrikanische Brise.

SINA MALI, SINA DENI (FREE) – KHADJA NIN

Mein weißes leichtes Kleid weht ein wenig, als ich mit schnellen Schritten durch den Applaus des Publikums von der Bühne zurück zu meinem Tisch am Ende des Raumes gehe. In meinen Händen halte ich mit festem Griff ein kleines Päckchen, auf dem eine selbstgebastelte Karte aufgeklebt ist. Ich bin noch etwas rot im Gesicht, denn ich hatte mit dem Aufruf auf die Bühne nicht gerechnet. Ein paar Leute, an denen ich vorbeilaufe, lächeln mir zu. Viele kenne ich. Viele kennen mich.

Ich kann es nicht erwarten, das kleine Päckchen an meinem Tisch zu öffnen und die Karte zu lesen. Eigentlich fallen Schulpreise nicht besonders spannend aus, aber ich weiß genau, wessen Handschrift das dort auf der Karte ist, die ich in den Händen halte. Und diese Handschrift kann nur Gutes verheißen.

Ich befinde mich gerade auf meiner eigenen offiziellen Abiturfeier, und der große Raum, durch den ich mich bewege, ist gefüllt mit knapp dreihundert Mitschülern, Lehrern und Lehrerinnen sowie einer beachtlichen Anzahl an Verwandten. Zum krönenden Abschluss des offiziellen Teils waren soeben die Preisträger und Preisträgerinnen der verschiedenen Fächer meines Jahrgangs bekanntgegeben worden. Ich hatte mit der Auszeichnung als ehemalige Schülersprecherin gerechnet, doch als ich ein weiteres Mal aufgerufen wurde, hatte ich kurz geglaubt, nicht richtig zu hören. Es war der Aufruf für die Musikpreisträgerin. Ich hatte Musik als Fach in der Oberstufe nicht einmal als Schwerpunkt belegt. Es muss ihnen wohl ein Fehler unterlaufen sein, dachte ich mir auf dem Weg zur Bühne. Doch als ich dort den Preis entgegennahm und die Schrift auf der Karte entdeckte, wusste ich, dass es kein Irrtum war.

Ich gehe zurück an unseren Tisch, an dem meine Eltern und meine beste Freundin Jule sitzen, und lasse mich auf den Stuhl fallen. Meine Mutter lächelt mir zu.

»Hast du gewusst, dass du den Musikpreis bekommst?«, fragt sie.

Ich schüttle den Kopf. Ich habe nicht damit gerechnet. Jule hebt neben mir zum Toast ihr Glas. Sie wirkt ebenfalls überrascht, aber doch eher nicht zu überrascht. Es ist ja nicht so, als ob ich denke, ich hätte den Preis nicht verdient. Musik hat, seit ich laufen kann, mein Leben mitgestaltet und auch eine wichtige Rolle in meiner Schulzeit gespielt. Wo auch immer eine musikalische Veranstaltung stattfand, war ich dabei gewesen. Im Schauspiel, Musical, mit Bands, solo oder bei selbst organisierten Konzerten. Meistens mit Jule zusammen, mit der ich jetzt gerade anstoße.

Auf der Bühne neigt sich die Ehrung dem Ende zu. Und damit offiziell auch unsere Schulzeit. Mein Blick schweift durch den Raum und über die vielen bekannten Gesichter. Ich sehe dem Ende mit einem lachenden und einem weinenden Auge entgegen. Weinend, weil es wirklich ein Ende ist. Gute Freundschaften haben sich entwickelt. Unzählige Erlebnisse und Hindernisse liegen hinter uns. Die vielen lustigen und auch anstrengenden Zeiten haben mich eng mit vielen Menschen hier zusammengeschweißt. Zu fast jedem Gesicht gibt es eine oder mehrere unvergessliche Geschichten zu erzählen. Sogar mit vielen Lehrern und Lehrerinnen haben sich gegen Ende sogar so etwas wie Freundschaften entwickelt. Besonders in den letzten zwei Jahren habe ich wohl mehr Zeit in der Schule als zu Hause mit meiner Familie verbracht. All das jetzt hinter mir zu lassen, fällt mir schwer.

Aber jedes Ende birgt bekanntlich auch einen neuen Anfang. Und das ist das lachende Auge. Was wird kommen? Wohin wird es uns alle verschlagen? Was wird mit uns passieren, und welche Wege werden wir gehen? Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, den Alltag der süddeutschen Kleinstadt Baden-Badens auch einmal hinter mir lassen zu können. Eine Welt, in der ich bereits alles kenne, was es zu entdecken gibt. In der ich mich ohne Probleme zurechtfinde. Doch ich will raus ins Leben. Raus in die Realität. Die Welt liegt uns zu Füßen. Freiheit! Zumindest fühlt es sich im Moment so an.

Ein letzter Applaus, und es ist vorbei. Die Stimmen im Raum werden lauter. Der inoffizielle Teil der Veranstaltung hat begonnen. Ich nehme einen Schluck meines Rotweins. Vor mir liegt mein Abiturzeugnis, die Auszeichnung für mein dreijähriges Engagement als Schülersprecherin und das kleine Päckchen mit der Karte. Es sind nur Auszeichnungen. Worte, auf Papier gedruckt. Nicht mehr als das. Denn das, was ich in den letzten Jahren meiner Schulzeit mitgenommen und gelernt habe, kann keine Auszeichnung der Welt beschreiben. Und damit meine ich nicht die Wissensaneignung im Klassenzimmer.

»Von wem ist der Preis? Mach mal auf!«, drängt Jule jetzt. Sie ist genauso neugierig wie ich. Ich fummle den Kleber der Karte vom Päckchen ab.

»Lass es raus«, ist darauf mit großen Buchstaben geschrieben.

Ich klappe die Karte auf, und Jule beugt sich zu mir herüber, um mitlesen zu können. Ihre blonden Haare fallen ihr dabei in die Stirn.

»Liebe Sabrina, die Aufforderung auf der Karte hast du zwar überhaupt nicht nötig bei deinem Temperament, aber den Spruch fand ich trotzdem passend.«

Ich grinse ein wenig in mich hinein, denn ich weiß, dass dieser erste Satz mehr als der Wahrheit entspricht. Ich habe Temperament und mehr Energie, als mir manchmal lieb ist. In den letzten drei Jahren habe ich so viele Dinge gleichzeitig gemacht, dass es mir ein wenig rätselhaft ist, wie ich all das schaffen konnte. Oder wie mein Mathelehrer einmal sagte: »Sabrina tanzt wirklich auf allen Hochzeiten gleichzeitig.«

Doch allein getanzt habe ich nie. Mein Blick fällt kurz auf Jule, die neben mir in die Karte vertieft ist. Wir kennen uns schon seit der Zeit als Kleinkinder aus der Krabbelgruppe. Im gleichen Dorf aufgewachsen, dieselben Schulen besucht, den Sportverein geteilt und unzählige Male miteinander auf der Bühne gestanden. In brenzligen Situationen hat sie auch ihr winziges Bett mit mir geteilt. Zum Beispiel damals, als ich in pubertärem Wahnsinn von zu Hause ausziehen wollte. Oder als in unserem Hostel in Paris nur noch ein einziges Bett frei war. Oder wenn ich es nach einer Party mal nicht nach Hause geschafft hatte.

Jule ist in diesen achtzehn Jahren wie eine Schwester geworden. Sie ist einfach immer da. Meine Seelenverwandte. Oder wie ich sie auch gern nenne: »Meine bessere Hälfte.« Sie ist eine treibende Kraft für mich, und sie muss dafür nichts tun, als anwesend zu sein. Ohne Jule wäre ich wahrscheinlich schon vor Jahren in meinem Temperament verloren gegangen. Oder zumindest oft kopflos gegen Wände gerannt. Sie ist die Struktur, das Detail, die Inspiration. Sie ist all das, was ich oft nicht bin, und noch viele Dinge mehr.

Ich lese den nächsten Teil der Karte.

»Du hast über Jahre hinweg mit deiner energiegeladenen Stimme und deinem ›vielsaitigen‹ Talent das musikalische Leben der Schule entscheidend mitgeprägt, insbesondere natürlich der Musical-AG. Dafür möchte ich dir heute einfach DANKE sagen.«

Eine Welle wohliger Wärme durchflutet mich. Die Karte stammt von Herrn Grupp, einem Lehrer der Schule, der mich seit Jahren in Sachen Musik begleitet hat. Er ist ebenfalls der Leiter der Musical-AG, in der ich sechs Jahre lang aktiv gewesen bin. Sechs Jahre sind eine lange Zeit, und ich würde sagen, dass dies ein wichtiger Teil meines Lebens geworden ist. Ich habe organisiert, choreografiert, geschauspielert, gemalt, den Chor geleitet, gesungen. Vieles, was ich heute bin, habe ich dort gelernt. Die Bühne ist mein zweites Zuhause geworden. Der Ort, an dem man sich selbst vergessen kann. Der Ort der freien Entfaltung und der Selbstbestimmung. Und das habe ich zum großen Teil Herrn Grupp zu verdanken, der uns alle immer mit voller Kraft unterstützt hat. Der uns Vertrauen schenkte und Freiheiten gewährte in einer Weise, wie es für Lehrer niemals selbstverständlich ist. Die Musical-AG hinter mir zu lassen, ist wohl der schmerzhafteste Schritt von allen. Ich werde diese Gruppe unheimlich vermissen. Die Bühne machte uns alle zu einer Familie. Es tut gut, von Herrn Grupp ein Dankeschön zu bekommen, obwohl ich ihm wahrscheinlich niemals genug für das danken kann, was er mir ermöglicht hat.

»Für dein anstehendes Jahr in Ruanda wünsche ich dir ebenso viel Power und viele glückliche Momente als African Woman.«

Da ist es wieder. Das undefinierbare Gefühl, das auch bei dem Gedanken an das Ende der Schulzeit über mich kommt. Schon seit Jahren war mir klar, dass ich nach Abschluss meiner Hochschulreife nicht gleich ein Studium aufnehmen wollte. Ich hatte genug gelernt und auf meinem Hintern gesessen. Die Aussicht auf ein Medizinstudium war da eher mäßig ansprechend. Ich wollte etwas von der Welt und vor allem mich kennenlernen. Ich wusste, dass es dort draußen mehr geben musste als die scheinbar perfekte Märchenwelt des Teils von Baden-Baden, in dem ich aufgewachsen war. Die Märchenwelt, in der es irgendwie allen gut geht. Alle mit Einfamilienhaus, Auto, ungefähr zwei Kindern und einem Job. Eine gute Welt. Aber auch eine Welt, in der man auffällt, sobald man nicht der Norm entspricht. In der man auffällt, wenn man anders denkt.

Ältere Freunde von mir waren nach dem Abitur für einen Freiwilligendienst ins Ausland gegangen. Was für eine tolle Möglichkeit! Ich erhoffte mir intensivere Erfahrungen und ein noch tieferes Eintauchen in Kultur und Gesellschaft, als das beim einfachen Reisen möglich ist. Also habe ich mich beworben, denn das passte auch mit meinem sonstigen sozialen Engagement zusammen. Ich hatte als Schülersprecherin schon seit Jahren mit Kindern und Jugendlichen zusammengearbeitet, Benefizkonzerte oder Seminare mitorganisiert, verschiedenste Veranstaltungen geleitet oder Aktionen mit Amnesty International und Fair-Trade-Gruppen gestartet. Jetzt sollte es ein Straßenkinderzentrum sein. Und vor zwei Monaten kam dann auch tatsächlich eine positive Rückmeldung auf eine Bewerbung in Ruanda. Ich war überwältigt vor Freude. »Als Freiwillige im Ausland arbeiten, voll finanziert, bildet euch, testet Grenzen und tauscht euch mit einer anderen Kultur aus.« Zumindest lautete so die Werbung zum organisierten Freiwilligenjahr. Was für eine Chance. Was für ein Privileg! Ich weiß noch genau, wie ich vor Freude durch das Haus hüpfte, während meine Mutter über Malaria grübelnd am Esstisch saß.

Ostafrika. Eigentlich wusste ich zu dem Zeitpunkt fast nichts über Ostafrika. Das meiste Wissen stammte aus den Berichten der Medien, mit denen ich aufgewachsen war. Doch das konnte meiner Meinung nach nicht alles sein. Auch Jule hatte sich als Freiwillige beworben und schließlich ein Projekt in Indien gefunden. Ich war froh, dass ich in der Vorbereitungszeit auf das Jahr im Ausland nicht allein war, denn Jule machte gerade dasselbe durch. Obwohl wir beide sehr positiv gestimmt waren, mussten wir doch feststellen, dass die meisten Menschen in unserem Umfeld eher wenig begeistert von unserer Entscheidung waren. Ob es da fließendes Wasser und Krankenhäuser gäbe? Ob da nicht Krieg wäre? Ob ich keine Angst vor Malaria hätte? Oder ob ich eventuell in einer Lehmhütte wohnen würde? Ob das nicht gefährlich sei? Mutig nannten sie uns. Mutig warum? Angst wovor? Ich konnte die negative Stimmung und die Vorurteile nicht wirklich nachvollziehen. Weil wir Deutschland verließen, wurden wir fast für verrückt erklärt? Warum sollte ich Angst haben? Ich konnte ja erst wissen, wie es wirklich war, wenn ich dort gewesen war. Ich war mir sicher, dass dies die beste Bildungsreise meiner jungen Jahre werden würde. Und in nur zwei Wochen sollte es tatsächlich losgehen.

Inzwischen hat Jule das Geschenk vom Tisch genommen und drückt es mir in die Hand.

»Mach mal auf!«

Ungeduldig reiße ich das Geschenkpapier auf, und eine CD kommt zum Vorschein. Sie zeigt die farbenfrohe Szenerie einer Savanne und ist mit »Women of Africa« beschriftet. Ich drehe sie um und lese mich durch das Verzeichnis der Songs auf dem Cover. Es scheint eine CD mit ausschließlich weiblichen Künstlerinnen aus den verschiedensten Ländern und Regionen Afrikas zu sein. Was für ein wunderbares Geschenk! Ich kann es jetzt schon nicht erwarten, alles durchzuhören. Ich habe mich in den letzten Wochen schon ein bisschen mit verschiedenen Musikstilen aus Afrika beschäftigt. Besonders der Afro-Jazz hat es mir angetan. Es ist Musik, mit der ich bisher noch nicht in Kontakt gekommen bin. Von der man auch so gut wie nichts im Radio hört. Doch ich war begeistert von der Vielfalt und den für mich neuen musikalischen Richtungen dieses Kontinents. Ich wollte noch mehr hören, und da ich sowieso weibliche Künstler bevorzuge, kommen mir die »African Women« auf der neuen CD natürlich entgegen.

»Voll schön«, murmelt Jule neben mir.

»Bleib gesund und lass hin und wieder von dir hören. Safari sana, dein Rafiki – B. Grupp«, steht noch auf der Karte. Gute Reise. Dein Freund.

Ich freue mich unheimlich über dieses schöne, persönliche Geschenk. Ich blicke suchend durch den Raum und entdecke Herrn Grupp schließlich an einem der Tische vor der Bühne. Er blickt zu mir herüber, und ich wedle mit der CD, als ich mit der anderen Hand eine dankende Geste mache. Er erwidert diese und hebt sein Glas.

»Kannst du glauben, dass jetzt alles vorbei ist? Dass wir schon in zwei Wochen ein komplett neues Leben beginnen?«, frage ich Jule, als ich langsam den Blick von Herrn Grupp abwende.

»Ja das ist echt super komisch«, antwortet sie mir.

Wir sind beide kurz still, trinken einen Schluck Wein und lassen unsere Blicke durch den vollen Raum schweifen. Ich glaube, wir fühlen uns beide ein klitzekleines bisschen verloren.

Die Vorbereitungs-Workshops für das Jahr in Ruanda haben in den letzten Wochen Zeit und auch viele Gedanken in Anspruch genommen. Die Vorfreude hat überdeckt, was mir jetzt gerade erst bewusst wird. Das Ende und der Neuanfang. Das lachende und das weinende Auge. Ein letztes Mal werden Jule und ich heute zusammen als Schülerinnen auf der Bühne stehen. Wir leiten heute gemeinsam die Abiband. Ich werde Jule im nächsten Jahr als meine musikalische Partnerin »in crime« sehr vermissen. Da bin ich mir sicher. Seit wir vor zwei Jahren unsere Akustik-Band »mabelusedtodance« gründeten, haben wir noch mehr gemeinsame Zeit auf der Bühne und in Proben verbracht als sonst. Wir haben geschrieben, gemixt, gecovert, was das Zeug hält. Spaß gehabt.

»Meinst du, wir werden uns nach dem Jahr noch genauso gut verstehen wie jetzt?«, frage ich Jule.

Sie sieht kurz nachdenklich aus. Dies ist tatsächlich eine Sorge, die mir in den letzten Wochen immer wieder durch den Kopf geschwirrt ist. Wie werden sich die Dinge in der Zeit, in der ich weg sein werde, verändern? Wie werde ich mich verändern? Was wird aus den guten Freundschaften der Schulzeit werden, wenn jeder seinen individuellen Weg antritt? Wird man sich überhaupt noch verstehen oder über den Weg laufen?

»Ach, bei uns mache ich mir da keine Sorgen«, sagt sie dann bestimmt und winkt ab.

Sie hat recht. Wir sind Soulsisters. Wir sind gemeinsam schon durch ganz andere Dinge gegangen. Und wirkliche Freunde kann man eigentlich fast nicht verlieren. Zumindest nicht durch ein Jahr der Distanz von fünftausend Kilometern. Ich wüsste gar nicht, wie viel sich verändern müsste, dass Jule und ich uns nicht mehr verstehen würden.

»Worauf freust du dich am meisten?«, fragt mich Jule leise. Ich überlege kurz. So richtig kann ich es gar nicht erklären, denn ich weiß ja nicht, was mich erwarten wird. Ich habe einfach das Gefühl, dass die Entscheidung, nach Ruanda zu gehen, die beste meines Lebens sein könnte. Aber eine kleine Sache wäre da schon.

»Musik«, sage ich.

Jule sieht mich an und lächelt.

»Ich freue mich auf neue Musik.« Ich bin mir sicher, sie versteht, was ich meine. Ich hätte mir aber zu diesem Zeitpunkt niemals träumen lassen, was mich in den nächsten Jahren erwarten sollte.

Obwohl ich mittendrin sitze, erscheint mir die Abifeier plötzlich meilenweit entfernt. Ein bisschen klein und unbedeutend. Wie die erste Treppenstufe, die ich bereits genommen habe. In Gedanken bin ich schon woanders. In Gedanken sind schon zwei Wochen vergangen, und ich sitze im Flugzeug auf dem Weg nach Ruanda. Das Land der tausend Hügel. Ich könnte nicht zufriedener sein.

Das Land der tausend Hügel

Rwanda uri nziza.

Ruanda, du bist so schön.

Nabagutuye ni beza.

Und deine Menschen auch.

Nzagukunda, nza kurata.

Ich werde dich lieben und stolz machen.

I am new in this town.

Ich bin neu in deiner Stadt.

Fresh from my town.

Frisch aus meiner Stadt.

Could you show me your town?

Zeigst du mir deine Stadt?

RWANDA URI NZIZA – RADIO, URBAN BOYZ, DREAM BOYZ, RIDERMAN

Ich wische mir den Schweiß von der Stirn, während die andere Hand das Holz über mir festhält. Auf meinem Kopf befindet sich ein Stapel von drei Brettern, die ich versuche, ausbalanciert zu transportieren und dabei noch so auszusehen, als ob ich das schon immer getan hätte.

Attitude – Attitude! Kann ja wohl nicht so schwer sein, sage ich mir. Ich habe mir diese sehr effektive Methode von den Ruandern abgeschaut und seither immer wieder angewendet. Hier im Dorf beobachte ich jeden Tag, welche unglaublichen Dinge die Ruander auf ihren Köpfen transportieren: schwere Säcke oder auch mal ganze Kleiderschränke. Es ist eine gute Methode, nur die Übung fehlt mir noch ein wenig.

In meiner Nähe bleiben zwei ruandische Frauen stehen und sehen mir überrascht zu. Sie tragen beide jeweils ein bequemes T-Shirt und einen farbenfrohen ruandischen Stoff (Kitenge), der als knöchellanger Rock um die Hüfte gebunden ist. Ein recht typisches Outfit für die eher dörfliche Gegend von Gisenyi. Auf ihren Köpfen befinden sich kiloschwere Körbe mit Obst und Gemüse, mit welchen sie wahrscheinlich gerade auf dem Weg zum nächsten Markt sind. Eine von ihnen trägt ein Baby auf dem Rücken, welches ebenfalls mit einem weiteren Tuch fest eingebunden ist. Nur der kleine Kopf und die Füße sind zu sehen. Es guckt recht zufrieden über das Tuch in unsere Richtung. Ich habe sehr viel Respekt vor diesen Frauen, denn sie arbeiten hart und tragen jeden Tag schwere Körbe viele Kilometer weit zum Markt. Die beiden Frauen murmeln sich leise etwas zu, während sie mich beobachten. Beim Vorbeilaufen lächle ich ihnen nett – und ein wenig verzweifelt – zu.

»Courage, Courage!«, ruft mir eine der beiden Frauen entgegen und feuert mich damit buchstäblich an. Ich scheine nicht alles falsch zu machen.

Meine Arbeitskollegin Diane läuft knapp hinter mir und trägt eine große Tüte mit Nägeln, Schrauben, einem Hammer und anderem Heimwerkermaterial. Sie hat mich nur kopfschüttelnd angeschaut, als ich sie darum bat, mit mir Bretter für meine neuen Wandregale zu besorgen. In eine Situation wie diese gerate ich mit Diane gefühlt fünf Mal am Tag. Zwar bin ich schon knapp einen Monat in Ruanda, doch bei den kleinsten, alltäglichen Dingen brauche ich immer noch Hilfe.

Diane, wie viel kostet das? Diane, wo kaufe ich Nägel? Diane, was heißt das auf Kinyarwanda? Diane, wann fährt der Bus an die Brasserie? Diane, wo gibt es die beste Bar? Diane, Diane, Diane?! Ohne Diane hätte sicher alles deutlich länger gedauert.

Mit einer Seelenruhe zeigt und erklärt sie mir wirklich alles, egal wie bescheuert meine Frage auch sein mag. Ich schätze mich sehr glücklich, dass ich in einem Land wie Ruanda gelandet bin, in welchem Hilfsbereitschaft als Selbstverständlichkeit gilt. In dem ich als weiße Deutsche sehr willkommen bin. Das erleichtert mir den Alltag hier tagein, tagaus. Ich kann mir nur am Rande vorstellen, wie hart es sein muss, in einer Gesellschaft anzukommen, in der die meisten Menschen »Fremden« gegenüber abgeneigt sind. In der man nicht willkommen ist oder sich nicht willkommen fühlt.

In meine Gedanken versunken, stolpere ich über ein Schlagloch in der Straße, und die Bretter auf meinem Kopf wanken gefährlich von rechts nach links.

»Sorry, sorry! «, ruft Diane mir von hinten zu, »alles okay?«

Verwirrt antworte ich ihr: »Du musst dich nicht entschuldigen, war doch mein eigener Fehler!«

Nun sieht Diane verwirrt aus. »Aber es tut mir doch leid, dass du fast gestolpert bist?!«

Ich bin zwar überrascht über diese Perspektive, aber sie macht Sinn. Ein schöner Gedanke, sich empathisch bei mir zu entschuldigen, weil ich zu blöd war, ein Schlagloch zu sehen. Gefällt mir.

Bei Kleinigkeiten wie diesen stelle ich wieder einmal fest, wie viele Dinge ich lernen musste und noch werde lernen müssen, seit ich in einem mir fremden Land unter noch fremden Menschen lebe. Und ich bin mir sicher, dass dies auch noch lange so weitergehen wird. Es beginnt schon bei alltäglichen Kleinigkeiten wie öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Einkaufen oder dem Umgang mit gesellschaftlichen Normen. Schon im ersten Monat sind unglaublich viele Eindrücke auf mich eingeprasselt. Von der Hauptstadt Kigali kam ich in die Provinz nach Gisenyi. Die unterschiedlichsten Leute habe ich schon kennengelernt. In meiner neuen Rolle als Freiwillige an meinem Arbeitsplatz musste ich lernen, mich zurechtzufinden. Die Orientierung in meinem neuen Umfeld zu behalten. Die neue Sprache. Die neue Kultur, die ich erleben und verstehen sollte. Es war so viel auf einmal, dass ich mich an die Ereignisse der letzten Wochen nur schwer erinnern kann. Wie ein schwarzes Loch in meiner Erinnerung. Ich glaube, die damit verbundenen Schwierigkeiten, sich in einem neuen Land zurechtzufinden, nennen viele bei uns »Kulturschock«. Ich war nicht geschockt. In meinem Fall ist eher das Gegenteil eingetreten. Natürlich gab es viel Neues, aber mir fiel es trotzdem leicht, mich in Ruanda zurechtzufinden. Ich habe mich von Beginn an wohlgefühlt. Irgendwie wie ein verlorenes Kind, das endlich nach Hause gefunden hat. Natürlich haben Menschen wie Diane unterstützend dazu beigetragen. Die Menschen in Ruanda gaben mir sofort das Gefühl, dazuzugehören.

Doch ich führe es nicht nur auf die Willkommenskultur Ruandas, sondern auch auf meine positive Grundeinstellung zurück. Verbunden mit einer schier endlosen Bereitschaft zu lernen. Ich war neugierig auf das, was mich hier erwarten würde. Ich wollte alles kennenlernen, alles verstehen. Wer Negatives erwartet, wird definitiv Negatives finden! Wenn ich nicht lernen will, werde ich niemals Hürden hinter mir lassen. Seit meinem ersten Tag hier versuche ich also mit der notwendigen Offenheit, vieles so umzusetzen wie die Ruander. Auch wenn es mir aus meinem Blickwinkel oft neu oder manchmal komisch erscheint, springe ich immer wieder über meinen Schatten. Wenn ich es nicht versuche, darf ich auch nicht urteilen! Und um ehrlich zu sein, hat das meine naive westliche Perspektive in kürzester Zeit auf den Kopf gestellt.

Wir nehmen eine kleine Abkürzung, die von der Hauptstraße zu meinem Haus, aber leider rasant bergab führt. Das forderte doch einige Skills von mir, denn ich habe Flip-Flops an sowie Bretter auf dem Kopf. Mit Dianes Vorwarnungen vor Stolpersteinen sind wir ganz gut durchgekommen und konnten gleichzeitig noch die wunderschöne Aussicht auf den Kivusee unter uns genießen. Dieser erstreckt sich unzählige Kilometer in die Ferne, bis man am Horizont ganz schwach die Gebirge des gegenüberliegenden Kongo sehen kann. Durch seine Vulkangebirge ist Ruanda auch bekannt als das »Land der tausend Hügel«. Und diese Beschreibung passt wie die Faust aufs Auge. Doch mit den Brettern auf dem Kopf und zu Fuß wünsche ich mir gerade, es wären vielleicht nur hundert Hügel anstatt tausend.

Ich blicke auf den Weg vor mir, der sich langsam ins Tal zum Ufer hinschlängelt. Die Gegend, in der ich jetzt in Ruanda wohne, ist recht ländlich. Der Weg besteht aus derselben gräulich-schwarzen Vulkanerde, die das gesamte Gebiet hier bedeckt und die Pflanzen nur so sprießen lässt. Das kann ich bezeugen, denn mein vor zwei Wochen gesätes Basilikum hat in kürzester Zeit die Höhe eines Basilikum-Busches erreicht.

Ich habe die Abkürzung nicht nur aufgrund der verkürzten Strecke gewählt, sondern auch, weil ich es liebe, mich auf diesem Weg nach unten zu schlängeln. Man läuft durch Felder, an Gärten und Häusern vorbei. Manchmal muss man auch durch einen Vorgarten laufen. Dort trifft man dann meistens Menschen an, die herzlich grüßen.

Die geteerte Straße am Ufer ist nun in Sichtweite, und ich bin froh, dass ich bald wieder stabilen, ebenen Boden unter mir haben werde. So langsam werden meine Arme und die Bretter recht schwer.

Als wir die Abzweigung erreichen, entdecke ich am rechten Straßenrand vier meiner Nachbarskinder, die in der Hocke im Gras sitzend Zuckerrohr kauen. Ich lächle ihnen zu, als wir vorbeigehen. Ich habe mich zwar schon mehrmals auf Kinyarwanda vorgestellt, aber immer noch sind die Kinder ein wenig unsicher, was sie von der neuen weißen Nachbarin halten sollen. Jetzt gerade sitzen sie nur dort am Straßenrand und beobachten kauend, wie Diane und ich vorbeiziehen, aber eigentlich weiß ich genau, was gleich passieren wird.

»Muzungu, give me all your money«, ertönt es dann endlich, als ich schon fast vorbeigelaufen bin. Die anderen drei Geschwister kichern vor sich hin. Dies ist der einzige Satz, den der Kleine bisher auf Englisch sagen kann. Und der kommt fast immer, wenn sie mich sehen.

»Ich habe nichts. Überhaupt gar kein Geld!«, rufe ich den Kindern auf Kinyarwanda zu.