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Band 158

 

Halle der Baphometen

 

Arno Endler

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog: Demut im Angesicht der Schöpfung

1. Über den Wert echter Gespräche

2. Je heißer die Flamme, desto schneller geht das Feuer aus

3. Die perfekte Einheit von Dasein und Aufgabe

4. Nie wieder Pizza Funghi

5. Im Auge des Sturms

6. Die Bitte einer Toten

7. Im Namen der Meister und für die Meister

8. Wenn man dem Tod begegnet

9. Eine Entscheidung aus dem Bauch heraus

10. Da ist nur Stille

11. Ilt-Humor ist nicht jedermanns Sache

12. In einer zärtlichen Wolke

13. Die Verbundenheit dieser eingeschworenen Gemeinschaft

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit erschließt er der Menschheit den Weg zu den Sternen.

In den Weiten der Milchstraße treffen die Menschen auf Gegner und Freunde; es folgen Fortschritte und Rückschläge. Nach 2051 wird die Erde unbewohnbar, während Milliarden Menschen an einen unbekannten Ort umgesiedelt werden.

Der Schlüssel zu den seltsamen Ereignissen liegt in der Galaxis Andromeda. Dorthin bricht Perry Rhodan im modernsten Raumschiff der Menschheit auf. Anfang 2055 gelangt die MAGELLAN am Ziel an.

Mit jedem System, das die Menschen erkunden, erfahren sie mehr über die Situation in Andromeda. Insbesondere die mysteriösen Meister der Insel spielen eine zentrale Rolle. Im Trisystem stößt Rhodan auf den Planeten Gleam – dort kommt es zur folgenschweren Begegnung in der HALLE DER BAPHOMETEN ...

Prolog

Demut im Angesicht der Schöpfung

 

Oberleutnant Bookwood

 

Ein Summen irritierte Charles Bookwood. Rechts auf Ohrhöhe. Eine Fliege? Es gibt keine Insekten in meiner Space-Disk. Vielleicht irgendwo in der MAGELLAN. Aber nicht hier. Der Oberleutnant verkniff sich ein Handwedeln, betrachtete den Anflugvektor. Er bemerkte die ungewohnte Enge im Cockpit der umgebauten Space-Disk schon nicht mehr. Drei Testflüge innerhalb des HAFENS waren zur Zufriedenheit verlaufen. Einziges Manko blieb die trockene Luft. Die Atmosphärenkontrolle spielte der Zwei-Mann-Besatzung gelegentlich einen Streich, vermutlich wegen der Abwärme der Zusatzaggregate. Es roch dann schwach metallisch oder elektrisch, je nachdem, ob man Bookwood oder Garenni befragte.

Der Oberleutnant nahm den Geruch weiterhin wahr. Seine Augen tränten leicht, sein Mund trocknete aus. Er konzentrierte sich dennoch auf die Flugdaten, verlangsamte nicht einmal die Geschwindigkeit, als das riesige Hangarschott mit der römischen Ziffer IV den Weg frei gab. Er wusste, dass Deringhouse und die übrige Besatzung in der Zentrale das Ausschleusungsmanöver aufmerksam verfolgten. Bookwood korrigierte minimal den Kurs seiner Space-Disk und beobachtete gleichzeitig das Beiseitegleiten der Schotthälften.

Garenni atmete laut ein und aus. »Alle Werte sind grün, Sir. Die Zusatzkonverter arbeiten perfekt. Wir sind bereit.«

Der einzige Begleiter auf dieser freiwilligen Mission saß vor seiner Kontrollstation und begutachtete die technischen Daten.

Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatten Chefingenieur Schablonski und seine Technikerteams die Space-Disk in ein wahres Energiewunder verwandelt. Nun erzeugten die zusätzlichen Aggregate beinahe so viel Energie wie ein 200-Meter-Raumer, und die Schutzschirme verfügten über ähnliche Kapazitäten. Dies ging allerdings zulasten des Platzangebots. Aber die Erfahrungen, die man beim Umbau der ASSEL gemacht hatte, waren alle in den die SD 33 eingeflossen. Selbst die kleine Zentrale auf Deck 1 war um die Hälfte verkleinert worden. Man musste krabbeln, um durch die neuen Aufbauten zu den Plätzen zu gelangen.

Im Sitz des Piloten waren alle diese Einschränkungen vergessen. Bookwood grinste zufrieden. Er freute sich auf den Kommandoeinsatz. Besser als die ewigen Übungen, Tests und Routinearbeiten. Ein unbekanntes System. Endlich. Dafür bin ich mit dabei.

Er beschleunigte die Space-Disk im Nahbereich vor der inzwischen nur noch energetisch gesicherten Beibootschleuse und jagte auf das erste, innere Prallfeld zu. Es fiel rechtzeitig in sich zusammen und baute sich hinter dem ausfliegenden Beiboot sofort wieder auf, um das Entweichen der Hangaratmosphäre auch bei dieser Art der Schnellausschleusung so gering wie möglich zu halten. Das zweite, weltraumseitige Prallfeld wurde bereits vonseiten der Zentrale desaktiviert.

Garenni deutete nach vorn. Hellblaue Schlieren entstanden, die allerdings nur kurz zu sehen waren. »Was war das?«, fragte der Leutnant.

»Eine Wechselwirkung der Magnetfelder mit unserem Schutzschirm?«, vermutete Bookwood. Er fühlte sich plötzlich doch nicht mehr so zuversichtlich. Die Mission war nicht ungefährlich. Genau das hatte man stets betont, als Kommandant Deringhouse nach Freiwilligen gesucht hatte. »Ich bin jetzt hier«, murmelte Bookwood, wie um sich Mut zuzusprechen.

Im freien Raum bot sich ihnen ein perfekter Blick auf das Trisystem, das die MAGELLAN während der Annäherung nun schon seit zwei Tagen beobachtete.

Dabei konnte man die Magnetare mit bloßem Auge nicht sehen, dafür waren die Neutronensterne viel zu winzig. Aber die Bilder der Röntgen- und Magnetwellen, die im System tobten, beeindruckten dennoch jeden. Je nach Wahl des anzuzeigenden Spektrums wirbelten Farben entlang der Gravitationslinien. Ein verrückter Maler, der sich im Weltall austobte. Schlieren, Verläufe, ein unfertiges Gemälde, ein stetiges Werden und Vergehen.

Wunderbar, dachte Bookwood. Er wendete die Space-Disk, sodass Garenni und er die MAGELLAN in Augenschein nehmen konnten.

Das Gigantschott des Hangars schloss sich bereits wieder. Am Schutzschirm blitzte es gelegentlich auf, was dem riesigen Raumer eine Art Glitzerkleid verpasste. Ein grellgelber, mehrere Hundert Meter langer Lichtbogen entstand am unteren Pol.

Bookwood runzelte die Stirn. »Die Kräfte in diesem System sind stärker als alles, was wir bislang in Andromeda angetroffen haben.«

Garenni pflichtete ihm bei. »Oh ja, Sir. Ich hoffe mal, unser Baby hält.«

»Das wird es, Garenni, das wird es. Ich habe volles Vertrauen in Darnells und Schablonskis Arbeit. Wir sind so sicher, wie wir es nur sein können. Nehmen wir mal Kontakt zur MAGELLAN auf. Ein kurzer Statusbericht, bevor wir uns ins Abenteuer stürzen.«

 

 

Josue Moncadas

 

Nach wie vor fühlte sich Josue Moncadas unwohl zwischen all den Menschen, die in der Zentrale der MAGELLAN arbeiteten. Zusammen mit Sue Mirafiore, John Marshall und Tani Hanafe beobachtete er das emsige Treiben. In ihrer Mutantenlounge waren sie zwar niemandem im Weg, blieben jedoch ein stilles und in Moncadas' Vorstellung nutzloses Publikum.

Auf der leicht erhöhten Kommandobühne saßen Perry Rhodan und Conrad Deringhouse. Reginald Bull stand, wie es seiner impulsiven Mentalität entsprach. Alle drei musterten die wechselnden Anzeigen des Holodoms. Sie diskutierten die weitere Vorgehensweise.

Moncadas wandte den Blick ab, tastete nach dem Narbengewebe in der Mitte seiner Brust. Es beruhigte ihn, das Kreuz zu fühlen – Erinnerung und Mahnung an eine schreckliche, verblendete Zeit in seinem Leben. Allerdings blieb der Trost, ein warmes Gefühl, welches er genoss und benötigte.

»Hey! Schläfst du?«, fragte Sue Mirafiore, die ihn leicht in die Seite geknufft hatte.

»Nein.« Moncadas sah sie an, bemerkte die Regung irgendwo in seinem Geist. Etwas, was er schlecht beschreiben konnte. Man musste es selbst erlebt haben, doch außer ihm gab es niemanden, der das Ich, die Seele eines anderen ständig mit sich führte. Sid González verhielt sich still, und dennoch war er da. Wie immer, wenn Mirafiore in der Nähe war. Moncadas spürte Sids Gegenwart wie einen Splitter im Finger, solange man ihn nicht berührte. Kein Schmerz, vergleichbar jedoch mit einem dumpfen Pochen, das sich nicht ignorieren ließ. Moncadas senkte den Arm. »Ich weiß gar nicht, was wir hier sollen. Wir könnten genauso gut trainieren oder einfach warten, bis es einen Einsatzbefehl gibt.«

Mirafiore legte ihre Hand auf seine. »Es ist ein Magnetarsystem, Josue. Rhodan braucht unsere Fähigkeiten. Wir sind wichtig.«

»Wir hocken hier auf dem Präsentierteller wie Zootiere«, beschwerte sich Moncadas. »Ich wüsste nicht, wobei wir helfen könnten.«

Ein Ausschnitt des Holodoms wechselte zu einem Livebild von der speziell aufgerüsteten Space-Disk SD 33, die soeben ausgeschleust hatte. Es präsentierte eine Außenansicht der MAGELLAN. War zunächst noch eine dunkle Wand zu sehen, schälte sich mit wachsender Entfernung die Silhouette des gewaltigen Raumschiffs heraus.

Der Kommandant der Disk meldete sich. Aus den Akustikfeldern ertönte seine Stimme, als stünde er direkt in der Zentrale. »Bookwood hier, Sir. Die Zusatzaggregate arbeiten hervorragend. Ich werde uns gleich tiefer in das Trisystem bringen.«

Deringhouse nickte. »Machen Sie das, Oberleutnant. Immer einen Schritt nach dem anderen. Die Daten sind wichtig für uns. Aber wir wollen kein unnötiges Risiko eingehen.« Der Kommandant der MAGELLAN machte eine kurze Pause. »Übrigens: vielen Dank für die tollen Bilder. Ich sehe mein Schiff selten im Vollformat.«

Bookwoods Stimme klang ein wenig stolz. »Danke, Sir. Wir beobachten Elmsfeuer, die am Schutzschirm aufflackern. Außerdem Blitze, beinahe sekündlich, verteilt über das gesamte Rund der Energieblase.«

Moncadas sah die hektische Bewegung von Doktor Leyden. Der Chefwissenschaftler saß vor einer der Arbeitsstationen, Belle McGraw neben sich.

Das exzentrische Genie drehte seinen Sessel und rief in Rhodans Richtung: »Auch wenn wir noch nicht über alle Daten verfügen, kann ich bereits jetzt sagen, dass die Magnetfelder der Neutronensterne das ganze System fluten. Wir sind in der augenblicklichen Position nur den Ausläufern der Wellen ausgesetzt. Das erzeugt die Elmsfeuer. Keine Gefahr für die MAGELLAN. Der Schutzschirm hält.«

Rhodan nickte Leyden zu. »Danke, Doktor. Dann sorgen wir mal dafür, dass Sie weitere Messwerte erhalten.«

Deringhouse gab Oberleutnant Bookwood den Befehl zum Aufbruch.

Die Anzeige der Holokuppel wechselte abermals, und Moncadas konnte das Verschwinden der Disk beobachten.

In der aufkommenden Stille versank auch der Mutant wieder in seiner eigenen Gedankenwelt. Er wartete auf die berauschende Wirkung der elektromagnetischen Strahlung, die von den Magnetaren ausgehen musste. Doch da war nichts. Zumindest keine wahrnehmbare Veränderung. Vielleicht sind wir noch zu weit weg, dachte Moncadas.

Ach, Monk, antwortete die Stimme, die ausschließlich Moncadas in seinem Geist hörte.

Du sollst mich nicht so nennen. Ich bin dieser Mensch nicht mehr.

Sid González schwieg daraufhin. Seine Präsenz fühlte sich dennoch wie ein Kitzeln an. Nur dass Moncadas sich genau dort nicht kratzen konnte. Unruhig veränderte er seine Sitzposition, strich seine Haare auf dem Handrücken zurecht und ignorierte die bohrenden Blicke von Mirafiore.

Noch bevor sie sich zu einer Frage durchrang, erteilte Deringhouse den Befehl, der Space-Disk näher an das Trisystem zu folgen. Offenbar hatte die Datenauswertung keine Gefahr für die MAGELLAN ergeben.

Kurz darauf vollführte das gewaltige Raumschiff den Kurzsprung.

Ein unangenehmes Ziehen im Nacken ließ Moncadas aufseufzen, doch es verging schneller als üblich. Vielleicht eine Auswirkung der Magnetarstrahlung?, vermutete der Mutant. González schwieg weiterhin.

Im Holodom bildete sich eine semischematische Anzeige. Über die tatsächlichen Bilder des Trisystems legten sich Linien, Pfeile und rotierende Flächen.

Moncadas sah, wie Leyden aufstand und direkt an die holografische Darstellung trat. Der Hyperphysiker deutete mit dem Arm auf die hervorgehobenen Punkte. »Es ist unglaublich«, sagte er laut. »Um den Magnetar im Zentrum des Systems kreisen zwei weitere Magnetare. Dabei bilden die drei Neutronensterne eine perfekte Linie. Das kann kein Zufall sein. Ein solches System formiert sich nicht einfach so. Wenn Sonnen kollabieren, tun sie es sicherlich nicht gleichzeitig. Jeder Magnetar hätte zunächst die übrigen Sonnen des Systems verschluckt.«

Rhodan hielt es nicht mehr in seinem Sitz. »Sie meinen also, dass jemand diese Magnetaranordnung künstlich geschaffen hat?«

»Ohne Zweifel, Protektor. Es ist keine andere Genesis denkbar.«

Moncadas spürte, wie sich die Haare auf seinen Armen aufstellten. Der Anblick dieser Schwerkraftmonster ließ ihn frösteln. Rote Fächer fegten im Nahbereich der Magnetare umher, als säuberten sie die Leere zwischen ihnen. Moncadas wusste um die Kräfte, die ein Raumschiff, gleich welcher Größe, dort in Sekunden zu einem Schrotthaufen pressen konnten. Er brauchte keine stilisierte Anzeige der Gravitationsverwerfungen. Er fühlte die Energien, wollte nach ihnen greifen, sie lenken und nutzen. Im selben Moment kam es ihm in den Sinn, wie vermessen es von ihm war, diese Mächte beherrschen zu wollen.

Demut, besann er sich. »Ich muss demütig sein.«

»Was meinst du, Josue?«, fragte Mirafiore neben ihm leise.

Da wurde ihm bewusst, dass er laut gesprochen hatte. Er schämte sich ein wenig, drängte den Gedanken beiseite und flüsterte zu Mirafiore, sodass nur sie es hören konnte, sonst niemand. »Ich sagte, dass wir Demut zeigen sollten. Demut im Angesicht der Schöpfung.« Er schaute in Richtung des Holodoms.

Mirafiores Stirnrunzeln fiel ihm auf, aber er ignorierte es. Sie atmete tief durch. »Jemand sehr Mächtiges hat das Trisystem zu einem bestimmten Zweck gebaut«, entgegnete sie. »Von Schöpfung würde ich da nicht sprechen.«

»Keine Angst«, wiegelte Moncadas ab. »Ich verfalle nicht wieder in alte Verhaltensmuster. Dennoch beeindruckt mich das, was ich sehe. Wenn die Meister der Insel zu so etwas fähig sind, haben wir ihnen nichts entgegenzusetzen. Absolut nichts.«

Mirafiore schwieg einen Moment. Bevor sie zu einer Erwiderung ansetzen konnte, verkündete Leyden, dass sie es bei dem Dreigestirn vor ihnen nicht mit einen Sonnentransmitter zu tun hatten.

Rhodan stellte die Frage, die auch Moncadas auf der Zunge lag. »Wenn kein Transmitter, Doktor, warum dann diese Konstruktion? Drei Magnetare in einer Linie? Gewaltige Energien, würde ich meinen. Für welchen Zweck?«

»Ich weiß es nicht, Protektor«, antwortete der Chefwissenschaftler. »Wir brauchen mehr Daten. Die Scans werden durch die Energiemengen gestört. Wir vermuten, dass es innerhalb des Systems eine Kontrollstation gibt. Diese wird uns Aufschluss darüber geben, wozu die Meister der Insel dieses Trisystem nutzen. Vielleicht könnte Oberleutnant Bookwood mit seiner Space-Disk eine komplementäre Position im System einnehmen. Es dürfte die Ergebnisse verbessern, wenn wir die gemessenen Daten miteinander korrelieren können.«

»Conrad?«, fragte Rhodan.

Deringhouse bestätigte und gab einige Befehle, denen Moncadas schon nicht mehr zuhörte.

Ich bin so weit weg von der Heimat, ging es ihm durch den Sinn. Es muss einen Grund dafür geben, warum ich all diese Wunder erfahre. Wieso bin ich hier? Weshalb wurde ich mit den Parafähigkeiten ebenso gesegnet wie verflucht? Ich verstehe es nicht. Moncadas stemmte sich aus dem Sessel.

Mirafiore packte ihn am Arm. »Wohin willst du?«

Sie möchte nur in der Nähe von Sid sein. Ich bin ihr vollkommen egal. »Ich weiß nicht.«

»Dann bleib.«

»Wieso, Sue?« Heftiger als beabsichtigt riss er seinen Arm los. Sofort bedauerte er seine Reaktion.

John Marshall stand plötzlich neben ihm. »Was ist los, Josue?«

»Nichts, John.« Moncadas spürte die Blicke der anderen Mutanten wie Nadelstiche. Sue Mirafiore, Tani Hanafe, John Marshall, jeder auf seine Art mit einer Gabe beschenkt. Sie waren so ungewöhnlich, so perfekt. Genau wie die in Position gehaltenen Magnetare, deren Nutzen bislang unbekannt war. Nur er, Josue Moncadas, fühlte sich nicht einzigartig, denn in seiner Seele schwebten zwei Individuen. Dabei war es vollkommen egal, dass Moncadas den Körper beherrschte. Niemals allein, immer in dem Bewusstsein, dass Sid González in ihm war, wohin er nicht gehörte. »Ich bin wohl müde«, antwortete er Marshall. »Vielleicht sollte ich mich schlafen legen, bevor es auf einen Einsatz geht.«

Der langsam ergrauende Mentor der Mutanten sah Moncadas nachdenklich an. »Du spürst die Auswirkungen der Magnetarstrahlung viel deutlicher als wir, Josue. Es sind deine Fähigkeiten, die dich dafür empfänglich machen. Lass uns an deinen Erfahrungen teilhaben.«

»Da gibt es nichts«, behauptete Moncadas. Er erschrak, als Rhodan unerwartet zu ihnen trat.

»Was ist los? John?«

Marshall schien beinahe Haltung anzunehmen. Es war die Ausstrahlung des Protektors, die diese Wirkung selbst auf viele alte Weggefährten hatte. »Da ist etwas, Perry. Ich denke, jeder paranormal Begabte spürt es.«

»Und was?«

Marshall zuckte mit den Schultern. »Die Strahlung. Die Energie. Ich kann es nicht beschreiben. Vielleicht du, Josue?«

Rhodan sah Josue Moncadas auffordernd an.

»Mir fehlen ebenfalls die Worte, Perry«, sagte Moncadas. »Aber ich weiß, dass in diesem System Energien auf uns warten, die wir nutzen können. Es ist ein Ort, an dem Paranormales so alltäglich ist wie Schnee auf den Bergen. Zwar erhalte ich kein klares Bild davon, und obwohl ich es nicht exakt definieren kann, spüre ich dennoch die Kraft. Irgendwo zwischen den Magnetaren. Da ist ein Zentrum, ein Kulminationspunkt.«

»Du machst mich neugierig.« Rhodan lächelte ihn an.

»Es ist so anders als auf Etrinon«, sinnierte Moncadas, »oder Anonymous. Es ist wirklich ein Ort, den man nur mit dem nötigen Respekt betreten sollte. Ich spreche dabei nicht von einer Bedrohung, sondern ...« Er brach ab.

»Demut im Angesicht der Schöpfung«, ergänzte Sue Mirafiore. Sie schenkte ihm ein Augenzwinkern.

Rhodan legte seine Hand auf die Schultern von Moncadas und wandte sich dann an die Runde: »Ich denke, wir alle haben eine Aufgabe.« Er ging zurück zu Deringhouse, der mit Leyden über die beste Position der MAGELLAN stritt.

»Wir brauchen einen besseren Überblick«, beschwerte sich der Chefwissenschaftler. »Die Felder stören unsere Ortung. Wir benötigen mindestens vier verschiedene Messpositionen, um die Daten miteinander vergleichen zu können.«

Deringhouse winkte ab. »Sie suchen nach einer Station? In dieser Gravitationshölle? Daran glaube ich nicht. Es wäre ein wahres Wunder.«

»Dieses artifizielle System dient einem Zweck, Mister Deringhouse. Die Meister der Insel nutzen es. Containerzüge transportieren Tonnen von Rohstoffen herbei. Solange wir keine Kontrollstation finden, müssen wir raten. Ich persönlich hasse Raten.«

»Sie stochern im Dunkeln, Doktor Leyden«, warf ihm der Kommandant vor. »Das ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, nur dass der Bauer ständig das Heu wendet.«

Rhodan mischte sich ein. »Aber irgendwohin müssen die Containerzüge doch unterwegs sein. Vielleicht sollten wir in einer breit angelegten Suchaktion das Trisystem durchkämmen.«

»Das ist ein Risiko für die Besatzung«, gab Deringhouse zu bedenken.

»Dann nehmen wir die FERNAO und Bookwoods Disk. Schon sind wir zu dritt und teilen das Risiko auf, Conrad. Die FERNAO hat so ein Magnetarsystem bereits überlebt.«

»Diesmal sind es jedoch gleich drei von diesen Monster-Neutronensternen. Aber ich verstehe, worauf du hinauswillst, Perry. Uns läuft die Zeit davon.«

Moncadas hörte nicht weiter zu. Er schaute zur holografischen Darstellung der Magnetare und deren zerstörerischer Strahlung. Die Magnetstürme tosten durch das System. Sie überlappten sich, flossen ineinander, lösten sich unvorhersehbar auf. Ein Tanz der Teilchen, von elektromagnetischen Wellen choreografiert. Es fehlte lediglich die Musik. Er mochte nicht mehr hinsehen, schloss die Lider, aktivierte seinen Parasinn, fühlte die Energien der Zuleitungen zu allen Geräten in der Zentrale. Vor seinem geistigen Auge bildete sich ein Gespinst aus dünnen und dickeren Linien, je nach Energiestärke. Vorsichtig griff Moncadas ein, optimierte mit seiner Interruptorgabe die Verteilung, entwirrte Engpässe und half so der Schiffspositronik, ohne dass sie es registrierte.

Es tat gut, etwas zu tun, dessen Bedeutung er erkannte. Josue Moncadas brauchte dieses Gefühl. Er begutachtete sein Werk und nahm die Schönheit wahr. Wo genau liegt der Sinn meines Lebens? Muss ich ewig ein fremdes Bewusstsein in mir tragen? Wie so oft, wenn er diesen Gedanken hatte, blieb González stumm. Warum bist du so schweigsam?

Doch sein Begleiter ließ sich nicht locken.

Moncadas öffnete seine Augen und sah, dass Mirafiore und Hanafe gegangen waren. Nur Marshall stand noch da und musterte ihn mit kritischem Blick. »Wieder da, Josue?« Er lächelte unvermittelt.

»Ja. Und ich bin froh, Teil dieser Gemeinschaft zu sein.«

»Was meint Sid dazu?«, fragte Marshall.

»Er schweigt«, antwortete Moncadas. »Manchmal ist er mir zu mitteilsam. Hier und jetzt verweigert er sich.«

»Aber er ist noch da?«

Moncadas horchte in sich hinein. »Ich denke schon.«

»Ich wünschte, ich könnte euch helfen.« Mehr äußerte Marshall nicht.

Dennoch wusste Moncadas, was Marshall aussparte. John empfand Mitgefühl und gleichzeitig Hilflosigkeit wegen des bizarren Umstands, dass in Moncadas ein zweites Bewusstsein gefangen war. »Ich habe mich daran gewöhnt. Sid und ich sind ein gutes Team.«

»Gut so«, sagte Marshall. »Wir zählen auf euch.« Ein Ruf Rhodans ließ ihn wegsehen. »Ich komme.«

Plötzlich stand Moncadas allein vor den Sitzen der Mutantenlounge. Niemand in der Zentrale schien ihn zu beachten. Sein Wunsch, zu gehen, war vollkommen verschwunden. Wie fremdgesteuert setzte er sich wieder in einen Sessel, sank förmlich hinein und sein Blick wanderte automatisch zurück zum Holodom. Willst du nicht auch wissen, was dort ist, Sid?, fragte er gedanklich seinen blinden Passagier. Willst du nicht auch erfahren, wer zu so etwas fähig ist?

González schwieg beharrlich. Und doch spürte Moncadas eine Unruhe, die nicht von ihm selbst stammte. Was geht in dir vor? Und was beschäftigt dich so sehr, dass du es nicht schaffst, es gänzlich vor mir zu verbergen?

Sid González blieb stumm.

Die MAGELLAN beschleunigte unmerklich, was Moncadas an den veränderten Bildern der Holoprojektoren erkannte. Offenbar hatten sich Leyden und Deringhouse auf ein Vorgehen geeinigt.

In seinem Magen rumorte es. Hunger, dachte er. Ich muss etwas essen. Er stand auf und verließ die Zentrale. Das Schott öffnete sich für ihn. An den Seiten bildeten sich kleinere Blitze. Die Strahlungsfelder der Magnetare beeinflussten nun, trotz voller Energie auf dem Schutzschirm, das Innere des größten Raumschiffs, das die Menschheit je erbaut hatte.

Josue Moncadas schritt kräftig aus. Er achtete kaum auf den Geruch, der verbranntem Metall ähnelte.

González schwieg weiterhin. Mir egal, schickte Moncadas einen Gedanken an seinen Körpergast. Du wirst dich schon irgendwann wieder melden.

1.

Über den Wert echter Gespräche

 

Herr der Mutarien

 

In die Dunkelheit hinein flossen die lauter werdenden Gesänge eines atonalen Chorals. Wo zuvor nur leise Atemgeräusche zu hören gewesen waren, störte die Musik den Schlaf der Gestalt in der Koje. In die Ecke gepfercht, war es das einzige Möbelstück in der schmucklosen Zelle, deren Beleuchtung sanft zunahm, im Maximum allerdings eher Dämmerlicht entsprach. Der Humanoide unter der dünnen Decke rührte sich. Mit einem Grunzen endete sein Schlaf. Er wälzte sich auf den Rücken, legte einen Arm über die Augen. Sein nahezu kahler Schädel zeigte einige Schweißtropfen. Es duftete süßlich.

Der Choral aus undefinierbaren Stimmlagen unterschiedlicher Tessituren schwoll zu einem Höhepunkt an, um plötzlich zu verklingen. Die Stille in dem knapp vier Quadratmeter großen, fensterlosen Raum schien beinahe greifbar.

»Matera!«, rief der Humanoide, ohne seinen Arm von den Augen zu nehmen. »Matera! Weniger Licht!« Die Wörter, die er verwendete, hätten von der Erde stammen können, Gleiches galt für die Sprachmelodie. Nicht dass seine Wörter tatsächlich einem menschlichen Idiom entstammten, aber man hätte es durchaus für eine unbekannte, terratypische Sprache halten können.

Eine sanfte, hermaphroditische Stimme antwortete aus perfekt synchronisierten Akustikfeldern, die den Eindruck vermittelten, dass noch jemand im Raum stünde. Doch außer dem Humanoiden gab es da niemanden. »Herr der Mutarien? Guten Morgen.«

»Dimme das Licht!«

»Soll ich vom üblichen Tagesablauf abweichen?«, fragte es aus dem Nichts.

Die Person auf dem Bett atmete langsam und bewusst laut. Mit einem Ruck riss sie die Decke zur Seite und setzte sich auf. Gekleidet in einen graubraunen Ganzkörperanzug, der alle Körperpartien bedeckte, mit Ausnahme der Hände und des Kopfs, offenbarte sich, wie sehr der Humanoide einem Menschen ähnelte.

Er saß gebeugt auf der Bettkante und strich mit seinen feingliedrigen Händen über den kahlen Kopf. Dabei hielten die Finger kurz inne, als sie einen Haarfleck am Hinterkopf erreichten. Der Humanoide massierte die stoppeligen, borstigen Reste eines Haarschopfs eingehend und mit sichtlichem Genuss, bevor er die Hände wieder herabnahm. »Matera?«

»Ja, Herr der Mutarien?«

»Der Tagesablauf? Etwas Wichtiges für den heutigen Tag?«

»Falls du die Ankunft ansprichst, gilt dasselbe wie gestern. Mir liegt keine Benachrichtigung vor.«

Der Humanoide seufzte.

»Wie fühlst du dich heute?«, fragte Matera.

»Meine Träume waren bedrückend und befreiend.«

»In diesem Fall würde ich Kan Grog vorschlagen.«

»Gern. Aber bitte erst nach dem Frühstück.«

»Wie du wünschst, Herr der Mutarien.« Wieder erklang Musik aus den Akustikfeldern.

»Nein, nein. Jetzt nicht. Ich komme ja schon.« Der Humanoide schob seine Füße in wadenhohe Stiefel, die unter der Koje gestanden hatten. Er griff nach einem schmutzig dunkel wirkenden Bündel auf dem Boden. Als er aufstand, schüttelte er es aus. Ein Mantel entfaltete sich, den er in einer viel geübten, fließenden Bewegung überzog. Man konnte kaum zusehen, so schnell verschwanden die Arme in den Ärmeln des anthrazitfarbenen, überknielangen Kleidungsstücks.

Im Stehen reichte der Kopf des Humanoiden beinahe bis zur Decke. Er war schlank, mit kräftigen Schultern, und maß rund zwei Meter in der Höhe. Langsam passierte er die Öffnung in der Wand, die den Durchgang zu einem schmalen Flur bildete. Auf eine Tür hatte man beim Bau wohl verzichtet. Dem Humanoiden schien das Fehlen jeglicher Privatsphäre jedoch nichts auszumachen. Er schritt schneller werdend aus, als müsse er sich nach der Ruhephase erst an das Gehen gewöhnen.

Die Decke des Korridors war nicht viel höher als die der Schlafzelle. Es gab keine Markierungen oder Dekorationen, geschweige denn irgendwelche Fenster oder Zugänge zu anderen Gebäudeteilen.

Nur dieser lange Schlauch. Eine graue Einheitsfarbe wirkte in der dämmrigen Beleuchtung verwaschen und leicht verfleckt. Die Tritte des Humanoiden erzeugten keinerlei Geräusche.

In vollkommener Stille ging er bis zum Ende des Flurs, an den sich ein größerer Raum anschloss. Darin wuselte ein etwa ein Meter hoher Klotz auf Rollen umher. Aus den Seiten des metallischen Kastens ragten verschiedene Arme, an denen Werkzeuge, Greifhände und undefinierbare Fortsätze angebracht waren. Der kleine Roboter stellte eine Schüssel auf eine Anrichte, vor der eine Art Hocker stand.

An den Wänden leuchteten wechselnde Landschaftsansichten auf, die, wenn man sie länger eingeblendet hätte, durchaus den Eindruck eines Fensters vermittelt hätten. Doch der Wechsel war rasant.

Den Humanoiden schien dies nicht zu stören. Er setzte sich auf den Sessel ohne Lehne, schwang dabei seinen Mantel nach hinten, der locker bis auf den Boden reichte. Er betrachtete den Inhalt der Schüssel: eine braune, zähflüssige Masse, in der einige festere Brocken schwammen. Vorsichtig führte er die Schüssel zum Mund. Die dicken, vorgestülpten Lippen öffneten sich einen Spalt.

Mit einem lauten Schlürfgeräusch saugte der Außerirdische gleichzeitig Brocken und Suppe auf. Er musste nicht absetzen. Alles verschwand in einem Zug. Er platzierte die Schüssel zurück auf die Anrichte.

Der kleine Roboter sauste heran, griff nach dem leeren Behältnis und nahm es mit.

Der Humanoide stemmte sich hoch, stellte sich aufrecht vor die Wand und betrachtete die wechselnden Szenerien. Er tippte gegen die Bildinstallation. Die zuletzt gezeigte Landschaft blieb daraufhin permanent sichtbar. Eine weite Ebene mit Bergen am Horizont, einem rot eingefärbten Himmel, recht dunkel, keine Sonne war zu sehen. Die spärliche Vegetation wirkte verdorrt im rötlichen Licht. Aber es gab einen See, der durch einen unsichtbaren Wind aufgewühlt wurde. Wellen plätscherten ans Ufer. Verkrüppelte Bäume, teils nur noch aus Stämmen und Ästen bestehend, ragten aus dem Wasser des Uferbereichs.

Der Humanoide betrachtete intensiv die Aufnahme.

»Warum quälst du dich so?«, fragte die Stimme der Matera.

»Ich ...«, begann der Humanoide, verstummte indes und tippte die Wand an. Der wilde Bilderreigen startete erneut. Eine Wüste in Orange, eine Waldlandschaft in Grau, eine Bergszenerie in Rot, ein Platz inmitten von flachen Kubusbauten mit einem Brunnen, aus dessen zentraler, schmuckloser Stele Wasserfontänen entsprangen.

»Es bedrückt mich. Ich ...« Wieder stoppte der Außerirdische seine Erklärung.

»Deine Arbeit wartet, Herr der Mutarien«, sagte die Matera, ohne auf den unterbrochenen Satz einzugehen.

Auf der Wand betrachtete Baar Lun in rascher Folge einige Planetenansichten, aufgenommen aus dem All. Welten, Kugeln oder Murmeln gleich, in unterschiedlicher Färbung und Marmorierung. Manche wurden von einem Mond umkreist, andere trugen Ringe wie Schmuck um die Hüften.

Die Stimme der Matera drängte nun. »Baar Lun. Deine Anwesenheit im Produktionssaal ist notwendig.«

»Ja, Matera. Schalt ab. Ich bin bereit«, bestätigte der Humanoide leise. Mit gesenktem Kopf verließ er den Raum.

 

Die Halle der Kreellmutarien enthielt fünf dieser Maschinen. Achteckige Wannen, um die je ein Dutzend energietragende Ringe schwebten, die während des Schäumens stetig aufstiegen und wieder absanken. Die Seitenwände der Behälter waren fast zwei Meter hoch. Baar Lun hätte sich recken und auf die Zehenspitzen stellen müssen, um einen prüfenden Blick hineinwerfen zu können. Aber das war nicht nötig. Das Schäumen verlief automatisiert. Die Matera überwachte es.

Dennoch war es wichtig, dass Baar Lun anwesend war. Er war der Herr der Mutarien. Mit seiner konstanten Präsenz kontrollierte er den Vorgang. Nichts entging seiner Wahrnehmung. Jeder noch so kleine Fehler musste vermieden werden. Denn seine Werke waren begehrt. Ohne ihn gab es keinen Nachschub.