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Friedrich Wilhelm Graf und
Heinrich Meier (Hg.)

Politik und Religion

Zur Diagnose der
Gegenwart

Mit Beiträgen von
Giorgio Agamben
Robert C. Bartlett
Hillel Fradkin
Gregory L. Freeze
Friedrich Wilhelm Graf
Hans Ulrich Gumbrecht
Jürgen Habermas
Hans Joas
Heinrich Meier
Peter Schäfer

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

„Politik und Religion“ ist wieder ein zentraler Gegenstand der öffentlichen Debatte. Nach langen Jahren, in denen viele Sozialwissenschaftler die Erwartung hegten, der religiöse Glaube werde im Gefolge des „Modernisierungsprozesses“ allmählich ausgezehrt und schließlich absterben, wird heute das „Ende der Säkularisierungsthese“ erörtert. Die Religion erweist ihre Bedeutung für die Politik weltweit im Guten wie im Bösen. Die Meinung, Politik und Religion ließen sich schiedlich-friedlich trennen, hat sich als Illusion herausgestellt. Mit der Religion ist auch in Zukunft zu rechnen, und das heißt mit dem politischen Sprengstoff, den sie in sich birgt.

Das Buch enthält die überarbeiteten und erweiterten Beiträge einer Vortragsreihe der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München, die große Beachtung fand. International renommierte Wissenschaftler und führende Intellektuelle behandeln u.a. die Oszillationen von Politik und Religion in den USA und in Rußland, das lange Streben nach dem Islamischen Staat, das Konzept der Theokratie, Judentum und die Antike. Sie analysieren den Prozeß der Sakralisierung und Entsakralisierung und formulieren grundsätzliche Positionen zur Bestimmung des Verhältnisses von Politik und Religion aus der Sicht der Theologie und der Philosophie.

Mit Beiträgen von Giorgio Agamben, Robert C. Bartlett, Hillel Fradkin, Gregory L. Freeze, Friedrich Wilhelm Graf, Hans Ulrich Gumbrecht, Jürgen Habermas, Hans Joas, Heinrich Meier, Peter Schäfer

Über die Herausgeber

Friedrich Wilhelm Graf, geb. 1948, ist Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München und Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur (32005), Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze (32006), Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen (32013), Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird (2014) sowie Der Protestantismus (32017).

Heinrich Meier, geb. 1953, leitet seit 1985 die Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München und ist Professor der Philosophie an den Universitäten München und Chicago. Bei C.H.Beck liegen von ihm vor: Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus „Rêveries“ in zwei Büchern (2011), Politische Philosophie und die Herausforderung der Offenbarungsreligion (2013) sowie Was ist Nietzsches Zarathustra? Eine philosophische Auseinandersetzung (2017)

INHALT

FRIEDRICH WILHELM GRAF

Einleitung

HANS ULRICH GUMBRECHT

Religion und Politik in den Vereinigten Staaten.
Über die Geschichtlichkeit einer kulturellen Invariante

GREGORY L. FREEZE

Von der Entkirchlichung zur Laisierung.
Staat, Kirche und Gläubige in Rußland

HILLEL FRADKIN

Die lange Suche nach dem Islamischen Staat.
Religion und Politik im Islam und die Dynamik der Gegenwart

ROBERT C. BARTLETT

Religion und Politik in der klassischen politischen Wissenschaft

PETER SCHÄFER

Theokratie: Die Herrschaft Gottes als Staatsverfassung in der jüdischen Antike

GIORGIO AGAMBEN

Archäologie des Befehls

HANS JOAS

Sakralisierung und Entsakralisierung.
Politische Herrschaft und religiöse Interpretation

JÜRGEN HABERMAS

Politik und Religion

HEINRICH MEIER

Epilog
Politik, Religion und Philosophie

Über die Autoren

FRIEDRICH WILHELM GRAF

Einleitung

Versuche gelehrter Deutung von Gegenwartsreligion haben Hochkonjunktur. Nach langen Jahren eines relativ breiten sozialwissenschaftlichen Konsenses, daß infolge des Prozesses der Aufklärung, also durch Rationalisierung und Verwissenschaftlichung immer weiterer Lebenssphären, und durch die fortschreitende «Modernisierung» moderner Gesellschaften Religion zunehmend marginal und allmählich absterben werde, beschwören nun zahlreiche Kultur- und Sozialwissenschaftler das «Ende der Säkularisierungsthese». Auch wenn einige wenige akademische Zeitdiagnostiker das Säkularisierungskonzept verteidigen, ist die neue Einmütigkeit durch die revisionistische Annahme bestimmt, daß viele moderne Gesellschaften keineswegs durch «Säkularisierung», sondern, genau umgekehrt, durch eine bleibende Vitalität des Religiösen und die Rückkehr religiöser Akteure in den öffentlichen Raum geprägt seien. Jürgen Habermas bezeichnet auch offene westliche Gesellschaften seit 2001 gar als «postsäkular». In der Tat lassen sich selbst in den nord- und westeuropäischen Gesellschaften, die aufgrund der Krisen der überkommenen christlichen Volkskirchen als besonders stark «säkularisiert» galten und oft noch gelten, mannigfaltige religiöse Aktivitäten beobachten. Eine neue religiöse Vielfalt und die damit verbundenen Distinktionskämpfe zwischen miteinander rivalisierenden Glaubensakteuren dürften mit der erhöhten medialen Aufmerksamkeit für die Religionsthematik auch das wissenschaftliche Deutungsinteresse gestärkt haben. Doch wie auch immer die religiöse Lage in den verschiedenen europäischen Gesellschaften jeweils zu beschreiben ist – kein seriöser Gegenwartsdiagnostiker bestreitet mehr, daß religiöser Glaube auch zu einem wichtigen Thema politischer Diskurse und Entscheidungsprozesse geworden ist. Denn die oft zu hörende Rede, man könne Religion und Politik trennen, ist falsch. Wenig überzeugend ist auch die nicht selten mit einiger Arroganz vorgetragene Behauptung, daß die demokratischen Staaten «des Westens» und ihre Bürger im Unterschied zu anderen – womit dann zumeist «die Muslime» und die politischen Institutionenordnungen dominant islamisch geprägter Gesellschaften gemeint sind – Religion und Politik erfolgreich unterschieden hätten. Das war und ist keineswegs der Fall. Darum soll es in dieser Einleitung in fünf unterschiedlich langen Schritten gehen: Als entschieden liberaler theologischer Anwalt von Aufklärung und weltanschaulich neutralem Staat skizziere ich zunächst den Eigensinn religiösen Bewußtseins, seine unaufhebbare Ambivalenz und seine notorische Gefährlichkeit. Sodann geht es um die religionspolitische «Governance» des säkularen Staates. Drittens beschreibe ich die hohe institutionelle Vielfalt des liberalen Trennungsmodells in Europa. Viertens weise ich kurz auf die theokratische Versuchung hin, die sich derzeit keineswegs nur bei muslimischen oder orthodox-jüdischen Akteuren, sondern auch bei einer wachsenden Zahl von christlichen Religionsintellektuellen beobachten läßt. Fünftens geht es dann noch um die großen Schwierigkeiten frommer Unbedingtheitsüberzeugter, den säkularen Staat zu akzeptieren, und um das Alternativprogramm liberaler Religion.

1. Der Eigensinn der Religion, ihre unaufhebbare Ambivalenz und ihre notorische Gefährlichkeit

Moderne Religion zu deuten, ist eine voraussetzungsreiche und analytisch komplexe Aufgabe. Denn moderne Religion ist äußerst vielgestaltig, schillernd und in sich widersprüchlich. Oft fehlen uns Gegenwartsdiagnostikern trennscharfe Begriffe, um den Gestaltwandel religiöser Organisationen und die Transformationen von Glaubensweisen prägnant zu erfassen. Sehr Vieles, vielleicht Entscheidendes in Sachen «moderner Religion» liegt im dunkeln, etwa mit Blick auf die Politisierung religiöser Symbolsprachen und die vielen diffusen Legierungen von «Herrschaft und Heil» (Jan Assmann). Deutlich ist jedoch: Die vielen neuen Formen politisierter Religion, etwa die diversen protestantischen Fundamentalismen oder islamistischen Bewegungen und Gruppen, sind genuin moderne Phänomene – nicht selten Reaktionen auf Erfahrungen von schnellem, als zerstörerisch erlittenem sozialen Wandel, Verwissenschaftlichung und Emanzipation des Individuums aus traditionalen Rollen und Gemeinschaftsbindungen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat in seinen Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Religion von der besonderen mythopoietischen Produktionskraft des religiösen Bewußtseins gesprochen. Religiöses Bewußtsein sei, so Hegel, im Unterschied zum philosophischen Denken in klaren Begriffen nun einmal ein nur «vorstellendes Bewußtsein», das in Bildern schwelgt, Mythen bildet und selbst das Absolute veranschaulicht. Bei Hegel und anderen Klassikern der Religionstheorie um 1800 läßt sich lernen: Religion ist nicht nur Ritus, Kult und dadurch erzeugte Vergemeinschaftung, sondern auch rational kaum kontrollierbare Neigung zum Phantastischen, die außergewöhnliche Fähigkeit von Menschen, sich in heiligen Geschichten, Legenden und Mythen eine ganz andere Wirklichkeit als die hier und jetzt gegebene vorzustellen. Religiöse Mythen handeln vom Ursprung des Lebens oder Anfang der Welt und führen alles Seiende auf göttliche Schöpfung zurück. Sie stiften Ordnung, indem sie zwischen Himmel und Erde unterscheiden, und begründen etwa in Erzählungen von Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies den Unterschied von gut und böse. Zugleich begründen religiöse Mythen starke Ordnungen der Zeit, etwa durch die Grundunterscheidung von Zeit und Ewigkeit. Heilige Tage oder Stunden der Gottesverehrung, der Sabbat oder Sonntag, und religiöse Festtage erlauben eine heilsame Unterbrechung des Alltags. In religiösen Weltbildern wird mit Blick auf den einen Gott, das Subjekt unüberbietbar letzter Allgemeinheit, oder auch viele Götter alle Unbestimmtheit in Bestimmtheit überführt, ein krisenresistent stabiler Ordnungsrahmen für den Einzelnen und das Zusammenleben der Vielen definiert und dem Frommen eine alle Negativitätserfahrungen des endlichen Lebens integrierende tragende Gewißheit zu erschließen versucht. Religion erlaubt es, sich auch dem ganz Negativen, dem Tod, zu stellen, ohne in Mutlosigkeit, Depression und Angst zu versinken. Darin liegt im gelingenden Fall ihre spezifische Leistungskraft.

Religiöse Symbolsprachen sind außerordentlich interpretationsoffen, ähnlich wie ästhetische Sprachen. Wer hier nach Eindeutigkeit oder gleichsam geometrischer Klarheit sucht, geht in die Irre. Zentrale Vorstellungen religiösen Bewußtseins wie etwa Gott, das Absolute, der weltenschaffende Geist und die Schöpfung lassen sich höchst unterschiedlich auslegen und vergegenwärtigen. Analog gilt dies für Vorstellungen von Heil, Erlösung, Rechtfertigung, Gnade und Errettung einerseits, Verderben, Verdammnis, letztem Gericht und Höllenqual andererseits. Nicht nur lassen sich zwischen unterschiedlichen religiösen Deutungskulturen, also etwa zwischen Judentum, Christentum und Islam, höchst gegensätzliche Auslegungen solcher Vorstellungen beobachten. Vielmehr wird auch innerhalb der diversen religiösen Überlieferungen fortwährend über die Auslegung der jeweiligen heiligen Texte, Symbole und Grundvorstellungen gestritten. Die Vorstellung, es gebe so etwas wie «das Judentum», «das Christentum», «den Islam», «den Buddhismus» oder «den Hinduismus», ist naiv. «Das Judentum» gibt es nur in Gestalt ganz unterschiedlicher Judentümer, die ein breites Spektrum höchst divergenter Glaubensüberzeugungen, Frömmigkeitsweisen und religiös geprägter Lebensentwürfe umfassen. Analog ist «das Christentum» nur ein abstrakter, blasser Oberbegriff für eine in sich äußerst spannungsreiche, von vielfältigen Konflikten geprägte Pluralität ganz unterschiedlicher Christentümer, die in je eigenen Konfessionskirchen, kleineren Gesinnungsgemeinschaften, Zirkeln von mystisch Erleuchteten oder abertausenden Formen hoch individualisierter Frömmigkeit Gestalt gewinnen. Zudem sind auch die großen christlichen Konfessionskirchen und Konfessionsfamilien in sich noch einmal vielfältig differenziert und individualisiert. Gewiß, man kann die römisch-katholische Kirche dank ihrer transnationalen zentralistischen Organisationsstrukturen und mit Blick auf den seit dem frühen 19. Jahrhundert fortwährend verschärften Primat und Führungsanspruch des Papstes (mit seiner römischen Kurie) als eine «Weltkirche» bezeichnen. Aber die vielen nationalen Katholizismen sind jeweils in sich plurale religiöse Organisationen. Man kann dies gut am Beispiel des Katholizismus in der Bundesrepublik sehen. Trotz einer Personalpolitik, die in den Pontifikaten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. gezielt auf die Förderung eines neukonservativen, dezidiert antiliberalen Klerus zielte, und trotz der gerade vom deutschen Papst gern beschworenen Klarheit und dogmatischen Eindeutigkeit des genuin Römisch-Katholischen ist der deutsche Katholizismus auf allen Ebenen seiner hierarchischen Selbstorganisation, von der Deutschen Bischofskonferenz bis hin zu den Kirchengemeinden und Pfarrverbünden, durch hohe religiöse Vielfalt mit nicht selten auch aggressiv ausgetragenen kirchenpolitischen Internkonflikten bestimmt. Zudem halten die sogenannten Laien zu einem erheblichen Teil die vom Lehramt für verbindlich erklärten Moralvorstellungen ihrer Kirche für falsch und leben nach ganz anderen, selbst definierten normativen Prinzipien. Analoges gilt für «den Islam», der nicht nur durch den fundamentalen und konfliktreichen Gegensatz von Schiiten und Sunniten, sondern auch durch eine bunte, in sich äußerst spannungsreiche Vielfalt von Sonderströmungen, Frömmigkeitsbewegungen und vergleichsweise jungen, erst im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert entstandenen Reformgruppen geprägt ist. Die religionsklassifikatorischen Begriffe «Schiiten» und «Sunniten» sind abstrakt und differenzierungsblind.

Zwar lassen sich religiöse Symbolsprachen mit Blick auf ihre ordnungsstiftenden Leistungen auch als Lebensentwürfe lesen, die in aller Regel die Lebensführung der Frommen mehr oder minder stark prägen. Der gläubige Mensch soll dem Willen Gottes, wie er, im Falle von Judentümern und Christentümern, etwa in den Zehn Geboten der Sinaioffenbarung erklärt ist, folgen. Aber dies bedeutet nicht, daß es in den verschiedenen Religionen und Konfessionen mit Blick auf religiöse Ethik große Einstimmigkeit oder gar Homogenität gibt. Auch hier läßt sich extrem starke, konfliktreiche Vielfalt beobachten. Zwar werden in den heiligen Texten der Schriftreligionen Grundunterscheidungen von Heil und Verderben, gut und böse, Tugend und Sünde eingeschärft. Aber dies bedeutet nicht, daß all jene Akteure, die sich mit Blick auf dieselben heiligen Texte definieren, dieselben Vorstellungen guten Handelns vertreten. Auch Gottesferne, Sünde und Verderben sind Glaubensvorstellungen, die sehr unterschiedlich gedeutet werden können. Selbst die verschiedenen christlichen Konfessionskirchen, die sich alle auf das Alte Testament und das Neue Testament beziehen, haben ganz unterschiedliche Ethiken entwickelt. Dies gilt nicht nur mit Blick auf die orthodoxen Christentümer, den Katholizismus und die diversen Protestantismen. Vielmehr lassen sich auch innerhalb der einzelnen Konfessionsfamilien in Sachen Ethik noch einmal tiefgreifende Unterschiede und diverse Sonderwege beobachten. Das dafür bekannteste Beispiel sind die schon im deutschen Vormärz von protestantischen Theologen intensiv diskutierten fundamentalen ethischen Differenzen zwischen Calvinismus und Luthertum. Sie treten, wie Karl Bernhard Hundeshagen und Matthias Schneckenburger damals zeigten, vor allem in der politischen Ethik zutage.

Die hohe Interpretationsoffenheit religiöser Symbolsprachen betrifft gerade auch das spannungsreiche Themenfeld von Politik und Religion. Oft wurden Herrschaft und Heil in einen so engen Zusammenhang gebracht, daß «das Politische» sakralisiert und religiös überformt wurde. Die europäische Religionsgeschichte war bekanntlich durch vielfältige Auseinandersetzungen darüber geprägt, ob den Inhabern religiöser Ämter, allen voran dem Papst, nicht eine Prärogative gegenüber den politischen Herrschaftsträgern, etwa dem Kaiser, zukomme. Zwar sind nicht in allen religiösen Überlieferungen eigene Ethiken des Politischen entwickelt worden. Aber für die drei großen monotheistischen Religionsfamilien gilt, daß in ihren heiligen Texten viel von irdischen Dingen und den rechtlichen wie moralischen Regeln des Zusammenlebens der Menschen die Rede ist. Was mit Blick auf religiös codierte Ethiken insgesamt gilt, trifft insbesondere für die in vielen religiösen Traditionen sich findenden Vorstellungen von guter Herrschaft und wohlgeordneten weltlichen Institutionen zu. Selbst die europäischen Christentümer haben unterschiedliche «Soziallehren», speziell Ethiken des Politischen und Vorstellungen guten Lebens in der Gemeinschaft, entwickelt.[1]

In der hohen Interpretationsoffenheit religiöser Symbolsprachen liegt die spezifische Faszinationskraft, aber auch die notorische Ambivalenz allen Glaubensbewußtseins. Religiöse Symbolsprachen sind eine Art mentaler Software, die sowohl Gutes und Wunderbares als auch Furchtbares, Grausames und Böses bewirken kann. In religiösen Mythen wird von hilfreichen Engeln und vorbildlichen Heiligen erzählt. In heiligen Schriften finden sich Geschichten von wundersamer Heilung und Errettung aus höchster Not. Religiöse Mythen handeln aber auch von Teufelswesen, Dämonen, Tieren aus dem Abgrund und zerstörerischen Mächten. Mit Blick auf Gott oder in Ehrfurcht vor dem Schöpfer kann religiöses Bewußtsein der Selbstbegrenzung des Menschen dienen und Wahrnehmungssensibilität, Aufmerksamkeit für die Fragilität endlichen Lebens und die Verletzlichkeit des Individuums stärken. Indem religiöser Glaube solche Demut fördert, vermag er Empathie mit den Schwächeren, Leidenden, Armen und sonstwie Marginalisierten zu fördern und den Mut zu erzeugen, sich mit traurig stimmenden Gesellschaftszuständen nicht zufriedenzugeben. Religiöse Bildsprachen haben immer auch dem sozialen Protest gegen ungerechte Verhältnisse und tyrannische Herrschaft gedient. Sie haben hier zugleich eine oft kontrafaktische Hoffnung auf Emanzipation, Freiheit und besseres Leben gestärkt. Denn der Transzendenzbezug religiösen Bewußtseins, wie er am überweltlich vorgestellten Gott (oder an vielen innerhalb und außerhalb des Kosmos agierenden Göttern) und in der starken Unterscheidung von Diesseits und Jenseits sich ausdrückt, läßt sich immer auch als eschatologischer oder utopischer Überschuß über den Status quo konkretisieren. Religion kann atomistisch vereinzelte Solipsisten und harte Egozentriker in Mitmenschen verwandeln, die in frommer Vergemeinschaftung, etwa in Riten der Überwindung von Entfremdung, einander als Brüder und Schwestern verstehen und begegnen wollen. In ihren Symbolen kann sie jenseits der üblichen sozialen Grenzlinien von Stand, Klasse, Geschlecht und Nation Nächstenliebe stärken und Solidarität stiften. Sie kann resignativ Verstummten wieder eine Stimme geben, Verängstigten Mut machen und Trauernden Trost bieten.

Religiöser Glaube kann aber auch ganz anders, genau gegenläufig wirken. Er kann im Haß auf Andersdenkende und Andersgläubige Gestalt gewinnen, Menschenverachtung und Intoleranz stimulieren, äußerst starre, dogmatistisch harte Weltbilder erzeugen und in fromme Arroganz münden. Die Tendenz zum Unbedingten, die emotional stark bindende Orientierung an Gott, die für religiöses Bewußtsein mindestens in monotheistischen Religionssystemen konstitutiv ist, ist ambivalent und bleibend gefährlich. Sosehr Religion den Menschen humanisieren kann, so sehr kann sie ihn auch barbarisieren, und die eine religiöse Bewußtseinsgestalt kann sehr schnell in die andere umschlagen; auch sind die Übergänge fließend. Gewaltbereiter oder gewalttätiger Gottesglaube ist dabei kein Spezifikum einer bestimmten Religion, etwa «des Islam» im Unterschied zum Judentum und Christentum. Narrative von grausamer Gewalt und sakralisiertem, als vor Gott gerechtem oder von ihm gefordertem Töten finden sich in den heiligen Schriften aller drei monotheistischen Weltreligionen – und keineswegs nur, wie manche Christen in der Gegenwart gern behaupten, in der Hebräischen Bibel oder dem Alten Testament, sondern auch in einigen Büchern des Neuen Testaments, insbesondere in der Johannesapokalypse.

Gewaltbereite oder gewalttätige Religiosität findet sich keineswegs nur in monotheistisch geprägten Religionskulturen, sondern auch in multireligiösen polytheistischen Glaubenswelten. Das vor allem von dem Heidelberger Ägyptologen Jan Assmann entwickelte Konzept der «Mosaischen Unterscheidung»,[2] dem zufolge ein besonders enger Zusammenhang zwischen forderndem Eingottglauben und Religionsgewalt bestehe, ist empirisch gesehen falsch. Gewiß, im ersten Gebot heißt es: «Ich bin der Herr Dein Gott, Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.» Jahwe verlangt von seinem Volk, dem erwählten Partner seines Bundes, exklusive und unbedingte Verehrung. Diese mosaische Rhetorik von Allmacht, Unbedingtheit und Bundestreue mag eine starke Identität des auserwählten Volkes im Gegensatz zu den anderen, den fremden Völkern und Heiden mit ihren vielen Göttern gestiftet und immer neu gestärkt haben. Aber Assmanns Vorstellung von einem besonders engen, gar notwendigen Zusammenhang zwischen exklusivem Monotheismus und Religionsgewalt läßt sich weder religionshistorisch noch mit Blick auf die gegenwärtige religiöse Lage begründen. Aus den Religionsgeschichten der Menschheit, die oft Geschichten von grausamer Gewalt, brutaler Zerstörungswut und aggressivem Haß sind, lassen sich viele Beispiele dafür nennen, daß auch polytheistisch orientierte religiöse Akteure mit hoher Gewaltbereitschaft agierten. Gern wird in den aktuellen europäischen und speziell deutschen Islamdebatten darauf hingewiesen, daß die Religion des Propheten einst mit kriegerischer Gewalt verbreitet wurde. Doch dies gilt auch für den Buddhismus, der etwa in Tibet mit äußerst brutaler Zwangsgewalt durchgesetzt wurde. Viele blutige Religionskonflikte werden in multireligiösen Gesellschaften zwischen Akteuren ausgetragen, die gerade keinen monotheistisch grundierten Glauben vertreten. Exemplarisch genannt seien die harten Kämpfe zwischen radikalnationalistischen Hindus und Buddhisten in Teilen Indiens oder die brutalen Angriffe buddhistischer Mönche auf Angehörige der muslimischen Minderheit in Myanmar. Sicher gibt es gotterregte muslimische Fromme, die christliche Kirchen überfallen oder anzünden – etwa im Norden Nigerias oder in Ägypten, wo sich die Kopten seit der Revolution von 2011/2012 einer wachsenden Aggressivität politisch radikaler Islamisten konfrontiert sehen. Auch sind aus einigen afrikanischen Gesellschaften christliche Akteure bekannt, die muslimische Dörfer überfallen, Moscheen zerstören, die Häuser von Muslimen in Schutt und Asche legen. Darf man dies auf die «mosaische Unterscheidung» zurückführen? Zweifel sind geboten. Denn gewaltsame Vertreibung der jeweils anderen, Ermordung von Vertretern der Minderheit und die Zerstörung der heiligen Stätten von Andersgläubigen sind auch aus multireligiösen Gesellschaften mit dominant polytheistischen Religionsstrukturen bekannt. Zudem bietet Assmanns Konzept keine Erklärung für die hohe Gewaltbereitschaft, die seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert neureligiöse Tatapokalyptiker mit ihren Versuchen, endlich das gottgewollte Weltende mit ihrer dann kommenden Errettung zu erzwingen, erkennen lassen. Das dafür wichtigste Beispiel ist Ōmu Shinrikyō, die sogenannte Aum-Sekte, deren Anhänger 1995 einen Giftgasanschlag auf die Tokioer U-Bahn verübten. Mit monotheistischem Unbedingtheitswillen oder der Exklusivitätsfixierung auf den einen Gott läßt sich dies nicht erklären.

2. Der säkulare Staat und seine religionspolitische «Governance»

Ist Religion ambivalent und potentiell gefährlich, hat der für den Rechtsfrieden und die öffentliche Ordnung zuständige Staat ein starkes Interesse daran, religiösen Glauben unter Kontrolle zu halten. In den Sprachspielen der Politikwissenschaftler, die sich in Deutschland seit der disziplinären Autonomisierung des Faches in den frühen 1950er Jahren gern als Demokratiewissenschaftler verstehen, ist neuerdings deshalb von religionspolitischer «Governance» als einer zunehmend wichtigeren Aufgabe des Staates die Rede. When Governance meets Religion. Governancestrukturen und Governanceakteure im Bereich des Religiösen – das ist der Titel einer für diesen Trend repräsentativen kleinen Studie des Staatsrechtslehrers und Verwaltungswissenschaftlers Gunnar Folke Schuppert.[3]

«Governance» ist ein Wortsignal, das anzeigen soll, wie schwierig die unübersichtlichen, weil äußerst komplexen Verhältnisse in modernen funktional differenzierten Gesellschaften geworden sind – man muß sie erst durchschauen, bevor man steuernd eingreifen kann.[4] Es sind in der Geschichte der politischen Theorie schon stärkere, analytisch prägnantere Begriffe für Herrschen, Regieren und Steuerungskraft entfaltet worden. Aber das neue Interesse der deutschen Staatsrechtslehrer und Politologen am Thema «Governance» von Religion läßt erkennen, daß die neue religiöse Vielfalt für den demokratischen Verfassungsstaat zu einem Problem zu werden droht. Denn in aller Regel gilt: Mehr Verschiedenheit bedeutet potentiell mehr Konflikt. Die weiter wachsende Zahl miteinander konkurrierender religiöser Akteure macht es für den parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaat jedenfalls nicht leichter, den schnell entzündlichen Mentalstoff «Gottesglaube» unter bürokratisch-rationaler Kontrolle zu halten. Spannungen und Konflikte zwischen den Repräsentanten der weltlichen, politischen Institutionen und religiösen Akteuren bilden eine feste Konstante in den Religionsgeschichten der Menschheit. Auch wenn der Streit um Religion und Politik in Europa, gerade in Deutschland, derzeit vor allem mit Blick auf den Islam geführt wird, hat er doch eine lange christliche Geschichte. Keine der religionspolitischen Herausforderungen, mit denen sich der demokratische Verfassungsstaat angesichts der erwünschten Integration oder besser: Inklusion muslimischer Bürgerinnen und Bürger derzeit konfrontiert sieht, ist neu.

Daß entschieden Fromme die Geltungskraft positiven, also staatlich gesetzten Rechts bestreiten, sie die Anerkennung des demokratischen Rechtsstaats unter einen Naturrechtsvorbehalt stellen, sie gegen Kantischen «prozeduralen Formalismus» – der von ihnen gern als «Rechtspositivismus» denunziert wird – auf materiale Wertrationalität, «Substanz» und «ethischen Gehalt» setzen und deshalb unter demokratischen Bedingungen für «die ganz gewichtigen, ethisch fundamentalen Entscheidungen» wie über den «Nachrüstungsbeschluß» zur Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, die «Bewahrung der Schöpfung» oder den «Schutz menschlichen Lebens» das Mehrheitsprinzip relativieren, ist nicht nur aus der Christentumsgeschichte generell, sondern speziell auch aus der Zeitgeschichte der Bundesrepublik Deutschland hinreichend bekannt. Will man sich nicht am gefährlichen Geschäft der polarisierungsstarken Dramatisierer und Feindbildproduzenten beteiligen, tut deshalb gelassene Historisierung gut.

Zunächst ist an die alte deutsche Lehre von der obrigkeitlichen «Religionspolizei» zu erinnern.[5] Im 17. und 18. Jahrhundert schrieben Hunderte von zumeist protestantischen Staatsrechtslehrern an den Universitäten des Alten Reiches Lehrbücher über die Aufgabe des Staates, für eine gute «Polizei», also für öffentlichen Frieden, Rechtssicherheit, wirtschaftlichen Wohlstand und «Glückseligkeit» der Bürger zu sorgen. Sie konnten sich dabei auf die interdisziplinäre Kooperation mit prominenten protestantischen Aufklärungstheologen und hier insbesondere den Vertretern der «Neologie» bzw. «neuen Lehrart» stützen. Diese bestritten der politischen Obrigkeit das Recht, in das Innerliche der Religion einzugreifen, und betonten mit Nachdruck die vom Staat zu respektierende Glaubens- und Gewissensfreiheit eines jeden Staatsbürgers. Theologen und Juristen stimmten in den Zweckbestimmungen, die sie dem Staat gaben, weithin überein: Der Staat habe «Ruhe und Sicherheit», «Ruhe und Wohlfahrt», «Sicherheit und Bequemlichkeit» und mehr noch «allgemeine Glückseligkeit» zu garantieren und zu fördern.[6] Dazu müsse er neben einer generellen «Sicherheits- und Wohlfahrtspolizei» auch eine je spezifische «Feuer-, Wasser-, Straßen-, Lebensmittel-, Gesundheits- u.s.w. Polizei» einrichten[7] – und nicht zuletzt eine eigene «Religionspolizei», die die mögliche Bedrohung des öffentlichen Friedens und des gemeinen Wohls aller durch fanatisierte, gemeingefährliche Religion abwehren soll. Für die klassischen «Polizeilehren» des spätabsolutistischen Staates ist also die Vorstellung leitend, daß es zu den genuinen Aufgaben des Staates gehöre, den Gottesglauben zu beobachten und zu kontrollieren sowie gegen gefährlich werdende Religion einzuschreiten. Die Polizeiwissenschaftler des 18. und frühen 19. Jahrhunderts betonen aber auch den möglichen gesellschaftlichen Nutzen und das politisch Zweckdienliche von Religion. So erklärte der Göttinger Polizeidirektor Johann Heinrich Gottlieb von Justi in der 1782 erschienenen dritten Auflage seiner Grundsätze der Policeywissenschaft zu Beginn des sechzehnten Hauptstücks «Von der Aufsicht auf die Religion und das Kirchen-Wesen» zum «sittlichen Zustande der Unterthanen»: «Hier verdient nun die Religion zuerst in Betracht gezogen zu werden. Die Mitglieder eines gemeinen Wesens werden dadurch ungleich geschickter gemacht, ihre bürgerlichen Pflichten desto besser zu erfüllen; und ein Staat kann schwerlich alle Glückseligkeit erreichen, deren er fähig ist, wenn nicht ein äusserlicher Gottesdienst darinnen eingeführet ist. Je mehr dieser Gottesdienst mit der Natur und dem Wesen der Menschen und dem Endzwecke der Republiken übereinstimmet, desto vorzüglicher wird er seyn, und desto fähiger wird er die Bürger des Staates machen, an der gemeinschaftlichen Wohlfahrt zu arbeiten.»[8] Der Staat habe um der Sicherung der öffentlichen Ordnung und der Erreichung seiner Glückseligkeitsziele willen ein starkes Eigeninteresse daran, daß seine Bürger fromm und tugendsam seien. «Die Religionspolicey ist berechtigt und verpflichtet, darauf zu sehen, daß religiöse Verbindungen vorzüglich dazu benutzt werden, den Mitgliedern derselben Ehrfurcht gegen die Gottheit, Gehorsam gegen die Gesetze, Treue gegen den Staat und sittlichgute Gesinnungen gegen ihre Mitbürger einzuflößen, zu diesem Ende Religionsgrundsätze, welche von Staatsbürgern angenommen und befolgt werden, zu prüfen, und deren mündliche und schriftliche Verbreitung entweder zu verstatten oder zu untersagen.»[9] Analog betonte der in Wien lehrende ordentliche öffentliche Professor Joseph von Sonnenfels in seinen Grundsätze(n) der Polizey-, Handlung- und Finanzwissenschaft zur Religion: «Der Regent muß also diesen Leitriemen in seinen Händen nicht vernachlässigen und seine Sorgfalt muß darauf gerichtet sein, daß jeder Bürger Religion habe.»[10] Der bekannte Merkantilist Johann Friedrich von Pfeiffer, seit 1784 Professor für Kameralistik an der Universität Mainz, erkannte im ersten Teil seiner Natürlichen aus dem Endzweck der Gesellschaft entstehenden allgemeinen Policeiwissenschaft der Obrigkeit eine weitgehende religionspolizeiliche Regelungskompetenz zu. Denn es sei «endlich nicht zu läugnen, daß die Religion zur Vollkommenheit der bürgerlichen Verfassung viel beitragen» könne, der Staat hier also ein konstruktives Interesse an der Förderung von Religion habe. Doch noch im selben Satz fügte er warnend hinzu: «allein, auch einen höchst nachteiligen Einfluß in das gemeinschaftliche Beste haben kann».[11] «Fanatischer Religionseifer» habe «ganze Nationen zum Mißvergnügen gegen die Regierung» aufgewiegelt, «den Zunder zu den heftigsten Gärungen» gelegt und «den besten Verfügungen der Regenten einen bösen Anstrich» gegeben.

Der Hannoveraner Kanzleirat und Ministerialkonsulent Günther Heinrich von Berg zitiert in seinem 1799 bis 1809 erschienenen Handbuch des Teutschen Policeyrechts zustimmend den bekannten lutherischen Kirchen- und Dogmenhistoriker Heinrich Philipp Konrad Henke, der in einer führenden juristischen Zeitschrift die «Religionspolicey» des Staates zugunsten des bonum commune auf die Formel gebracht hatte, daß es «ein doppeltes Recht des Staats in Absicht der Religion» gebe: «ein negatives, Schaden zu verhüten, der aus Religion entstehen mag; ein positives, allen Vorteil sich anzueignen, der aus ihr sich ziehen läßt».[12] Den Zweck der Religionspolizei definiert von Berg deshalb als Gefahrenabwehr: «Die Religionspolicey hat den Zweck, die Nachtheile und Gefahren, die aus Religionsmeynungen und Religionsgesellschaften, so wie aus Unglauben und Irreligiosität für den Staat entstehen können, zu verhüten und abzuwenden.»[13] So soll der Staat die Geistlichen überwachen und die «Disziplin der Klerisei»[14] sicherstellen, für «Ruhe und Stille» in den Kirchen sorgen, gefährliche religiöse Gesinnungen wie «Fanatismus», «Intoleranz» und «Religionshass» bekämpfen und überhaupt dafür Sorge tragen, daß gelebte Religion dem Gemeinwesen dient.

Oft äußerten die Polizeiwissenschaftler die Sorge, daß religiöse Vielfalt Konflikte provozieren und die innere Einheit des Gemeinwesens bedrohen könne: «da die Menschen für nichts so stark eingenommen sind, als für Dinge, von welchen sie glauben, daß darauf ihre ewige Glückseligkeit beruhet; so kann die Verschiedenheit der Glaubens-Meinungen zu grossen Unruhen in dem Staate ausschlagen und dessen gänzliche Zerrüttung nach sich ziehen.»[15] «Man verstehet unter dem Zwiespalte der Religion die öffentliche Ausübung eines gegenseitigen Gottesdienstes, der solchergestalt ausgebreitet wird, daß dadurch zwey entgegen gesetzte Partheyen unter dem Volke erwachsen. Der Haß und die Verbitterung, die dadurch unter den Unterthanen entstehen, haben in vielen Staaten schon so unglückliche Folgen gehabt, daß man einen solchen Zustand der Religion auf alle Art vermeiden muß.»[16]

Die mit umfassender Religionspolizei verbundene Hoffnung, sich zugunsten des Staates «allen Vorteil» der Religion aneignen zu können, bezeichnet eine religionspolitische Leitlinie, die deutsche Debatten über Religion, Staat und Politik bis in die unmittelbare Gegenwart hinein prägt. Jedenfalls lassen sich erstaunliche ideenpolitische und begriffliche Kontinuitäten von der Religionspolizei des 18. Jahrhunderts bis in die heutigen Debatten über «Governance» von Religion und Religionsgemeinschaften beobachten. Exemplarisch genannt sei nur Ernst-Wolfgang Böckenfördes bekannte These, daß vor allem die Religionsgemeinschaften jene sozialmoralischen Ressourcen pflegten und erzeugten, ohne die der freiheitliche Rechtsstaat auf Dauer nicht bestehen könne – etwa Bürgertugend, Gemeinsinn, moralische Sensibilität für Deformationen der Institutionen und Pathologien der politischen Kommunikation. In dieser Sicht des Verhältnisses von Staat und Religion steckt noch ein letzter Rest der von Hegel im berühmten Paragraphen 270 seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts entfalteten These, daß Religion das den Staat «für das Tiefste der Gesinnung integrierende Moment» sei; der Berliner Meisterdenker hatte deshalb dem Staat das Recht zuerkannt, von allen Staatsbürgern die aktive Teilnahme an «einer Kirchengemeinde» zu fordern – und zwar an «irgendeiner, denn auf den Inhalt» des Glaubens, «insofern er sich auf das Innere der Vorstellung bezieht, kann sich der Staat nicht einlassen».[17]

Ein anderes Beispiel für die longue durée der alten Religionspolizei ist die Religionspolitik, die die Bundesregierung in den Jahren der Großen Koalition mit Blick auf die neuen muslimischen Minderheiten im Lande begann: Der deutsche Staat setzt hier auf eine Art Tauschhandel. Die Muslime sollten sich mit ihren Moscheevereinen und Dachverbänden irgendwie kirchenanalog organisieren, dann könnten sie rechtliche Privilegien, insbesondere den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, und wie die Kirchen, Synagogengemeinden und andere anerkannte Religionsgemeinschaften Staatsleistungen erhalten. Dafür sollen die Muslime mit der Zusicherung bürgerlicher Loyalität zum Staat des Grundgesetzes danken. Hier wird, ganz in den Traditionen der Religionspolizei, stark etatistisch, in tendenziell autoritären Mustern einer Integration pluralistischer religiöser Lebenswelten von oben gedacht.

Man muß keiner Politisierung des Religiösen das Wort reden, um die Vorstellung, Religion und Politik ließen sich schiedlich-friedlich scheiden, für eine Illusion zu erklären. Religiöses und politisches Feld haben sich nicht nur in der Vergangenheit in zahlreichen Gesellschaften vielfältig und intensiv durchdrungen, sondern tun dies auch in der europäischen Moderne in neuer Intensität. Schon in den heftigen politischen Ideenkämpfen um die Legitimität der «Ideen von 1789» ist auf allen Seiten religiöse Symbolsprache politisiert worden. In die neuere politische Geschichte der europäischen Nationalstaaten gehören vielfältige Formen der Verschmelzung von politischen Ordnungskonzepten und religiösen Ideen. Schon die modernen Nationsideen sind, wie insbesondere Adrian Hastings, Dieter Langewiesche und Martin Schulze-Wessel gezeigt haben,[18] zumeist religiös legitimiert worden, weil der in aller Regel im Krieg entstehende Nationalstaat eine unbedingte Hingabebereitschaft des Individuums, die Bereitschaft, das eigene Leben für die Nation zu opfern, braucht – deshalb viel Sakraltransfer von der communio sanctorum auf die idealisierte Gemeinschaft der Volksgenossen. Auch haben sich zahlreiche moderne Emanzipations- und Freiheitsbewegungen altehrwürdige religiöse Ressourcen zu eigen gemacht – genannt seien nur die Reichsgottessemantik in den diversen Frühsozialismen im deutschen Vormärz oder die Rhetorik der unverfügbaren Schöpfungsordnungen bei katholischen Restaurationstheoretikern oder konservativen Kulturlutheranern. Zur Politikgeschichte der Moderne gehören protestantische Pfarrer, die, wie beispielsweise Friedrich Naumann, eine Partei gründen, und römisch-katholische Kleriker, die als Wertemanager ihres katholischen Sozialmilieus auch dessen Partei, das Zentrum, führen wollen. Die politische Geschichte Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war entscheidend durch Parteien geprägt, die sich in programmatischer Absicht religiös, als «christlich-demokratische Parteien» legitimierten, und durch eine Selbstkritik einer einst entschieden säkularistischen bzw. antiklerikalen politischen Linken, die nun, wie etwa die deutschen Sozialdemokraten im Godesberger Programm von 1958, auch auf religiöse, genauer: christliche Wurzeln ihres «demokratischen Sozialismus» verwies. Kaum eine relevante politische Debatte in Deutschland bleibt ohne die Interventionen führender Kleriker, die ein «Wächteramt» gegenüber Staat und Gesellschaft in Anspruch nehmen und sich, wie sie dies gern nennen, fortwährend ins Politische «einmischen» – von der Sozialpolitik und hier speziell Familienpolitik bis hin zur Biopolitik oder zur Frage, ob denn die Bundeswehr auch bewaffnete Aufklärungsdrohnen kaufen und gegebenenfalls einsetzen soll.

So wird kirchliche Religion stark politisiert, und umgekehrt suchen politische Akteure ihre parteipolitischen Positionen nicht selten mit religiöser Symbolsprache zu legitimieren. Selbst Glaubensferne und Kirchendistanzierte reden von der «Bewahrung der Schöpfung», wenn es doch nur um Mülltrennung geht. Religionssemantik kann Herrschaft ebenso wie Herrschaftskritik legitimieren. Man mag um allgemeiner Bürgerfreiheit willen Staat und Religionsgemeinschaften voneinander trennen, und es ist nur gut, die religiös-weltanschauliche Neutralität des freiheitlichen Rechtsstaates ernster zu nehmen, als dies im deutschen Diskurs bisweilen der Fall ist. Der Staat des Grundgesetzes ist kein christlicher Wertestaat, und eine offene, pluralistische Gesellschaft der vielen Verschiedenen braucht zwar Bürgertugend und Anerkennung der Verfassung, aber keinerlei «Leitkultur», erst recht keine kulturreligiös definierte. Aber dies ist nicht gleichbedeutend mit der Trennung von Religion und Politik. Staat und Kirchen oder Religionsgemeinschaften lassen sich institutionell trennen, nicht aber das Religiöse und das Politische. Denn «reine Religion», so hat Ernst Troeltsch das Problem bezeichnet, gebe es nur für einige wenige ganz tief empfindende Fromme. «Das ‹Rein-Religiöse› existiert nur für den Theoretiker und für wenige innerlich tief empfindende Seelen.»[19] Der Regelfall aber sei, daß das Religiöse immer schon mit höchst heterogenen weltlichen Interessen verknüpft und vermischt sei. «Auf dem Markt des Lebens gibt es kein Interesse, das nicht durch Verkoppelung mit der Religion geschützt und gestärkt würde, und wenig Religionshaß, der nicht in der Religion eigentlich andre, von ihr wirklich oder angeblich geschützte Dinge haßte.»[20]

3. Die institutionelle Vielfalt der liberalen Entkoppelungsmodelle

Aufklärungsbewußte Bürgerinnen und Bürger westlich liberaler, pluralistisch offener Gesellschaften sehen in der religiös-weltanschaulichen Neutralität oder Säkularität des modernen Verfassungsstaates eine große freiheitsdienliche Errungenschaft. Eine Begriffsgeschichte zur Formel «religiös-weltanschauliche Neutralität des modernen Verfassungsstaates» fehlt allerdings ebenso wie eine Klärung der Frage, wer wann mit welchem Interesse die wohl jüngere Formel von der «ethischen Neutralität»[21] des Staates in Umlauf gebracht hat. Gewiß haben die programmatischen verfassungshistorischen Aufsätze Böckenfördes, allen voran der 1967 veröffentlichte Aufsatz Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation[22] bei der Durchsetzung der Rede von der «religiös-weltanschaulichen Neutralität» des modernen Verfassungsstaates eine wichtige Rolle gespielt. Die dezidierte Rede von der «ethischen Neutralität» begegnet bisher deutlich seltener. Hier wie dort geht es um eine programmatische Absage an jene Traditionen politischen, speziell staats- und verfassungsrechtlichen Denkens, die über prozedurale Integration durch Recht hinaus das Gemeinwesen «tiefer», in irgendwelchen Kulturwerten oder einer (dann zumeist christlich definierten) Sittensubstanz verankert sehen wollten. Zudem lassen sich beide Formeln als elementare Distanznahme zu allen Versuchen deuten, «politische Gemeinschaft» durch deren Remythisierung in irgendeiner «Politischen Theologie» aus prärationaler Offenbarung zu begründen. Neutralität bedeutet: Der Staat ist zur strikten «Nichtidentifikation» mit einer bestimmten Weltanschauung oder Religion verpflichtet.[23] Er «darf Freiheitseinschränkungen für alle nicht allein deswegen statuieren, weil sie den Anschauungen und Glaubenssätzen einer bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Gruppe entsprechen. Das für alle geltende Gesetz muß von einer Begründung getragen bzw. in einer Weise begründbar sein, daß es allgemein akzeptiert werden kann, ohne die weltanschaulichen oder religiösen Prämissen einer partikularen Gruppe teilen zu müssen.»[24]

Die Weltlichkeit oder Neutralität des freiheitlichen Staates kann institutionell im einzelnen sehr unterschiedlich gestaltet werden. Das zeigt Europa im Vergleich mit den USA, aber auch die hohe Vielfalt der religionsrechtlichen Verhältnisse innerhalb der Europäischen Union. In nichts unterscheiden sich die Rechtsordnungen der EU-Mitgliedsstaaten so sehr wie im Staatskirchenrecht oder besser: Religionsverfassungsrecht. Irgendeinen europäischen Normalfall gibt es nicht, sondern nur sehr viele Sonderwege, in denen sich ganz unterschiedliche Antworten auf die konfessionelle Pluralisierung des lateinischen Christentums im 16. Jahrhundert und die damit verbundenen frühneuzeitlichen Religions- bzw. konfessionellen Bürgerkriege spiegeln.

Man findet in der Europäischen Union strikten Laizismus, also eine Trennung von Staat und Religion, die auf die entschiedene Zurückdrängung religiöser Akteure aus dem öffentlichen Raum und die gewollte Privatisierung des Religiösen hinausläuft – das ist das französische Modell. Es hat gerade unter den Bedingungen des neuen religiösen Pluralismus eine fatale Folgewirkung entfaltet: Fromme Menschen, die sich in staatlichen Institutionen wie öffentlichen Schulen durch sichtbare Zeichen, etwa Kopftücher, zu ihrem Glauben bekennen wollen, erfahren den angeblich religiös neutralen Staat primär als eine religionsfeindliche Unterdrückungsagentur. So erzeugt der laizistische Staat, der im Wissen um die mögliche Sprengkraft starken religiösen Glaubens und zur Vermeidung von Religionskonflikten Glaubensakteure aus der Öffentlichkeit in die Privatsphäre abdrängen wollte, paradox genug nur vielfältige neue öffentliche Religionskonflikte. Zudem stärkt er gegen seine Intention religiösen Glauben: Eine wachsende Zahl von jungen muslimischen Mädchen in Frankreich besucht inzwischen katholische Privatschulen – wo sie ihr Kopftuch tragen dürfen.

Dem laizistischen Staat Frankreichs stehen in der Europäischen Union Mitgliedsstaaten gegenüber, die an klassisch staatskirchlichen Modellen einer engen Verbindung von Staat und überkommener christlicher Volkskirche festhalten – allen voran sind hier Griechenland, Dänemark und Malta zu nennen. Blicken wir genauer nach Dänemark. Zwar hatten die dänischen Sozialdemokraten, die 1924 zur stärksten Partei wurden, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine entschiedene Trennung von lutherischer Volkskirche und Staat gefordert, dies aber schon in den 1930er Jahren nicht mehr öffentlich vertreten. Beim Ausbau des dänischen Wohlfahrtsstaates wurde die Volkskirche zu einer vielfältig anerkannten «festen gesellschaftlichen Institution, auf die nicht verzichtet werden konnte. Ihr heutiger Zustand scheint stabil zu sein, keine der großen polit. Parteien will eine völlige Trennung von Kirche und Staat.»[25] Von den 5,6 Millionen Dänen gehörten am 1. Januar 2013 79,1 Prozent der «Folkekirken» an, und 80 Prozent aller Dänen lassen ihre Kinder lutherisch taufen. Katholiken, nicht-lutherische Protestanten und Juden bilden kleine Minderheiten: Nur 35.000 Dänen sind Katholiken, die Hälfte von ihnen Einwanderer aus Polen, Vietnam, den Philippinen und anderen Ländern. Die dänische Baptistengemeinschaft hat nur 5800 Mitglieder, und die jüdische Gemeinde nur 2500 – obwohl im Lande ca. 7000 Juden leben. Derzeit gibt es in Dänemark ca. 165.000 Muslime – das sind knapp 3 Prozent der Bevölkerung. Eine institutionelle Trennung von Staat und «Folkekirken» oder eigene kirchliche Selbstverwaltungsorgane existieren nicht. Für die innere Ordnung der Kirche ist das staatliche Parlament zuständig, und zu ihrer Administration besteht ein eigenes Kirchenministerium. Oberhaupt der Kirche ist der Monarch bzw. derzeit die Königin. Die lutherische Volkskirche ist die einzige Religionsgemeinschaft, die vom Staat unterstützt wird, und ihre Pfarrer sind Staatsbeamte. So gilt: «Das dänische Grundgesetz (1849) gewährt Religionsfreiheit, aber nicht Religionsgleichheit. Die Tatsache, daß die Volkskirche durch ihren Sonderstatus das amtliche Melderegister verwaltet und das dänische Beerdigungswesen betreibt, hat zu einer Debatte über die Wünsche der Muslime nach staatlicher Anerkennung der isl. Gemeinden und eigenen Friedhöfen geführt.»[26] Auch wenn dänische Verfassungsrechtler und Theologen mit Blick auf die «Folkekirken» nicht gern von «Staatskirche» reden, ist das dänische Modell de facto doch ein klassisch staatskirchliches.

Wieder ganz anders und historisch individuell sind die religionsrechtlichen Verhältnisse in Großbritannien. Hier ist zunächst zwischen Schottland, England und Wales zu differenzieren. Schottland besitzt eine Staatskirche, «the Kirk», in reformierter Tradition, die aber, auch weil der Staat sehr schwach ist, seit dem Church of Scotland Act von 1921 «keiner bürgerlichen Gewalt untertan … in allen Angelegenheiten von Lehre, Gottesdienst, Leitung und Disziplin in der Kirche» völlig autonom entscheidet. Sehr lange waren Juden und Katholiken